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Forschungsraketen: Schwerelos in Schweden

In Lappland ist vergangenen Freitag zum 50. Mal eine deutsche "Texus"-Rakete gestartet - kein Land investiert mehr in die Forschung in der Schwerelosigkeit als die Bundesrepublik. Doch nicht jeder Flug macht alle glücklich.
Start einer Texus-Rakete in Schwedisch-Lappland

Um seine kleinen Raumfahrer groß herauszubringen, scheut Paul Galland keine Mühen. Seit Tagen schon eilt der Marburger Pflanzenphysiologe alle sechs Stunden ins Biolabor der schwedischen Raketenbasis Esrange. Er nimmt fingerdicke Behälter, füllt sie mit einer Nährlösung und erweckt darin Pilze zum Leben. In dem Kabuff mit den mintgrünen Wänden drängen sich die Röhrchen mittlerweile dicht an dicht. Schlauchförmige Mikroorganismen in unterschiedlichen Phasen ihres Lebens spießen daraus hervor.

Vier Pilze fehlen allerdings. Sie stehen hundert Meter weiter in der Kälte – im Bauch einer deutschen Forschungsrakete vom Typ "Texus". Klappt alles wie geplant, werden sie schon bald eine große Reise antreten. Der Countdown läuft.

Noch 75 Sekunden

"Viel Erfolg", ruft Andreas Schütte. "Viel Erfolg." Nur eine Wand trennt den Ingenieur vom Biolabor – allerdings eine gut 40 Zentimeter dicke: Schütte, Programmleiter für die "Texus"-Missionen beim Bremer Raumfahrtkonzern Astrium, steht inmitten des "Blockhauses", wie die Schweden ihren Startbunker direkt neben der Abschussrampe nennen. Vor wenigen Augenblicken war der fensterlose Raum noch gefüllt mit Diskussionen, Gemurmel, nervösen Witzen, die die Anspannung lösen sollten. Jetzt, nach Schüttes knapper Ansprache, ist es still geworden. Nur die Lüftung rauscht.

Noch 60 Sekunden

Auch Paul Galland sitzt im Blockhaus. Vor dem Biologen steht ein mannshoher Schrank voll mit Knöpfen, Schaltern, Monitoren: die Steuerkonsole für sein Experiment. Keine zwei Stunden ist es her, dass der Forscher eigenhändig die vier Gewinnerpilze ausgewählt hat, die heute ins Weltall und wieder zurück fliegen dürfen – auf einer mehr als 260 Kilometer hohen Parabelbahn. Noch immer trägt Galland seine grüne Winterjacke, dazu Sandalen.

"In der Wissenschaft geht es stets darum, zunächst einen Nullpunkt zu ermitteln", sagt er. Wer beispielsweise die Fotosynthese erforschen will, dreht dazu das Licht ab. Gravitationsbiologen können es sich nicht so einfach machen: Sie müssen die Schwerkraft abschalten und das geht nur auf Missionen wie denen von "Texus", die mehr als sechs Minuten Schwerelosigkeit garantieren. Galland will die Gravitation aber nicht nur abschalten, er will sie auch kontrolliert wieder einschalten: Zwei der vier fliegenden Pilze von der Art Phycomyces blakesleeanus sitzen deshalb auf einer Zentrifuge, die nach und nach eine immer höhere Schwerkraft erzeugen soll. Ab welchem Wert Organismen auf solche Reize reagieren, ist die große Frage, die Paul Galland umtreibt.

Start einer Texus-Rakete | Inmitten der einsamen Wälder von Schwedisch-Lappland befindet sich ein einmaliges Forschungslabor: die Raketenabschussrampe des Texus-Programms. Es dient der Erforschung von chemischen, biologischen oder physikalischen Prozessen in der Schwerelosigkeit.

Zuschauen kann der weißhaarige Physiologe dabei jedoch nicht: Auf der Erde dauert es durchschnittlich zehn Stunden, bis ein aus dem Gleichgewicht geworfener Keimling wieder senkrecht nach oben wächst. Während des "Texus"-Fluges bleiben dem Forscher allerdings nur wenige Minuten. Galland will sich deshalb auf biochemische Prozesse im Gleichgewichtsorgan der Pilze konzentrieren. Sie sollten umgehend einsetzen, sobald eine genügend hohe Schwerkraft auftritt. Die molekularen Vorgänge führen zudem dazu, dass die Pilze Licht unterschiedlich reflektieren oder absorbieren. Ein hochempfindliches Spektrometer soll diese Änderungen erkennen – und so den Schwellenwert ermitteln. "Im Grunde betreiben wir all den Aufwand nur für diesen einen Parameter", sagt Galland.

Noch 45 Sekunden

"Alles gut", murmelt Andreas Schütte – nicht zum ersten Mal an diesem Freitagmorgen. Und auch nicht zum letzten Mal. Seit neun Jahren verantwortet der gelernte Maschinenbauer nun schon das "Texus"-Programm bei Astrium. Die Tür seines improvisierten Büros direkt neben dem Blockhaus ist gepflastert mit Aufklebern der erfolgreich absolvierten Missionen. "Texus" selbst ist allerdings noch viel älter: Im Dezember 1977 schraubte sich erstmals eine deutsche Forschungsrakete in den Himmel über Lappland. 48 weitere folgten. Das 12,7 Meter lange Geschoss, das gerade auf das Ende des Countdowns wartet, ist Nummer 50. Die Jubiläumsmission. Alle Augen sind darauf gerichtet.

Noch 30 Sekunden

"Mit mehr als 300 Experimenten in 35 Jahren ist unser Programm sicherlich einzigartig auf der Welt", sagt Otfried Joop. Mit einer Kamera um den Hals steht der "Texus"-Projektleiter vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Bonn an der Rückwand des Startbunkers. Neun Millionen Euro hat das DLR allein für die aktuelle Startkampagne locker gemacht, die neben dem Countdown für "Texus 50" auch den Flug von "Texus 51" umfasst, der eine Woche später starten soll. Neun Millionen Euro für acht Experimente und knapp 13 Minuten Schwerelosigkeit. Kein anderes Land steckt so viel Geld und Energie in unbemannte Forschungsraketen wie die Bundesrepublik.

Dabei hat "Texus" – ein Kunstwort für "Technologische Experimente unter Schwerelosigkeit" – sein ursprüngliches Ziel längst aus den Augen verloren: In den Anfangsjahren war das Programm dafür gedacht, Experimentieranlagen zu testen, die später im Weltraumlabor "Spacelab" zum Einsatz kommen sollten. Inzwischen steht die Grundlagenforschung in Physik, Biologie und Materialwissenschaft im Mittelpunkt – Disziplinen, in denen interessante Phänomene häufig von der störenden Schwerkraft überlagert werden.

Nach bald 50 Flügen ist Routine eingekehrt: Wer mitfliegen will, muss sich bewerben. Das DLR wählt aus. Astrium entwickelt, baut und testet die Experimente. Eineinhalb Jahre dauert die Vorbereitung für die sechs Minuten Schwerelosigkeit. "Allein das zeigt, wie wichtig es ist, dass alles perfekt läuft", sagt Andreas Schütte. Noch läuft alles perfekt.

Noch 15 Sekunden

Pascal Heintzmann verfolgt den Countdown mit zusammengekniffenen Lippen. Der Doktorand vom DLR-Institut für Materialphysik im Weltraum ist einer der Experimentatoren der Elektromagnetischen Levitationsanlage (EML), der Hauptnutzlast von "Texus 50". Heintzmann will darin ein kleines Kügelchen aus einer Zirkon-Nickel-Legierung schmelzen, zum Zappeln bringen und mithilfe der abklingenden Schwingung die Viskosität der Schmelze ermitteln. Die Daten sollen helfen, bei vergleichbaren Experimenten am Boden künftig die störende Schwerkraft herauszurechnen – ohne dass jedes Mal eine Rakete gestartet werden muss.

Zehn Tage ist Heintzmann schon auf der schwedischen Basis, die mitten im Wald, 40 Kilometer östlich der Bergbau-Stadt Kiruna liegt. Zehn Tage lang hat er seine Mission trainiert und simuliert. Er hat Problemsituationen durchgespielt und Checklisten für alle möglichen Notfälle entwickelt. Er hat sogar von seinem Experiment geträumt. "Inzwischen habe ich alle Parameter im Kopf, da kann eigentlich nichts mehr schiefgehen", sagt der 28-Jährige. Eigentlich.

Noch 5 Sekunden

Andreas Schütte ballt die Fäuste. Sein Blick klebt auf einem Schwarzweiß-Monitor, über den Bilder des Startturms flimmern. Noch ist dort nichts zu sehen. Es ist die Ruhe vor dem Knall.

3, 2, 1...

Ein heller Blitz, ein Schatten auf dem Monitor, schon ist die Rakete weg. Dann der Schall. Dumpf, eindringlich, nicht einmal besonders laut. Aber so intensiv, dass der Boden des Startbunkers vibriert. Nach 15 Sekunden zündet wie geplant die zweite Stufe der "VSB-30"-Rakete, einer deutsch-brasilianischen Gemeinschaftsentwicklung. Nach einer Minute haben die 1,6 Tonnen Festbrennstoff ihre Schuldigkeit getan: Antriebslos, wie ein nach oben geworfener Stein, strebt die Nutzlast mit ihren Pilz-Passagieren nun in die Höhe.

Zehn Sekunden später kommt endlich das erlösende Kommando: "Mikrogravitation!" Schwerelosigkeit. Ganz ohne störende Kräfte ist allerdings auch "Texus 50" nicht unterwegs; die Einflüsse liegen aber bei weniger als einem Zehntausendstel der Schwerkraft am Erdboden. Ähnlich gute Werte liefert lediglich der kontrollierte Absturz in einem so genannten Fallturm, allerdings nur für neun Sekunden. Parabelflüge sind dagegen deutlich schlechter. Auch die Forschung auf der Internationalen Raumstation ISS, auf der Astronauten schon mal gegen die Wand rumpeln, leidet oftmals unter ungünstigeren Bedingungen.

Pascal Heintzmann hat gerade andere Sorgen. Mit der Elektromagnetischen Levitationsanlage, die bereits zum fünften Mal auf "Texus" unterwegs ist, stimmt etwas nicht. Schalter werden hektisch hin- und hergeworfen, Stromkreise unterbrochen, Anlagen neu gestartet. Der Experimentingenieur, der links von Heintzmann sitzt, übernimmt. Wieder klicken Schalter. Wieder werden Köpfe geschüttelt. Ein dritter Ingenieur greift ein. Heintzmann schaut entgeistert zu.

Wenige Augenblicke später ist alles vorbei. "Texus 50" taucht auf seiner Parabelbahn wieder in die Erdatmosphäre ein. Nach weiteren zweieinhalb Minuten öffnet sich der Hauptfallschirm. Die knapp 400 Kilogramm schwere Nutzlast schwebt übers schneebedeckte Lappland – nur 30 Kilometer vom Startort entfernt. Klatschen, Schulterklopfen, Gratulationen auf der einen Seite des Raumes, Stille und lange Gesichter auf der anderen.

"Wir haben unseren Schwellenwert", jubelt Paul Galland. "Wir konnten die Probe nicht einmal positionieren", sagt Pascal Heintzmann. Ausgerechnet beim Jubiläumsflug hat die ansonsten so zuverlässige Levitationsanlage versagt. Alle Vorbereitung, alles Training, alle Notfalllisten, waren umsonst. Dabei hätte die Messung "das i-Tüpfelchen" auf Heintzmanns Doktorarbeit werden sollen. Raumfahrt kann so grandios sein – und manchmal auch so grausam.

Offenlegung des Autors: Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt hat die Reise nach Schweden organisiert und die Kosten größtenteils übernommen.

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