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Geheimer Wettlauf um schweres Wasser: Wie ein Pariser Banker die Nazi-Atombombe verhinderte

Im Februar 1940 eilte der Bankier Jacques Allier nach Norwegen, um den Deutschen 26 Kanister Deuteriumoxid vor der Nase wegzuschnappen. Mit im Gepäck: ein fetter Scheck, der Segen seiner Regierung – und etwas Kadmium.
Ein großes, beleuchtetes Gebäude bei Nacht, umgeben von Schnee. Die Architektur des Gebäudes ist historisch und symmetrisch, mit zahlreichen Fenstern und einem zentralen Eingang. Rechts im Bild sind nebeneinander mehrere beleuchtete Rohre erkennbar, die von einem steilen Berg herunterführen.
In den Anlagen des Kraftwerks Vemork, bei Inbetriebnahme 1911 das größte der Welt, wurde ab Mitte der 1930er Jahre schweres Wasser – Deuteriumoxid – produziert. Heute ist es ein Museum.

Als er sich im Februar 1940 aufmachte, um seinen Wettlauf gegen Nazi-Deutschland zu gewinnen, hatte Jacques Allier ein kleines, unscheinbares Metallröhrchen im Gepäck. Chemiker hatten dem Pariser Bankdirektor darin Kadmium mitgegeben. Für den Fall, dass seine geheime Mission scheitern sollte, für den Fall, dass es ihm nicht gelingen sollte, den weltweit einzigen Vorrat an schwerem Wasser vor den Deutschen in Sicherheit zu bringen. Dann hätte er mit dem Pulver aus seinem Röhrchen das schwere Wasser wenigstens unbrauchbar machen können. Kein schweres Wasser, keine Atombombe, so das Kalkül der Franzosen.

Der Wettstreit um die erste Atombombe war entfacht, seitdem die Berliner Forscher Otto Hahn und Fritz Straßmann vom Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie im Januar 1939 im Fachblatt »Die Naturwissenschaften« über die Entdeckung der Kernspaltung berichtet hatten. Die beiden Grundlagenforscher hatten nämlich beobachtet, dass Atomkerne »zerplatzen« können, wie sie es selbst bezeichneten. Eine Sensation, bis dahin hatten Physiker eine solche Kernspaltung als unmöglich abgetan.

Kein schweres Wasser, keine Atombombe, so das Kalkül der Franzosen

Hahns jüdische Kollegin Lise Meitner, die 1938 vor den Nationalsozialisten nach Schweden geflohen war, verstand sogleich, was in den Experimenten geschehen war: Der Atomkern des Urans war unter dem Beschuss mit Neutronen in zwei kleinere Atomkerne zerfallen, mit einer insgesamt kleineren Masse als vorher. Die übrige Masse wurde als ungeheure Energie freigesetzt, die Kernenergie. Und nicht nur Wissenschaftler begriffen schnell, was das bedeutete: Wer es schaffen würde, mit Hilfe der Kernspaltung eine Atombombe zu entwickeln, würde den gerade entfesselten Zweiten Weltkrieg wohl für sich entscheiden können.

Erste Beschreibung einer Kettenreaktion

Im ersten Schritt musste es den Forschern dafür jedoch gelingen, eine ganze Reihe von Kernspaltungen hintereinander auszulösen. Eine solche Kettenreaktion beschrieben im April 1939 drei Autoren um den französischen Nobelpreisträger Frédéric Joliot-Curie erstmals in der Fachzeitschrift »Nature«: Der Atomkern spaltet sich, wenn man ihn mit Neutronen beschießt. Dabei entstehen jedoch nicht allein neue chemische Elemente. Es werden auch weitere Neutronen frei. Und wenn diese weitere Kernspaltungen an anderen Atomen auslösen, entsteht eine Kettenreaktion, die Gewinnung und Freisetzung gewaltiger Mengen an Energie.

Als der Physikochemiker Paul Harteck von der Universität Hamburg den Fachartikel zur Kettenreaktion gelesen hatte, schrieb er gemeinsam mit seinem Assistenten einen Brief an das deutsche Kriegsministerium. Sie bestanden darauf, die Anwendung der Kernenergie für militärische Zwecke zu prüfen. »Das Land, das zuerst Gebrauch davon machen wird, wird einen unüberwindbaren Vorteil haben«, war sich Harteck sicher.

Allerdings scheiterten die Versuche, eine Kettenreaktion auszulösen, zunächst daran, dass die bei der Kernspaltung frei werdenden Neutronen zu schnell waren, um neue Atomkerne zu spalten. Daher suchten die Forscher diesseits und jenseits des Rheins fieberhaft nach Substanzen, um diese Neutronen auszubremsen.

Graphit oder schweres Wasser?

Die Deutschen überlegten zunächst, ob sie dafür reinen Kohlenstoff, Graphit, nehmen sollten. Das gewünschte Material musste die Eigenschaft haben, Neutronen zwar zu verlangsamen, aber gleichzeitig nur wenige davon zu absorbieren. Der Heidelberger Kernphysiker Walther Bothe hatte jedoch in komplizierten Versuchsreihen beobachtet, dass Graphit recht viele Neutronen aufnimmt. Seine Ergebnisse seien womöglich ungenau, schrieb Bothe allerdings, die Absorptionswerte vielleicht zu hoch gegriffen. Sein Material nämlich war verunreinigt, reiner Kohlenstoff war damals kaum zu bekommen.

Obwohl selbst mit diesen hohen Werten Graphit als Bremssubstanz in Frage gekommen wäre, entschieden sich die Nationalsozialisten für eine andere Substanz: das schwere Wasser, auch Deuteriumoxid genannt. Es enthält Wasserstoff, in dessen Atomkern nicht nur ein Proton, sondern noch ein zusätzliches Neutron steckt. Daher hat dieses Wasser ein höheres Atomgewicht, ist also besonders schwer.

Jacques Allier | Der französische Banker, der es mit den Nazis aufnahm.

Das Problem dabei: Schweres Wasser war damals schwer zu beschaffen. Der weltweit einzige Vorrat der kostbaren Flüssigkeit lagerte in Norwegen, in einem Gebäude der Firma Norsk Hydro, am Rande des Vestfjord-Tals. In jenen entlegenen Bergen hatte das Unternehmen im Jahr 1911 das Wasserkraftwerk Vemork errichtet, das seinerzeit größte weltweit. Später kam neben dem Kraftwerksgebäude eine Fabrik hinzu, in der die Arbeiter mittels Elektrolyse Wasserstoff herstellten. Als Nebenprodukt des Verfahrens entstand: schweres Wasser.

Ebenjenen Vorrat schweren Wassers sollte der Bankier Jacques Allier auf seiner geheimen Mission im Februar 1940 nach Frankreich holen und damit verhindern, dass die rare Substanz in die Hände des Nazi-Regimes geriet. Bereits am 19. Januar 1940 hatte das deutsche Unternehmen IG Farben 1000 bis 2000 Kilogramm Deuteriumoxid in Norwegen geordert, die ersten 500 Kilogramm sollten bitte schön innerhalb von zwei Monaten geliefert werden. Der Vorrat umfasste allerdings gerade einmal 185 Kilogramm.

Beim zuständigen norwegischen Fabrikchef Axel Aubert schrillten bei dieser Order alle Alarmglocken, zumal der Auftraggeber IG Farben nicht erklären wollte, wofür das schwere Wasser eigentlich gedacht sei. »Wir bedauern sehr, dass Sie uns unsere Fragen auf Verwendung nicht weiter beantworten können«, schrieb Aubert nach Deutschland zurück. Er sehe daher keine Möglichkeit, die Produktion des schweren Wassers zu erhöhen. Besorgt kontaktierte Aubert wenige Tage später den Präsidenten der französischen Bank Paris et Pays-Bas, heute BNP Paribas, die eine Mehrheitsbeteiligung am Kraftwerk Vemork hielt.

Das Rüstungsministerium übernimmt

Auf diese Weise erfuhr auch das französische Rüstungsministerium rasch vom Ansinnen des NS-Regimes. Minister Raoul Dautry bat Frédéric Joliot-Curie zu sich, jenen Kernphysiker, der erstmals eine Kettenreaktion beschrieben hatte und seither in Paris auf die Beschaffung unter anderem von schwerem Wasser drängte. Joliot-Curie war mit der Tochter von Marie Curie verheiratet, gemeinsam hatten sie im Januar 1934 die künstliche Radioaktivität entdeckt und nur ein Jahr später den Nobelpreis für Chemie dafür erhalten.

Auch Jacques Allier war zu dem Treffen geladen, weil der Bankier den norwegischen Fabrikdirektor geschäftlich kannte. Bis in die 1950er Jahre wird er in den geheimen Unterlagen nur unter den Initialen »M.A.« erwähnt werden. Allier, 40 Jahre alt, ein Mann mit schmalem Gesicht und dunkler, runder Brille, sollte die kostbare Flüssigkeit aus Norwegen nach Frankreich schaffen und den Deutschen unbedingt zuvorkommen.

Am 26. Februar 1940 erhielt Allier seine Anweisungen, unterschrieben sowohl von Dautry als auch von Frankreichs Premierminister Édouard Daladier. Die Dokumente waren höchst ungewöhnlich: Allier bekam für seine Mission komplett freie Hand, konnte ab sofort selbst über die weitere Planung entscheiden. Er wusste, dass er sich beeilen musste, denn die Deutschen drohten über den Seeweg in Norwegen einzufallen. Sie wollten das Land besetzen, um Marinestützpunkte für den Seekrieg gegen die Briten im Atlantik zu installieren. Um seine Identität zu verbergen, sollte Allier unter dem Mädchennamen seiner Mutter reisen – als Monsieur Freiss.

Nur zwei Tage später stieg er an der Gare du Nord in den Zug, im Gepäck ein Kreditbrief über 1,5 Millionen norwegische Kronen, umgerechnet rund 36 Millionen Francs – damals der Gegenwert von etwa 200 Kilogramm Gold. In Amsterdam nahm er ein Flugzeug nach Malmö, von dort ging es in Begleitung dreier Agenten des französischen Geheimdienstes wieder mit dem Zug weiter bis Oslo. Weder Allier noch seine Kollegen ahnten zu diesem Zeitpunkt, dass die Deutschen bereits wussten, was im Gange war. Doch dann fing der französische Geheimdienst einen Funkspruch ab: Ein verdächtiger Franzose mit dem Namen Freiss müsse unbedingt aufgehalten werden.

»Ich weiß, dass ich für das, was ich heute tue, erschossen werde, wenn die Experimente, von denen Sie mir erzählt haben, erfolgreich wären und wenn Frankreich später durch ein Unglück den Krieg verlieren sollte«Axel Aubert, Chef des Kraftwerks Vemork

In Oslo angekommen, galt es, umgehend den Fabrikdirektor von der Wichtigkeit der Mission zu überzeugen. Doch der hatte sich offenbar längst entschieden: »Ich muss betonen, dass ich keinerlei schwierige Diskussionen mit ihm hatte«, schrieb Allier später in einem Bericht. Der Risiken war sich der Norweger wohl bewusst. »Ich weiß, dass ich für das, was ich heute tue, erschossen werde, wenn die Experimente, von denen Sie mir erzählt haben, erfolgreich wären und wenn Frankreich später durch ein Unglück den Krieg verlieren sollte. Aber es erfüllt mich mit Stolz, dieses Risiko einzugehen«, erklärte Aubert dem französischen Besucher.

Axel Aubert | Der norwegische Chemiker und Ingenieur wurde 1926 Generaldirektor von Norsk Hydro. Als er 1940 sowohl von deutscher als auch von französischer Seite um das schwere Wasser ersucht wurde, das nur von seiner Firma in nennenswertem Umfang erzeugt wurde, entschied er, die gesamte vorhandene Produktionsmenge in französische Hände zu geben, damit sie nicht den Nazis in die Hände fiel.

Der Norweger sorgte sogleich dafür, dass der Franzose die seltene Flüssigkeit persönlich noch in derselben Nacht abholen konnte, in einem Gebäude aus grauem Beton und Stahl neben dem Wasserkraftwerk Vemork, am Rande des Vestfjord-Tals, nahe der Kleinstadt Rjukan. Die Fabrikarbeiter hatten die 185 Kilogramm schwere Fracht in 26 Metallkanister abgefüllt. »Das schwere Wasser wurde am Samstag, dem 9. März, um Mitternacht eingeladen, vom Direktor der Fabrik selbst in sein eigenes Auto und von ihm nachts nach Oslo gebracht, wo er angekommen ist nach einer schwierigen Fahrt von fünf Stunden auf vereisten Straßen«, so wird es Allier später in seinem Bericht festhalten. Er selbst hatte in einem zweiten Wagen gesessen, der Aubert hinterhergefahren war. Vor Ort wusste niemand von der Absprache zwischen den beiden Direktoren, auch die norwegische Regierung sollte nichts davon erfahren.

Wieder in Oslo eingetroffen, lagerte Allier die 26 Kanister im Gartenpavillon eines unscheinbaren Gebäudes im Stadtzentrum, das der französischen Regierung gehörte. Noch immer begleitete ihn jenes Metallröhrchen mit Kadmium, das sein kostbares Gut im Notfall unbrauchbar machen sollte.

Doch dem französischen Bankdirektor gelang es, die auf den Plan gerufenen Nationalsozialisten zu täuschen. Während deutsche Kampfflugzeuge eine Maschine von Oslo Richtung Amsterdam abfingen und zur Notlandung in Hamburg zwangen, brachte Allier das schwere Wasser in einem anderen Flieger zunächst nach Perth in Schottland, und von dort erreichte es sicher das Labor von Nobelpreisträger Frédéric Joliot-Curie in Paris. Nüchtern wird der Kernphysiker auf einem Blatt notieren, dass er am 16. März zehn Kanister und am 18. März weitere 16 in Empfang nehmen konnte, jeder einzelne mit einer römischen Zahl beschriftet. »Joliot-Curie und ich waren überwältigt vor Freude«, hielt Rüstungsminister Dautry in einer Notiz fest.

Allerdings währte die Freude nicht lange. Im Mai 1940 überrannte die Wehrmacht die französische Armee und drang binnen weniger Wochen bis zur Kanalküste vor. Gleich nach ihrer Ankunft in Paris versiegelten die Deutschen im Juni den Eingang zum Labor von Joliot-Curie, um sich das wertvolle Versuchsmaterial zu sichern. Doch vom schweren Wasser fanden sie keine Spur. Was war damit geschehen? Im Verhör mit Joliot-Curie sollte ausgerechnet sein Freund, der deutsche Kernphysiker Wolfgang Gentner, die Antwort finden. Beschämt übersetzte Gentner die Vernehmung des Kollegen, mit dem er gemeinsam geforscht hatte, als er als frisch promovierter Stipendiat zwei Jahre am Institut von Marie Curie verbracht hatte. »Bei dem Verhör drängte man Joliot-Curie, zu verraten, wohin die Franzosen beim Einmarsch der deutschen Armee das von ihnen kurz vor dem Krieg in Norwegen aufgekaufte schwere Wasser gebracht hatten«, berichtete Gentner später.

Ein Zyklotron als Zufallsfund

Die deutschen Militärs interessierten sich allerdings schon bald nicht mehr nur für den verschollenen Schatz aus Norwegen. Ihre Aufmerksamkeit fesselte zudem ein Gerät, das im Labor des französischen Nobelpreisträgers stand: ein Zyklotron, damals der potenteste Teilchenbeschleuniger seiner Art in Europa, um Atomkerne mit Neutronen zu beschießen. Gentner zufolge fragten die Wissenschaftler des Heereswaffenamts Joliot-Curie, »ob er bereit wäre, an der Ingangsetzung des Zyklotrons im Institut mitzuarbeiten«. Noch nämlich lief das Gerät nicht.

Frédéric Joliot-Curie im Jahr 1937 gemeinsam mit seiner Frau Irène | Das Ehepaar hatte zwei Jahre zuvor den Chemie-Nobelpreis für die gemeinsame Entdeckung künstlicher Radioaktivität erhalten.

Der deutsche Physiker erhielt schließlich den Auftrag, den Teilchenbeschleuniger für das Heereswaffenamt zu überwachen. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs berichteten Gentner und Joliot-Curie, sie hätten eine heimliche Absprache getroffen: »Wir haben uns darauf geeinigt, dass im Zyklotron nur Grundlagenforschung stattfinden sollte«, so formulierte es Gentner. Auch sollte Joliot-Curie stets darüber informiert sein, woran die deutschen Wissenschaftler gerade arbeiteten. Auf diese Weise verhinderten die beiden Kernphysiker, dass die deutsche Atomforschung mit Hilfe des französischen Teilchenbeschleunigers vorankam. So fiel das Zyklotron oft aus – vor allem dann, wenn Forscher mit Proben aus Deutschland eintrafen.

Das schwere Wasser dagegen befand sich längst in Sicherheit. Zwei Labormitarbeiter Joliot-Curies hatten den kostbaren Vorrat auf einem Kohledampfer nach England geschafft. Dort setzten die Kollegen die Experimente zur Kernspaltung und Kettenreaktion fort, fern der deutschen Besatzer. Und Alliers kleines Metallröhrchen kam nie zum Einsatz.

Der Artikel ist ein redaktionell bearbeiteter Auszug aus dem Buch »Die Formel des Widerstands. Wie Kernphysiker mithalfen, die Atombombe der Nazis zu verhindern« von Astrid Viciano. Mehr zum Thema auch in der Episode »Kernspaltung und Schwerwasser-Sabotage« des Podcasts »Geschichten aus der Geschichte«.

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