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Menschenkenntnis: Selbstwertgefühl setzt der Empathie Grenzen

Ein gesundes Selbstwertgefühl ist eine gute Sache. Es trübt aber den Blick für die emotionale Lage von Menschen, die nicht damit gesegnet sind.
Zwei Hände halten tröstend zwei andere Hände

Schon länger weiß man: Es ist schwer, sich in andere einzufühlen, die weiter unten in der Hierarchie stehen, umgekehrt klappt das aber sehr wohl. Dieses Phänomen hat ein US-Forschungsteam jetzt für ein weiteres Merkmal nachgewiesen: je stärker das Selbstwertgefühl, desto schwächer das Einfühlungsvermögen in andere, die sich selbst weniger positiv sehen. Umgekehrt ist es bei negativem Selbstbild jedoch nicht schwer, sich in Menschen mit positivem Selbstbild hineinzuversetzen, wie die Gruppe um den Psychologen William Swann von der University of Texas in Austin in einer Versuchsreihe zeigte.

In einem Experiment sollten Studierende beurteilen, für wie plausibel sie eine Fallgeschichte hielten. Diese handelte von einer Person mit starkem oder aber mit schwachem Selbstwertgefühl, die sich einen Chef oder einen Mitbewohner aussuchen durfte. Würde die Person eher jemanden bevorzugen, der sie positiv oder der sie negativ beurteilt? Letzteres hielten die Studierenden im Ganzen für unwahrscheinlich, und das umso mehr, je stärker ihr Selbstwertgefühl war. Studierende mit vergleichsweise schwachem Selbstwertgefühl konnten sich das schon eher vorstellen.

Das Experiment wiederholten Swann und sein Team noch in verschiedenen Varianten, mit dem gleichen Ergebnis: Je besser das eigene Selbstbild, desto unplausibler erschien es, dass jemand ein Negativurteil bevorzugen könnte. Selbst bei Studierenden in Psychotherapieausbildung stand das eigene Selbstwertgefühl der Einsicht im Weg.

Tatsächlich wollen Menschen unter bestimmten Bedingungen lieber etwas Negatives über sich hören – sofern es einen zentralen Teil ihres negativen Selbstbilds bestätigt. Das jedenfalls besagt die bald 40 Jahre alte »self-verification theory« (in etwa: Selbstbestätigungstheorie) von William Swann, die er und andere Forschende im Lauf der Zeit mehrfach belegt haben. Zwar würden alle Menschen gerne ihr positives Selbstbild bestätigt sehen, erklärt der Sozialpsychologe. Aber für ein negatives Selbstbild suchten sie eher das dazu passende negative Feedback, denn Selbstbestätigung lasse die Welt verstehbarer und vorhersagbarer erscheinen.

Viele Wissenschaftler würden noch heute an der »self-verification theory« zweifeln, berichten die Autoren. Als Swann 1984 seine Forschung in einem Vortrag schilderte, habe ihm sogar der bekannte Emotionspsychologe Stanley Schachter widersprochen: »Jeder weiß doch, dass alle Menschen geliebt und geschätzt werden wollen!« Das sei zwar grundsätzlich richtig, räumen Swann und seine Koautoren ein. Doch Menschen wollten eben nicht einfach nur positiv beurteilt, sondern so wahrgenommen und verstanden werden, wie sie sich selbst sehen – selbst wenn es sich um negative Facetten der eigenen Person handelt.

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