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Schwarzer Tod: Wer erlöse uns von dem Bösen?

In den Städten und Dörfern spritzt das Blut tausender Geißler. Denn nur eins ist so bitter wie der Schwarze Tod selbst: die Erkenntnis, dass die Kirche in der größten Krise versagt hat.
Ankunft der Geißler, Auschnitt aus einem Gemälde von Francisco de Goya, Anfang des 19. Jhds.

Es schien, als habe Luzifer höchstpersönlich die Büchse der Pandora geöffnet. »Anfang Oktober des Jahres der Fleischwerdung des Herrn 1347 flohen zwölf Galeeren vor der göttlichen Vergeltung, die der Herr wegen ihrer Sünden über sie kommen ließ, und kamen in den Hafen von Messina. Sie trugen in ihren Gebeinen eingeschlossen eine furchtbare Krankheit: Wer nur mit ihnen sprach, wurde von tödlichem Leiden gepackt und war dem Tode unrettbar ausgeliefert«.

So beschreibt der Franziskaner Michele da Piazza in der »Historia Sicula« den unaufhaltsamen Zug des Schwarzen Todes, der mit atemberaubender Geschwindigkeit halb Europa überrollte und mit nie da gewesener »grausamer Hartherzigkeit« zuschlug.

Keine andere Krankheit hat sich derart tief in das kollektive Gedächtnis eingegraben wie die Pest, die Mutter aller Seuchen, die Mitte des 14. Jahrhunderts ein Drittel der Gesamtbevölkerung Europas, rund 25 Millionen Menschen, dahinraffte. Das allgegenwärtige Massensterben löste eine tiefe Mentalitätskrise aus, die die Gewissheiten einer ganzen Epoche erschütterte.

Unsichtbarer Feind

Der Tod kam über Land, schlängelte sich zunächst über die Seidenstraße aus China und Indien durch Zentralasien. Dann trugen ihn Händler über das Meer nach Europa. Eine entscheidende Rolle spielten dabei die Mongolen, deren sich vom Schwarzen Meer bis Sibirien erstreckendes Reich schon 1346 von der Pest heimgesucht wurde. Noch im gleichen Jahr belagerten die asiatischen Krieger Caffa, eine genuesische Handelsniederlassung auf der Krim. Gabriele de Mussis, ein junger Notar aus Piacenza, der zum Zeitpunkt der Belagerung in der Stadt weilte, berichtet, wie unter den Kriegern der »Goldenen Horde« eine tödliche Krankheit ausbrach. Angesichts dieser Bedrohung habe sich deren Anführer der infizierten Leichen dadurch entledigt, dass er sie auf Wurfmaschinen binden und in die Festung katapultieren ließ.

Mit dieser frühen Form der biologischen Kriegsführung trugen die Belagerer zu einer Beschleunigung der Ausbreitung der mysteriösen Krankheit bei. Als es nämlich in der Stadt binnen kurzer Zeit zu mehreren Todesfällen kam, setzten die genuesischen Kaufleute in Panik die Segel und nahmen die Seuche mit in ihre Heimat, von wo sie den Kontinent von Süden her in rasantem Tempo aufzurollen begann. Vor allem die Handelsstädte Italiens wurden zu Epizentren der Pandemie.

Dort, wo die Pest an die Tür klopfte, hielt sie reichlich Ernte. In seinem 1350 verfassten Novellenzyklus »Decamerone« berichtet Giovanni Boccaccio (1313-1375), in Florenz hätten junge, gesunde Leute noch am Morgen mit Freunden gespeist, »um am Abend des gleichen Tages in einer andern Welt mit ihren Vorfahren das Nachtmahl zu halten!«. Von insgesamt 130 000 Einwohnern blieben weniger als 30 000 am Leben.

Der Krankheitsverlauf war stets der gleiche: Zwei bis sechs Tage nach der Infektion schwoll eine Lymphknotengruppe stark an – die berühmte Beule –, und ein großer Teil der an der Beulenpest Erkrankten starb an Erschöpfung, inneren Blutungen oder Herzversagen. Wurden die Atmungsorgane befallen, konnte sich der Pestbazillus auch durch Tröpfcheninfektion verbreiten. Hier trat der Tod noch schneller ein.

Zwar gaben die mit Pestbeulen übersäten Leiber dem Grauen ein Gesicht, doch was sie verursachte, darauf konnten sich die verzweifelten Menschen des 14. Jahrhunderts keinen Reim machen. Es sollte noch Jahrhunderte dauern, ehe Alexandre Yersin anno 1895 Flöhe als Überträger des hochinfektiösen Pestbakteriums identifizierte. Durch den Biss der kleinen Plagegeister, die sich zunächst im Fell von Ratten einnisteten und dann im Menschen einen neuen Wirt fanden, gelangte das Bakterium Yersinia pestis in die menschliche Blut- oder Lymphbahn.

Leben im Angesicht des Todes

Boccaccio beschreibt in der Einleitung des »Decamerone« das Wüten der Pest in Florenz und wie man im Angesicht des Todes lebte. Die einen, so der italienische Schriftsteller, isolierten sich, verzichteten auf jeglichen sozialen Kontakt und erlegten sich Enthaltsamkeit auf. Die anderen genossen das Leben in vollen Zügen und feierten, als gäbe es kein Morgen, wie der Geschichtsschreiber Matteo Villani (1285-1363) das »schamlose und zügellose Leben« dieser Genussmenschen beschrieb.

Einen Mittelweg beschritten jene zehn Hauptdarsteller des »Decamerone«, sieben Frauen und drei Männer, die sich auf ein Landgut nahe Florenz zurückzogen, um sich Geschichten, die das menschliche Leben feiern, zu erzählen. Für Robert Harrison ist das »Decamerone« eine Art »Quarantäne-Handbuch« für diejenigen Menschen, die sich in Isolation begeben und sich dort die Zeit mit »Storytelling« vertreiben. »Dieses Erzählen ist die menschliche Immunreaktion auf die Seuche, die die Welt in ein Chaos stürzt«, so der an der Stanford University lehrende Kulturphilosoph. Das Verhalten der Runde sei weder »Flucht oder Vergnügen angesichts der Katastrophe, sondern Lebensklugheit, die zugleich eine Überlebensklugheit ist«. Tatsächlich überlebten alle zehn.

In den Städten und Dörfern, aus denen die Begüterten flohen, versuchte man verzweifelt, der Seuche Einhalt zu gebieten. Um ihre Ausbreitung einzudämmen und Infektionsketten zu durchbrechen, griffen die Behörden zu einer Vielzahl repressiver Maßnahmen. Quarantänebestimmungen wurden erlassen, Ausgangsverbote verhängt und gesellschaftliche Einrichtungen geschlossen. Ganze Städte wurden abgeschottet, Handelswege unterbrochen, Kranke von Gesunden separiert und die Bewegungsfreiheit der Bürger eingeschränkt – ein Maßnahmenbündel, das erst mit Zeitverzug greifen konnte, und das auch nur dann, wenn es strikt eingehalten wurde.

Geißler | Das nachträglich kolorierte Bild ist ein Holzschnitt des Nürnberger Künstlers Michael Wolgemut (1434–1519). Es entstand nach dem Höhepunkt der eigentlichen Geißlerbewegung.

Mit aus heutiger Sicht abstrusen Theorien über den Ursprung der Seuche tappten Mediziner aller Couleur im Dunkeln. Den zahllosen gottesfürchtigen Menschen blieb nur der Glaube als rettender Strohhalm in der Krise. Sie rückten noch enger zusammen, suchten in der Masse Demut und Geborgenheit. Schulter an Schulter verrichteten sie das Gebet, eng gedrängt lauschten sie den Predigten. So wurde der Gottesdienst auch im Spätmittelalter zum Hotspot der Superspreader.

Der Glaube an die Ordnung der Welt zerbricht

Das unaufhaltsame Wüten der mysteriösen Seuche führte mit zunehmender Dauer zu einem »mentalen Ausnahmezustand«, schreibt der Medizinhistoriker Klaus Bergdolt. Es erschütterte den »Ordo« des Hochmittelalters, die von Gott geschaffene, für unverrückbar gehaltene Weltordnung. Chronisten wie Petrarca (1304-1374) beklagten einen allgemeinen Niedergang der Moral und einen Zusammenbruch überkommener Verhaltensnormen und Wertvorstellungen. Michele de Piazza sah gar das Ende der menschlichen Solidargemeinschaft für gekommen: Es »verrohe das Verhalten unter den Menschen«.

Eigensucht, unsolidarisches Verhalten, das Schwinden christlicher Nächstenliebe und Barmherzigkeit sowie die Auflösung gesellschaftlicher Bindungen, kurz gesagt: die Paralyse allgemeinmenschlichen Sozialverhaltens, waren an der Tagesordnung. Statt Mitleid herrschte Gleichgültigkeit. »Man gewöhnte sich an das Sterben«, schreibt Bergdolt.

Und man ging auf soziale Distanz. »Schweigen wollen wir davon«, so Boccaccio, »dass ein Bürger dem anderen aus dem Weg ging und dass sich niemand um seinen Nachbarn kümmerte und dass die Verwandten einander nur zu seltenen Malen oder nie oder nur von Weitem sahen.«

Die Familienstrukturen brachen zusammen. »Manche schlossen ihre todkranken Angehörigen aus Furcht vor Ansteckung in ihren Häusern ein, um sie verhungern zu lassen, andere warfen die kaum erkalteten Leichen auf die Straße«, beklagt Boccaccio. Wo die Pest auftrat, war der Mensch bald im wahrsten Sinn des Wortes verlassen. Die Repräsentanten der öffentlichen Ordnung flohen aufs Land, Handwerker stellten ihre Dienste ein, Ärzte weigerten sich, Kranke zu behandeln, und nicht minder desolat war es um die Moral der Kirchenmänner bestellt. Manche Geistliche machten sich lieber aus dem Staub, als Sterbesakramente zu spenden, andere ließen sich ihren geistlichen Beistand fürstlich bezahlen. Sie wussten warum.

Eine erschütternde Ahnung muss die Gläubigen beschlichen haben: Die katholische Kirche, die einzig wahre Vermittlerin zwischen Gott und den Menschen, hatte in der Krise versagt.

Wem sollte man nun noch Vertrauen schenken, wenn selbst die Gebete und Predigten der höchsten Würdenträger und gelehrtesten Theologen keine Wirkung zeigten? In ihrer Verzweiflung gingen die Gläubigen dazu über, selbst etwas für ihr Seelenheil zu tun. Und sei es mit der Peitsche in der Hand.

»Zuweilen trieben sie sich die eisernen Stacheln so tief ins Fleisch, dass man sie erst nach wiederholten Versuchen herausziehen konnte«
Heinrich von Herford, Augenzeuge

Die Brüder des Schmerzes

Anno 1350, so berichtet der aus Nieder-Ingelheim stammende Sebastian Münster (1488-1552), habe überall im Land eine Bewegung starken Zulauf erhalten, deren Mitglieder »aus den Städten und Dörfern mit Fahnen, Prozessionen und Gesang zogen, sich selbst mit geknöpften Geißeln schlugen, um damit die Vergebung der Sünden zu erlangen«.

Tatsächlich waren die Geißler bereits rund 100 Jahre zuvor erstmals aufgetreten – um 1260 im italienischen Perugia. Doch erst die Pestpandemie machte daraus ein Massenphänomen. Es begann im September 1348 in der Steiermark. Von hier aus gelangten die Geißler nach Süddeutschland und Frankreich und sammelten, wo sie auftraten, neue Anhänger. Bald zogen tausende bußfertige Gläubige durchs Land, sie schlugen sich mit Peitschen blutig, um die Sünden der Menschheit auf sich zu nehmen und damit Gottes Gnade zu erflehen und die Pestilenz von der Christenheit abzuwenden.

Die Selbstgeißelung als christliche Bußübung war in vielen klösterlichen Ordensregeln fest verankert. Sie galt als eine »disciplina«, eine Art Erziehung, um böse Leidenschaften zu bekämpfen. In der Welt des Mittelalters galten »Körperstrafen als Heil bringende Medikamente (medicamenta poenitentiae)«, so der irische Historiker Peter Brown, durch welche die Sündhaftigkeit des kranken Körpers geheilt werden sollte.

Auf dem Höhepunkt der Durchseuchung zogen die Flagellanten, wie man sie nach dem lateinischen Wort für Peitsche auch nannte, wieder scharenweise durch Europa. Die Geißlerzüge, von Ingmar Bergman 1957 in seinem Film »Das siebente Siegel« eindrucksvoll dargestellt, erschienen normalerweise in den Orten, die noch pestfrei waren, um gemeinsam mit der Bevölkerung Gott um Verschonung zu bitten.

Zwei Auftritte am Tag, einer in der Nacht

Dann bietet sich den Einheimischen ein schauriges Spektakel: Die Geißler bewegen sich rhythmisch, strecken die Arme zum Himmel. Nach einem strengen, liturgieähnlichen Ritus stimmen die Gläubigen dann das Geißlerlied an (»Für Gott vergießen wir unser Blut«) und schlagen sich im Takt des monotonen Gesangs den entblößten Rücken blutig. Wie auf ein unsichtbares Kommando hin werfen sie sich nun wie Gekreuzigte bäuchlings auf den Boden und verharren dort in andächtiger Stille.

Heinrich von Herford (um 1300-1370), Augenzeuge eines solchen Spektakels, berichtet darüber in seiner Weltchronik von 1355: »Jede Geißel war eine Art Stock, von welchem drei Stränge mit großen Knoten herabhingen. Mitten durch die Knoten liefen von beiden Seiten sich kreuzende, eiserne, nadelscharfe Stacheln, die in der Länge eines Weizenkorns aus den Knoten ragten. Mit solchen Geißeln schlugen sie sich auf den entblößten Oberkörper, so dass dieser blau verfärbt und entstellt anschwoll und das Blut nach unten lief und die benachbarten Wände der Kirche, wo sie sich geißelten, bespritzte. Zuweilen trieben sie sich die eisernen Stacheln so tief ins Fleisch, dass man sie erst nach wiederholten Versuchen herausziehen konnte.«

Nach der blutigen Selbstkasteiung stimmte ein lesekundiger Laie die obligatorische Bußpredigt an. Der Straßburger Chronist Fritsche Closener war Anfang Juli 1349 Augenzeuge, als eine »Schar von 200 Geißlern« durch seine Heimatstadt zog. Zunächst wurde ein Brief Jesu Christi verlesen, den ein Engel in eine Kirche in Jerusalem gebracht habe. In ihm ist von verschiedenen Plagen die Rede, die der Herr senden werde, wenn die Gläubigen sündhaft seien. Der zweite Teil der Predigt rechtfertigte die Flagellantenbewegung: Nur derjenige könne der Gnade Christi teilhaftig werden, hieß es da, der 33 und einen halben Tag (die Lebensjahre Jesu) als Geißler durchs Land gezogen sei und sein eigenes Blut vergossen habe.

Diese Auftritte fanden zweimal am Tag und einmal in der Nacht statt. Nie blieben die Geißler länger als einen Tag. Dennoch hinterließen sie großen Eindruck. Tausende schlossen sich den Geißlerzügen an.

Die katholische Kirche beäugte das Treiben argwöhnisch. Was gaben diese Menschen vor, einen unmittelbaren göttlichen Auftrag zu haben? Im stillen Kämmerlein der Klosterzellen akzeptierte man die Selbstgeißelung als Mittel zur Übung von Askese und Buße. Das öffentliche Treiben der Geißler hingegen war nichts weniger als ein Affront gegen die Kirche und ihr Monopol auf die Heilsvermittlung. Insbesondere im Singen volkssprachlicher Hymnen sowie in den Laienpredigten und -berichten sah man eine Anmaßung priesterlicher Privilegien. Verbunden mit der Ablehnung einer kirchlichen Vermittlung der heilbringenden Sakramente untergruben solche Aktivitäten die Autorität der »una sancta catholica et apostolica ecclesia«.

Diese setzte folglich alles daran, um die »alternative Theologie« der Geißler in ein schlechtes Licht zu rücken. Bereits im Jahr 1349 verbot Papst Clemens VI. die Geißlerbewegung in seiner Schrift »Inter sollicitudines«, in der er die Flagellanten in die Nähe von Ketzern rückte und sie – zu Unrecht – für die wahrscheinlich grausamste Begleiterscheinung der Pest verantwortlich machte: die Massaker an der jüdischen Bevölkerung.

Juden als Sündenböcke

Wo alles Bitten und Flehen zu Gott nicht geholfen hatte, suchte die Masse einen greifbaren Sündenbock und fand ihn in den Juden ihrer Nachbarschaft. An vielen Orten kam das absurde Gerücht auf, Juden hätten die Brunnen vergiftet und so das große Sterben verursacht. Und hatte nicht auch der Chronist Matthias von Neuenburg (1295-1364) davon gesprochen, dass sich die Juden auf einem Konzil in Spanien darauf geeinigt hätten, Gift zu mischen und christliche Knaben zu ermorden? Derartige Theorien, mochten sie noch so weit hergeholt sein, fielen auf fruchtbaren Boden. Die Folgen waren schreckliche Judenpogrome in ganz Europa: In Mainz wurden 12 000 Juden zusammengetrieben und vor dem Dom verbrannt, in Speyer entledigte man sich der Leichname der ermordeten Juden, indem man sie in Weinfässer steckte und in den Rhein warf.

Die Geißlerbewegung jedoch hatte mit diesen Pogromen nichts zu tun. Dass sie Anfang der 1350er Jahre zusammenbrach, lag weniger an dem pontifikalen Verbot als vielmehr daran, dass auch sie dem Wüten der Seuche nicht Einhalt zu gebieten vermochte. Wie schon im 13. Jahrhundert verlor sich die Erscheinung bald wieder und verging, in den Worten Sebastian Münsters »wie eines Menschen Gedicht«.

Heiliger Rochus, bitte für uns!

Was blieb, war die Pest. Auf der Suche nach wirkungsvollen Heilsbringern entdeckten die Christen Europas nun auch die Schutzheiligen für sich. Pesthelfer, wie der Heilige Sebastian oder der Heilige Rochus, bildete man auf so genannten »Pestblättern« ab. Sie zählen zu den frühesten Erzeugnissen des um 1400 aufkommenden Holzschnitts.

Pestbild | Gott im Himmel sendet Pestpfeile auf die Erde, Jesus und Maria treten mit ihren Fürbitten für die Menschen dazwischen. Holzschnittbildern wie diesen wurde eine schützende Wirkung nachgesagt. Aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts.

Die neue Rolle der Heiligen kann man auch an der Namensgebung ablesen, wie der 1991 verstorbene amerikanische Mittelalterhistoriker David Herlihy am Beispiel der Stadt Florenz nachweisen konnte. Standen dort vor der Pest traditionsreiche, aber unreligiöse Namen wie Guido, Aldobrando und Bonaventura hoch im Kurs, schlug nach der Pest die Stunde des Antonio, des Giovanni, des Francesco, des Cristoforo, des Niccolò, des Bartolomeo, des Lorenzo, des Damiano, des Cosimo sowie der Rosa und der Rosalia. All diese Namen hatten eines gemeinsam: Sie riefen christliche Schutzpatrone, Wundertäter und Märtyrer an, in der Hoffnung, den Namensträger vor Krankheit und Schmerzen zu bewahren.

Auch von der Muttergottes erhoffte man sich stärker als noch vor der Pandemie Rettung aus der Not. Ein Phänomen, das bereits nach der Justinianischen Pest anno 541 n. Chr. festzustellen war. Als »Schutzmantelmadonna« verehrt, die mit ihrem Umhang die von Gott gesandten Pestpfeile abwehrt und so die unter ihren Schutzschirm flüchtenden Gläubigen rettet, avanciert Maria zur wichtigsten Pestheiligen.

Magische Praktiken zur Pestabwehr

In Scharen gehen die Menschen nun auf Reisen, pilgern zu heiligen Stätten, besuchen Reliquien, vor allem die der Pestheiligen. Tausende Gläubige machen sich etwa 1350 anlässlich des Heiligen Jahres nach Rom auf und überfluten die Heilige Stadt. Dem Bericht des Augenzeugen Heinrich des Tauben von Selbach (gestorben 1364) zufolge »erstickten […] in der Peterskirche wegen des starken Gedränges viele Menschen, als man dort zum ersten Mal das Schweißtuch Christi zeigte«.

Dass das Pilgerwesen in Zeiten von Yersinia pestis boomte, belegt auch der Umstand, dass zwischen 1350 und 1360 in Europa vermehrt Pilger- und Reiseführer zu den heiligen Stätten erschienen, deren bekannteste heute die ab 1357 auftauchenden »Reisen« oder »Travels« des fiktiven Reisenden Sir John Mandeville sind.

Die Grenzen zwischen Religion, Aberglauben und Magie verschwimmen immer mehr. Reliquien, Amulette und Andachtsbilder werden in kunstvoller Eigenproduktion oder als Massenware hergestellt. Weit verbreitet sind Reliquienkapseln, die man an einer Kette um den Hals trägt und die Kleinstgegenstände des Pestheiligen (Stofffetzen, Knöchelchen) enthalten. Man legt sie auf erkrankte Glieder oder gibt sie gebärenden Frauen in die Hand. Wer auf einer Wallfahrt ein Pilgerzeichen kauft, bringt ein besonders mächtiges Amulett mit nach Hause. Man kann es in Getränke tauchen oder über seine Mahlzeiten raspeln und sich seine segensreiche Wirkung förmlich einverleiben.

Tanzende Botschafter des Todes

In der Welt der Pest tanzen nun Kaiser oder Papst, Geistliche oder Weltliche, Edelmann oder gemeiner Mann, Greise oder Kinder gemeinsam mit dem Tod – alle kommen sie an die Reihe. Die Erfahrung eines pandemischen Übels, das ungeachtet aller Klassenschranken zuschlägt, äußert sich ab 1425 im Motiv des Totentanzes – an Friedhofsmauern, Kloster- und Kirchenwänden, aber auch in Handschriften, meist mit erläuternden sozialkritischen Bildunterschriften versehen. Zumindest beim Sterben sind alle gleich.

Die Pest als existenzielle Bedrohung markierte eine historische Zäsur. Noch während der ersten großen Pestwelle (1347-1353) in Europa wurde der Glaube der Menschen an eine festgefügte Ordnung der Welt zutiefst erschüttert.

Und es sollte nicht bei einem einmaligen Besuch bleiben. Der Schwarze Tod wurde heimisch in Europa und schlug in den folgenden Jahrhunderten wieder und wieder zu, wenn auch nicht immer so verheerend wie zu Beginn. Die alte Ordnung des europäischen Mittelalters sollte sich davon nicht mehr erholen. Der österreichische Denker Egon Friedell (1878-1938) sah in der Pest den »Beginn der Moderne«, Historiker wie David Herlihy (1930-1991) die Ursache für die Reformation.

Denn in das Autoritätsvakuum, das die Kirche hinterließ, stießen bald andere vor, insbesondere eine Einrichtung, die bis heute diese Rolle ausfüllt. Denn was weder die heilige Mutter Kirche vermochte noch jene, die sich im Namen Gottes blutig schlugen, gelang dem Staat und seinen Behörden: Als ihre Maßnahmen zur Eindämmung der Pest endlich Wirkung zeigen, werden die Möglichkeiten eines »starken Staates« offenbar. 1576 legt der französische Staatstheoretiker Jean Bodin (1529-1596) mit seinen »Sechs Büchern über den Staat« die Grundlage für den Absolutismus, der sich schließlich, noch einmal fast 100 Jahre später, in Thomas Hobbes' staatspolitischer Schrift des »Leviathan« (1651) endgültig manifestiert.

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