Selbstheilende Materialien: Bisher unbekannter Mechanismus flickt Risse automatisch

Die Fähigkeit, Schäden selbsttätig zu reparieren, ist der wohl grundlegendste Unterschied zwischen Leben und Technik. Nur wenige künstliche Werkstoffe haben bisher vergleichbare Fähigkeiten, und meistens sind es relativ weiche Materialien, die in einen Riss hineinwandern und ihn schließen können. Doch dank eines unerwarteten neuen Mechanismus könnten nun womöglich sogar harte Materialien selbstheilend werden. Wie ein Team um Hongyu Zhang von der Jilin University in Changchun in der Fachzeitschrift »Nature Materials« berichtet, funktioniert Selbstheilung auch, wenn es zu kalt für den klassischen Mechanismus ist.
Das zeigte die Arbeitsgruppe anhand eines von ihr designten Molekülkristalls. Sie tauchte ihn in flüssigen Stickstoff, der -196 Grad Celsius kalt ist. Bei dieser Temperatur sind die Bestandteile des Materials nahezu unbeweglich, sodass sie nicht mehr in Schadstellen wandern und diese so schließen. Dennoch beobachtete das Team, dass sich Risse in einem Kristall aus dem organischen Molekül PBDPA auch bei diesen Temperaturen selbsttätig schlossen. Hinter der völlig unerwarteten Fähigkeit des Materials steckt wahrscheinlich, dass das Molekül unterschiedlich geladene Bereiche hat, die sich in Zonen gleicher elektrischer Ladung anordnen.
Dadurch ziehen sich die gegenüberliegenden Seiten eines Risses elektrostatisch an und schließen sich reißverschlussartig wieder. Dabei gewinnt das transparente Material auch seine optischen Eigenschaften zurück: Es bleibt keine Fehlstelle, die Licht streut. Falls die Bruchkanten eines Risses zu weit auseinanderklaffen, kann man das Material außerdem zusammendrücken, um die Heilung zu beschleunigen. Nur wenn der Kristall komplett durchgebrochen ist, funktioniert die Reparatur nicht mehr – vermutlich, weil die Bruchstellen dann nicht mehr optimal zueinander ausgerichtet sind.
Das Prinzip hinter dem neuen Selbstheilungsmechanismus funktioniert mit vielen unterschiedlichen Molekülen. So eröffnet die Studie die Aussicht auf eine ganze Palette von selbstheilenden organischen Molekülkristallen. Da die Risse optisch perfekt ausheilen, wären derartige Materialien zum Beispiel für widerstandsfähige optische Bauteile wie Lichtleiter geeignet. Bisher allerdings hat das Team den Mechanismus nur an eigens gezüchteten Einkristallen demonstriert. In den meisten technischen Anwendungen nutzt man jedoch Materialien aus vielen Kristallen, die aneinandergrenzen. Ob das Prinzip deswegen auch bei technischen Werkstoffen zufriedenstellend funktioniert, muss noch weiter erforscht werden.
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