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Flaggschiff-Initiative: Schutzengel 2.0

Eine neue Generation intelligenter Geräte soll Menschen vor Gefahren warnen. Aber noch stehen die Ingenieure vor großen technischen Hürden - etwa bei der Energieversorgung. Fortschritte in der Elektronik machen jedoch persönliche "Guardian Angels" bald greifbar.
Elektronik
"Schlau" sollen die Geräte sein, die Adrian Ionescu in den kommenden zehn Jahren entwickeln will. "Autonom" sollen sie sein und "energieautark". Um "persönliche Assistenten" soll es sich handeln, um "Sensoren", die sowohl im Altenheim als auch auf hoher See eingesetzt werden können. Adrian Ionescu, Halbleiterphysiker an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Lausanne, hat Großes vor. Und genau deshalb hat er ein kleines Problem: Sein überaus ambitioniertes Forschungsprojekt, das er zusammen mit Wissenschaftlern aus ganz Europa umsetzen will, ist kaum in Worte zu fassen. "Eigentlich ist es sogar zu komplex, um es mit einem Satz zu beschreiben", räumt Ionescu ein.

Komplexität ist allerdings gar nicht gut. Nicht in einer Zeit, in der Forscher daran gemessen werden, wie einfach sie ihre Arbeit vermitteln können. Und schon gar nicht bei einem Projekt, das Geld von der Politik haben will: Eine Milliarde Euro hätte Adrian Ionescu gerne von der EU-Kommission. Der Betrag ist einer der beiden Hauptpreise der so genannten Flaggschiffinitiative, die zehn Jahre lang viel versprechende Projekte in Europa fördern will. Sechs Gruppen konkurrieren um den Forschungsjackpot, Ionescus Initiative ist eine davon.

Elektronik | Der "Schutzengel" für Jedermann erfordert riesige Fortschritte in der Elektronik, die mit Graphen und Nanotechnologie erreicht werden können.
Der gebürtige Rumäne ist sich der Herausforderung durchaus bewusst. Er hat sein Flaggschiffprojekt daher auch nicht "Schlaue autonome energieautarke persönliche Assistenten und Sensoren" genannt, sondern "Guardian Angels" – auf Deutsch: Schutzengel. Das klingt kurz, prägnant, griffig und dürfte auch der Politik gefallen, die letztlich über den Milliarden-Jackpot entscheiden muss.

Sensoren leiten Allergiker

Geht es nach Flaggschiffinitiatoren, sollen die digitalen Schutzengel den Menschen künftig überallhin begleiten. Drei Entwicklungsstufen haben die Forscher dabei geplant: Die erste Generation der Schutzengel soll vor allem die Köperfunktionen der Menschen überwachen. Eingenäht in einen Pullover oder als unscheinbares Band am Handgelenk beobachten sie Puls und Blutdruck. Kommt es zu auffälligen Veränderungen, benachrichtigen sie automatisch den Hausarzt.
Europaflagge

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Bei Diabetikern messen die Geräte nicht nur den Blutzucker, sie vergleichen die Werte auch mit täglichen Aktivitäten und den Daten eines Elektrokardiogramms. "Solche Ansätze mögen einfach oder naiv klingen, aber sie sind ein wichtiger Schritt hin zu besserer Prävention", sagt Ionescu.

Die zweite Entwicklungsstufe, in sechs oder sieben Jahren geplant, soll auch die Umgebung mit einbeziehen. Dabei tritt verstärkt die Kommunikation zwischen den einzelnen Assistenten in den Vordergrund: Elektromechanische Sensoren messen die Pollenkonzentration in der Luft und leiten Auto fahrende Allergiker so zum Ziel, dass sie möglichst wenig Allergenen ausgesetzt werden. Messfühler auf hoher See informieren sich gegenseitig über den Wellengang und können so drohende Tsunamis schneller erkennen. Und kleine Assistenten im Schulranzen warnen den heranrasenden Autofahrer rechtzeitig davor, dass gleich ein Kind zwischen den geparkten Lastwagen hervorspringen wird.

Der dritte Schritt widmet sich den Menschen und ihren Gedanken: Die Flaggschiffforscher wollen Hirnwellen, Herzfrequenz und die Leitfähigkeit der Haut benutzen, um emotionale Signale zu erkennen – auch solche, denen sich die Menschen gar nicht bewusst sind. Das soll helfen, einen epileptischen Anfall schon im Vorfeld zu erkennen. Es soll gelähmte Menschen in die Lage versetzen, mit der Kraft ihrer Gedanken einen Rollstuhl zu steuern. Sogar hart verhandelnde Geschäftsmänner sollen davon profitieren: Sensoren werten Mimik und Transpiration des Gegenübers aus und erraten damit dessen Absichten. "Unsere Technologie wird dazu da sein, den Menschen von der Kindheit bis ins hohe Alter in komplexen oder gefährlichen Situationen zur Seite zu stehen", sagt Ionescu.

Schwachpunkt Energieversorgung

Die Idee ist nicht unbedingt neu: Der Chiphersteller Intel, einer der 28 Partner im "Guardian Angels"-Konsortium, präsentiert seit Jahren auf seiner Hausmesse Geräte, die den Gesundheitszustand älterer Menschen überwachen. Auf Wunsch werden die Daten direkt von der Wohnung zum Hausarzt übermittelt. Andere Apparate analysieren den menschlichen Gang, erkennen Veränderungen und warnen vor drohenden Stürzen. Noch sind die Beschleunigungssensoren, die die Probanden dazu in ihre Socken stopfen müssen, allerdings klobig. Sie verbrauchen viel Strom und haben eine begrenzte Reichweite.

Datenverarbeitung, Kommunikation und ganz besonders die Energieversorgung sind daher auch die wichtigsten Probleme, die die "Guardian Angels"-Macher lösen müssen: Niemand will ständig die Batterie seines Pullovers wechseln, niemand kann regelmäßig die Stromversorgung eines Wellensensors auf hoher See austauschen. Die schlauen Messfühler müssen sich stattdessen jahrzehntelang selbst mit Strom versorgen – indem sie Sonnenlicht, natürliche Bewegungen oder Wärmeunterschiede anzapfen.

Erste Ideen für diese "Energy Harvester" gibt es bereits, ihre Ausbeute ist allerdings noch gering. So präsentiert Siemens, ebenfalls ein Mitglied des "Guardian-Angels"-Konsortiums, auf seinen Hausmessen Temperatursensoren, die ihre Energie aus den Wärmeunterschieden von überwachten Rohren – etwa zur Gas- oder Wasserversorgung – gewinnen. Ionescus Kollegen in Lausanne arbeiten an Solarzellen, die das Prinzip der Fotosynthese kopieren; selbst bei schwachem Sonnenlicht können sie so noch Strom gewinnen. Und IBM, ein weiterer Partner des "Guardian-Angels"-Projekts, forscht an einer Stromversorgung aus Nanodrähten: Auf großen Flächen aufgebracht, reichen den Winzlingen geringe Temperaturunterschiede, um sehr effizient Energie zu erzeugen.

Anzeige | Möglicherweise funken bald integrierte Sensoren Warnungen an Mediziner, wenn sich der Gesundheitszustand eines Diabetikers oder eines Herzinfarktgefährdeten verschlechtert.
All das, da sind sich die Initiatoren einig, wird allerdings nicht reichen. "Verbrauch und Stromerzeugung liegen heute etwa um den Faktor 100 000 auseinander", sagt Adrian Ionescu. Die Hälfte der Lücke könnte sich durch bessere "Energy Harvester" überwinden lassen, den Rest müssen die Sensoren der Zukunft selbst beitragen – indem sie Strom sparen.

Kombination der Supertechnologien

Auch hier gibt es erste interessante Ansätze. "Das große Problem bei der Entwicklung neuer Computersysteme ist heute die Energieeffizienz", sagt Adrian Ionescu. Schaltkreise, deren Leiterbahnen nur noch wenige millionstel Millimeter dick sind, könnten den Weg dorthin ebnen, sind aber noch weit von der Realität entfernt. Genauso wie die anderen Technologien, die Ionescu in den Raum wirft: Komponenten aus Graphen und Kohlenstoffnanoröhrchen zum Beispiel, die den Strom besonders gut leiten. Oder die Spintronik, die nicht mit Ladungen, sondern mit dem magnetischen Moment der Elektronen rechnet.

Als besonders großer Stromfresser erweist sich ausgerechnet die drahtlose Kommunikation, ohne die die persönlichen Assistenten nicht auskommen werden. Die grundlegenden Gesetze des Elektromagnetismus setzen der Einsparung hierbei Grenzen. Möglicherweise könnten Antennen und ein breiteres Frequenzspektrum helfen, weniger Strom zu verbrauchen.

Die größte Herausforderung liegt für Adrian Ionescu ohnehin darin, all das zusammenzubringen – sowohl technisch als auch organisatorisch. "Wir werden künftig mit Silizium arbeiten, mit Kohlenstoff und vielleicht noch mit ganz anderen Materialien", sagt der Nanophysiker. "Letztlich müssen wir all das in einem kleinen, kompakten Sensor vereinen."

Neue Ansätze zur Integration der verschiedenen Bausteine sind gefragt. Sie werden, so die derzeitigen Prognosen, nicht länger nebeneinander, sondern übereinander auf einem Schaltkreis montiert – geschickt gestapelt und verdrahtet. "Es ist so, als wolle man einen Airbus auf einer einzigen Plattform aufbauen und dabei neue und bewährte Teile bewusst mischen", sagt Adrian Ionescu.

Gewagter Spagat

Grundlagenforschung auf der einen Seite, weit fortgeschrittene Ideen für Geräte und Sensoren auf der anderen – es ist ziemlicher Spagat, den Ionescu und seine Kollegen wagen wollen. Der Physiker räumt daher auch ein: "Wir haben zwar eine gut ausbalancierte Mischung der unterschiedlichen Partner, letztlich wird aber die Koordination im Mittelpunkt des Projekts stehen."

Es gehe darum, die besten existierenden Ansätze in Europa zu finden, Forscher der verschiedenen Fachgebiete zusammenzubringen, die noch fehlenden Bausteine zu ermitteln und letztlich die unterschiedlichen Technologien auf einer kleinen, schlauen, autarken Plattform zu vereinigen. "Materialien und Prozesse werden einen Schwerpunkt unseres Projekts ausmachen", sagt Adrian Ionescu. "Im Grunde wird es aber die Wissenschaft des extrem niedrigen Energieverbrauchs sein, die Entwicklung und Evolution all dieser Systeme vorantreibt."

Auch wenn die Anwendungen offiziell im Vordergrund stehen – und dadurch für die Popularität des Projekts sorgen sollen –, geht es den Physikern eigentlich um etwas anderes: um die Entwicklung einer neuen, sparsamen Elektronik. Nur klingt das nicht ganz so plakativ wie "Guardian Angels".

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