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Selektion und Evolution: Experiment bestätigt Lehrbuchbeispiel der Evolution

Die Schulbücher zur Evolutionstheorie müssen doch nicht umgeschrieben werden: Ein längst überfälliges Experiment belegt endlich eine wohlbekannte Theorie über Birkenspanner.
Sammlung von Birkenspanner-Farbvarianten

Eines der berühmtesten Lehrbuchbeispiele für das Wirken der Evolution behandelt den Industriemelanismus. Beschrieben wird hier, wie sich die Population etwa von Faltern äußerlich verändert, sobald die sich ebenfalls verändernden Umweltbedingungen das unterstützen. Diese Theorie ist längst etabliert, war aber über Jahrzehnte Anlass für einen wissenschaftlichen Disput über die eigentlichen Hintergründe des Geschehens. Grund genug, das Thema auch mit modernen Methoden noch einmal zu beleuchten, meinten daher Forscher um Martin Stevens von der University of Exeter. Mit Erfolg, so die Wissenschaftler im Fachblatt »Communications Biology«.

Das Team hatte sich des klassischen Paradeexempels des auch bei anderen Arten vorkommenden Industriemelanismus angenommen, der Farbgebung der Birkenspanner (Biston betularia). Die vorherrschende Farbe der Tiere hatte sich in England vom Beginn des 19. Jahrhunderts über die zunehmende Industrialisierung hinweg allmählich verändert: Gab es zunächst fast nur helle Exemplare, so dominierten nach einigen Jahrzehnten die dunklen Falter. Als Ursache galt schon bald die zunehmende Umweltverschmutzung: Sie sorgt dafür, dass immer weniger Flechten an Bäumen überlebten, was der Theorie nach dazu führte, dass die nur auf Flechten gut getarnten hellen Spannervarianten häufiger von Vögeln aufgespürt und gefressen wurden als die dunklen. Der Selektionsvorteil der dunklen Spanner veränderte somit die Mischung der Population.

Gut getarnt | Die im Experiment getesteten Birkenspanner sind für Mensch – und Vogel – nur schwer zu erkennen. Helle Varianten haben auf Flechten eine größere Überlebenschance.

Tatsächlich sind die hellen Tiere auf flechtenüberwucherten Bäumen aus Sicht des Menschen perfekt getarnt. Das, so Stevens' Team, gilt womöglich aber nur für menschliche Augen – denn immerhin können viele Vögel zum Beispiel ultraviolette Wellenlängen erkennen und ein größeres Farbspektrum sehen als der Mensch, so dass der Tarntrick der Falter von hungrigen Vögeln vielleicht leichter durchschaut wird als vom Menschen. Dies würde dann alternativen Erklärungen für den Erfolg der dunklen Spanner im Lauf der Industrialisierung Aufschub geben. Seit Langem diskutiert man beispielsweise, dass auch eine genetisch bedingte geringere Empfindlichkeit von rezessiven »Schwärzling«-Raupen gegenüber dem Schwefeldioxid der verschmutzten Luft ihre Verbreitung begünstigt hat, bis in den Industriegebieten der Grad der Luftverschmutzung wieder stark zurückging und die hellen Formen wieder zunahmen.

Stevens und Kollegen untersuchten daher nun mit digitalen Bildanalyseverfahren und Experimenten in freier Wildbahn, wie oft Vögel wirklich helle und dunkle Birkenspanner auf hellen und dunklen Oberflächen erkennen. Als Vorlage dienten ihnen dabei unter anderem Falterdummys sowie die über Jahrzehnte hinweg gesammelten Falterexemplare aus der Kollektion des Schmetterlingsforschers Bernard Kettlewell, der die Theorie zum Industriemelanismus in den 1950er Jahren untersucht und mit formuliert hat. Am Ende stand ein eindeutiges Ergebnis: Helle Falter auf Flechten sind auch für hungrige Vögel schwer zu erkennen – und hatten im Test eine um 21 Prozent höhere Überlebenschance als dunkle Artgenossen. Eine »entscheidende Stütze für dieses berühmte Lehrbuchbeispiel natürlicher Selektionsprozesse«, freut sich Stevens.

Zu den Akten gelegt ist das Dauerbrenner-Thema damit aber sicher nicht: Seit vielen Jahren bezweifeln Forscher aus gutem Grund, dass in freier Wildbahn überhaupt entscheidend ist, ob die Falter für Vögel (und Menschen) gut oder schlecht auf Baumstämmen zu erkennen sind. Denn tatsächlich halten sich Spanner tagsüber kaum auf der Rinde von Baumstämmen auf, sondern verstecken sich unter kleinen Zweigen und Laub. Die neuen Ergebnisse zeigen demnach ein eindeutiges und erwartbares Ergebnis – sie berücksichtigen aber womöglich nicht wichtige ökologische Gegebenheiten. Derselbe Kritikpunkt war auch schon gegen ältere Studien und Dokumentationen erhoben worden, die sich seit den späten 1950ern des Themas angenommen haben.

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