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Narzissmus: Selbstverliebter Westen

Studien zeigen: Je westlicher unsere Welt, umso mehr Narzissten scheint sie hervorzubringen. Doch steht uns tatsächlich eine Narzissmus-Epidemie bevor?
Brandenburger Tor

Im Osten halten die Menschen zusammen, sie sorgen sich um die Gemeinschaft – im Westen aber herrscht der raue Kapitalismus, eine Gesellschaft von selbstbezogenen Egoisten. Die DDR-Oberen zeichneten einst ein Bild von zwei Welten. Es ging um unterschiedliche Kulturen: hier die Empathie, drüben die kalte Überheblichkeit.

Solche Aussagen dienten damals natürlich hauptsächlich der Propaganda. Eine bislang unveröffentlichte Studie deutet nun allerdings darauf hin, dass sie vielleicht doch ein Körnchen Wahrheit beinhalten könnten: Tatsächlich scheint es unter Menschen, die vor der Wende in Westdeutschland aufgewachsen sind, mehr Narzissten zu geben als im Osten. Eine Gruppe von Forschern um den Psychiater Stefan Röpke und die Psychologin Aline Vater von der Berliner Charité hat das herausgefunden. Ihre Ergebnisse stellten die Wissenschaftler 2016 auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) vor.

»Menschen, die in Westdeutschland aufgewachsen sind, weisen höhere Narzissmus-Werte auf als die ostdeutsche Vergleichsgruppe«Stefan Röpke

Röpke und sein Team ließen zwischen 2014 und 2016 rund 1000 Menschen aus Ost- und Westdeutschland zwei Fragebogen ausfüllen. Mit dem so genannten Narzisstischen Persönlichkeitsinventar (NPI) erfassten sie Persönlichkeitseigenschaften wie Selbstbezogenheit oder Machtstreben. Außerdem kam das so genannte Pathologische Narzissmusinventar (PNI) zum Einsatz. Damit fragten die Wissenschaftler nach dem Leidensdruck für den Einzelnen und für andere – um krankhaften Narzissmus auszumachen.

»Bei der Auswertung haben wir herausgefunden, dass Menschen, die in Westdeutschland aufgewachsen sind, höhere Narzissmus-Werte als die ostdeutsche Vergleichsgruppe aufweisen«, erklärt Röpke. Dabei zeigte sich, dass es die Unterschiede zwischen Ost und West bei jüngeren Teilnehmern, die nach der Wende aufgewachsen sind, nicht mehr gibt. Sie sind demnach genauso narzisstisch wie die älteren Westdeutschen. Psychiater Röpke sieht darin einen potenziellen Beleg für die Hypothese, dass westliche moderne Gesellschaften Narzissmus fördern. Eine mögliche Erklärung: Während in kollektiven Systemen das Gemeinwohl betont wird, dreht man sich in unserer Gesellschaft stärker um sich selbst.

Umstrittene Studie

Der Gedanke ist nicht neu: Im Jahr 2008 hatte eine Gruppe von Wissenschaftlern aus den USA um Jean Twenge, Psychologin an der San Diego State University, ähnliche Ergebnisse veröffentlicht. In ihrer Metaanalyse untersuchten die Autoren 85 Stichproben aus über 16 000 Fragebogen, die amerikanische College-Studenten zwischen 1979 und 2006 ausgefüllt hatten. Dabei stellten sie einen Anstieg narzisstischer Persönlichkeitseigenschaften fest und schrieben ein Buch darüber: »The Narcisstic Epidemic«.

Allerdings gibt es immer wieder Kritik an der Methodik der Studie zur narzisstischen Epidemie. Twenge und ihr Team werteten lediglich den NPI-Fragebogen aus, der nur zwei Antwortmöglichkeiten zulässt, eine narzisstische und eine nicht narzisstische. Dabei müssen sich Teilnehmer zum Beispiel festlegen, ob Komplimente ihnen schmeicheln oder sie beschämen. Eine Antwort dazwischen ist nicht möglich. Zudem führten die Forscher keine eigenen Befragungen durch. Stattdessen nutzten sie Daten aus anderen Publikationen. Studien dieser Art – so die Kritiker – zeigten häufig zu hohe oder zu niedrige Ergebnisse. Der Hamburger Psychiater Claas-Hinrich Lammers etwa hält Twenges Narzissmus-Theorie für »eine Riesenstory auf einer extrem schwachen, sturen Datenbasis«.

All das seien »berechtigte Einwände«, sagt sein Kollege Röpke. Allerdings sei auch nicht hinreichend belegt, »dass die Studienergebnisse tatsächlich falsch sind und der Narzissmus nicht zugenommen hat«.

»Der Narzissmus-Begriff wird geradezu inflationär verwendet«Claas-Hinrich Lammers

In ihrer Studie kamen die deutschen Forscher um Röpke zu einem weiteren Ergebnis: Ausgerechnet jenen Menschen, die besonders selbstsicher und großspurig auftreten, fehlt offenbar häufig die Achtung vor sich selbst. Bei der Auswertung habe man herausgefunden, dass Menschen, die in Westdeutschland aufgewachsen sind, zwar im Schnitt narzisstischer seien, zugleich aber »ein niedrigeres Selbstwertgefühl als die ostdeutsche Vergleichsgruppe aufweisen«, erklärt Röpke. »Wenn narzisstische Persönlichkeitseigenschaften tatsächlich auf Kosten des Selbstwerts zunehmen, dann ist das eine unschöne Entwicklung«, so der Forscher. Störungen des Selbstwerts können zu Problemen im Umgang mit anderen Menschen, zu Vereinsamung und Sozialängsten führen.

Ob Narzissmus nun direkte Folge eines mangelnden Selbstwerts ist oder umgekehrt – um das zu belegen, betont Röpke, seien weitere Untersuchungen nötig, die bis in die Soziologie hineinreichen: Verändern sich durch zunehmenden Narzissmus und schwindende Selbstachtung Werte und Normen einer Gesellschaft? Oder die Lebensläufe Einzelner? Und wenn ja, wie einschneidend sind die Veränderungen? »Unsere Studie ist nur ein erster Aufschlag«, sagt Röpke.

Was ist noch gesund?

Ohnehin gilt die Frage, ob Narzissmus grundsätzlich eine schlechte Eigenschaft sein muss. Schon die Kritiker von Jean Twenge beanstandeten einen leichtfertigen Umgang mit dem Narzissmus-Begriff. »Der Narzissmus wird geradezu inflationär als Label verwendet. Den meisten Menschen ist gar nicht klar, welche Persönlichkeitseigenschaften wirklich narzisstisch sind und dass sich dahinter durchaus auch etwas Positives verbergen kann«, sagt der Hamburger Psychiater Lammers. »Niemand ist per se schlecht, weil er ambitioniert ist oder gerne im Mittelpunkt steht.«

Tatsächlich wird der Begriff heute in der Regel mit Überheblichkeit, einem übersteigerten Geltungsbedürfnis sowie übertriebener Selbstbezogenheit gleichgesetzt und ist meist negativ besetzt. Wissenschaftlich betrachtet ist Narzissmus aber vieldeutiger. Es umfasst einerseits Facetten der Persönlichkeit gesunder Menschen, zum Beispiel Selbstbewusstsein, Ehrgeiz und Durchsetzungsvermögen, andererseits aber auch die Persönlichkeitsstörung.

Narzisstische Eigenschaften gelten so lange als gesund, bis die Betroffenen unter ihnen leiden und zum Beispiel Depressionen entwickeln oder sich aggressiv gegenüber anderen Menschen verhalten. Dann spricht man von krankhaftem Narzissmus, der häufig in Verbindung mit anderen Störungen auftaucht, zum Beispiel mit Angststörungen oder Abhängigkeiten. Experten schätzen, dass rund ein Prozent der Gesamtbevölkerung unter einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung leidet.

Als Begriff tauchte der Narzissmus erstmals am Ende des 19. Jahrhunderts auf. Einer der Ersten, die sich mit dem Phänomen beschäftigten, war Sigmund Freud, der diese Charaktereigenschaft bereits in ihrer Vielschichtigkeit begriff: »Menschen dieses Typus imponieren den anderen als 'Persönlichkeit', sind besonders geeignet, anderen als Anhalt zu dienen, die Rolle von Führern zu übernehmen, der Kulturentwicklung neue Anregungen zu geben oder das Bestehende zu schädigen.«

Später entwickelten die Psychoanalytiker Heinz Kohut und Otto Kernberg, der bis heute zu den renommiertesten Narzissmus-Experten weltweit gehört, weiterführende Definitionen und psychotherapeutische Konzepte. Kohut und Kernberg schufen die diagnostischen Grundlagen für den Diagnosekatalog der American Psychiatric Association, kurz DSM-5 genannt.

Darin sind als Diagnosekriterien für eine narzisstische Persönlichkeitsstörung unter anderem Neid, Überheblichkeit, grenzenlose Erfolgsfantasien, Empathiemangel und ausbeuterisches Verhalten in zwischenmenschlichen Beziehungen aufgeführt. Die Kriterien umreißen den Inbegriff des Narzissmus-Klischees, den grandiosen Narzissten. Viele Patienten besitzen daneben noch eine andere Seite, den so genannten vulnerablen Narzissmus, der weniger leicht auszumachen ist. Patienten mit dieser Ausprägung der Persönlichkeitsstörung halten sich häufig bedeckt, leben bescheiden und angepasst. In ihrem Inneren malen sie sich oft aber die wildesten Erfolgsfantasien aus, entwerfen ein allzu positives Selbstbild und haben eine sehr abwertende Haltung gegenüber ihren Mitmenschen entwickelt.

Eines haben beide Narzissmus-Ausprägungen gemeinsam: In der Regel begibt sich kein Patient, der unter der Persönlichkeitsstörung leidet, explizit wegen seiner Eigenliebe in Behandlung. Die meisten suchen in einer akuten sozialen Krise Hilfe, beispielsweise nach dem Verlust des Jobs oder nach der Trennung vom Partner. Oder sie begeben sich wegen anderer Probleme wie Suchterkrankungen, Depressionen und Angstzuständen in Therapie.

Kaum empirische Daten

Wie erfolgreich diese ist, wie oft Narzissten eine Behandlung unter- oder abbrechen, ist nicht bekannt. Während narzisstische Persönlichkeitseigenschaften in der Sozial- und Persönlichkeitspsychologie gut erforscht sind, gibt es für die narzisstische Persönlichkeitsstörung kaum empirische Daten. Dies liegt unter anderem daran, dass narzisstisch gestörte Patienten nur schwer für die Teilnahme an Wirksamkeitsstudien zu gewinnen sind. Durch ihr unstetes Verhalten ist eine langjährige Beteiligung kaum zu gewährleisten.

»Ich würde mir für den Narzissmus-Begriff genau das wünschen, was mit der Hysterie passiert ist: seine Abschaffung und Zerlegung in verschiedene psychopathologische Phänomene«Claas-Hinrich Lammers

Sucht man nach Ursachen für eine narzisstische Persönlichkeitsstörung, so gibt es in der aktuellen Forschung zwei gegensätzliche Erklärungsansätze. Erstens: Narzissten wurden als Kinder über Gebühr verwöhnt und suchen im Erwachsenenalter fortwährend nach Bewunderung und Bestätigung. Zweitens: Die Eltern oder andere Bezugspersonen haben den Patienten im frühkindlichen Alter vernachlässigt, der darauf schon in jungen Jahren gelernt hat, dass er besonders sein muss, um geliebt zu werden.

Neben Umweltfaktoren gibt es Anhaltspunkte, dass auch die genetische Veranlagung eine wesentliche Rolle für die narzisstische Persönlichkeit spielt. Der norwegische Psychologe Svenn Torgersen beobachtete in einer Zwillingsstudie eine hohe Erblichkeit für narzisstische Persönlichkeitsstörungen.

Trotz der vielen unterschiedlichen Auffassungen hinsichtlich einer Zunahme oder einer gleich bleibenden Zahl von Narzissten fordert die Mehrheit der Experten eine differenziertere Betrachtungsweise. »In gewisser Weise erinnert das gegenwärtige Narzissmus-Label stark an den Hysteriebegriff im 19. Jahrhundert, der in ähnlicher Art und Weise in Klinik und Öffentlichkeit für Kranke und Gesunde gebraucht wurde«, sagt der Hamburger Psychiater Lammers. »Ich würde mir für den Narzissmus-Begriff genau das wünschen, was mit der Hysterie passiert ist: seine Abschaffung und Zerlegung in verschiedene psychopathologische Phänomene.«

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  • Quellen

Caligor, E., Levy, K., Yeomans, F.: Narcisstic Personality Disorder: Diagnostic and Clinical Challenges. In: Am J Psychiatry 172:5, S. 415–422, 2015

Hamann, Hans-Peter: Narzisstische Persönlichkeitsstörungen – ein Überblick. In: Narzissmus, Grundlagen – Störungsbilder – Therapie, S. 3–36, 2. Nachdruck 2010

Lammers, C.-H., Mestel, R.:Gibt es eine Epidemie des Narzissmus? In: Persönlichkeitsstörungen, Theorie und Therapie, 19, S. 127–136, 2015

Roepke, S., Vater, A.: Narcisstic Personality Disorder: An Integrative Review of Recent Empirical Data and Current Definitions. In: Current Psychiatry Reports 16:445, 2014

Skodol, A. et al.: Narcisstic Personality Disorder in DSM-5. In: Personality Disorders: Theory, Research, and Treatment Vol.5, No.4, S. 422–427, 2014

Torgersen, Svenn: Genetische Aspekte Narzisstischer Persönlichkeitsstörungen. In: Narzissmus, Grundlagen – Störungsbilder – Therapie, S. 432–436, 2. Nachdruck 2010

Twenge, J., Campbell, K.: The Narcisstic Epidemic, 2009

Vater, A. et al.: Narzisstische Persönlichkeitsstörung. Forschung, Diagnose und Psychotherapie. In: Psychotherapeut 58, S. 599–615, 2013

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