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Serendipität: Wie wir unserem Glück auf die Sprünge helfen

Serendipität heißt, Bedeutsames zu entdecken, ohne dass man es darauf anlegt. Sind manche Menschen besonders talentiert darin, ihr Glück zu bezirzen?
Freude

Vor einiger Zeit blätterte ich auf einer Fahrt im ICE im »mobil«-Magazin der Bahn. Da fiel mein Blick auf eine Anzeige: Ein Verlag warb in Pas­telltönen für Carly Phillips’ neues Werk »Ein Kuss zu viel«. Neben dem Buchcover prangten drei Wörter: »Sexy, spannend, Serendipity«. Mal abgesehen davon, dass diese Reihung grammatisch gewagt ist – wer weiß eigentlich, was »Serendipity« genau bedeutet?

Spätestens seit der gleichnamigen Hollywood-Liebes­komödie (deutscher Titel: »Weil es Dich gibt«) mit John Cusack und Kate Beckinsale in den Hauptrollen ist dieser Ausdruck zu einem Mode­begriff geworden, der öfter verwendet als verstanden wird. Man bezeichnet damit großzügig fast alle Arten von Glücksfällen – wie man die große Liebe seines Lebens traf, den lang ersehnten Traumjob fand oder beim Stadtbummel dieses superschicke Top entdeckte.

Dabei hat Serendipität, so die deutsche Lehnübersetzung, einen viel engeren Sinn: Sie bedeutet, Wichtiges zu finden, was man gerade nicht suchte. Häufig liegt dem ein Scheitern zu Grunde. Der eigentliche Plan geht schief, doch dafür wird man mit anderem belohnt. Laut einem Bonmot ist das, als würde man in einen Heuhaufen springen, um die berühmte Nadel zu finden, und mit der Tochter (oder dem Sohn) des Bauern herauskriechen.

Mehr noch als das Ereignis beschreibt das Wort die Fähigkeit, das Glück zu bezirzen. Der Chemiker und Mikrobiologe Louis Pasteur (1822–1895) sprach vom »vorbereiteten Geist«, der für unverhoffte Entdeckun­gen empfänglich sei, und verwies auf die Fülle von Zufallscoups aus Wissenschaft und Technik. Der niederländische »Serendipitologe« Pek Van Andel sammelte mehr als 1000 Beispiele – von Kolumbus’ Entdeckung Amerikas bis zur Erfindung des World Wide Web. Sie belegen nicht nur, wie unvorhersehbar die meisten Durchbrüche waren; oft wusste man mit ihnen zunächst auch nichts anzufangen. Welches Potenzial darin steckte, wurde erst später klar. Das haben Tesafilm, Viagra und das Internet gemeinsam.

Wie sehr der Zufall Forschern unter die Arme greift, bewies der kanadische Psychologe Kevin Dunbar, als er ein Jahr lang die Arbeit in vier molekularbiologischen Labors begleitete und akribisch dokumentierte. Die Gespräche in den Forscherteams drehten sich mehr als viermal so häufig um unerwartete Resultate als darum, womit gerechnet worden war. Und die Mehrzahl der ausgewerteten Versuchsergebnisse widersprach den Hypothesen. Dunbar untermauerte damit die Sicht­weise des US-amerikanischen Soziologen Robert K. Merton (1910–2003), der schon in den 1940er Jahren Wissenschaft als ein System beschrieb, welches bedeutsame Zufälle provoziert. Garant dafür sei Experimentierfreude gepaart mit genauer Beobachtung und der Bereitschaft, auch vermeintliche Fehlschläge auszuloten.

Über das Glück stolpern

Können wir uns davon im privaten Alltag eine Scheibe abschneiden? Zwar sind die meisten Menschen weder Erfinder noch Forscher – doch bei dem Versuch, Glück und Erfolg im Leben zu finden, sind wir ebenfalls auf Serendipität angewiesen. Denn statt zielgerichtet von A nach B zu gelangen, stoßen wir oft auf Dinge, die sich als schicksalhaft erweisen, ohne dass wir es darauf anlegten. Überlegen Sie einmal selbst: Was ist Ihnen an besonders Bedeutsamem widerfahren? Trafen Sie einen Menschen, der Ihrem Leben eine neue Wendung gab, oder stolperten Sie über eine Sache, die Sie auf eine zündende Idee brachte? Waren Sie darauf aus gewesen, oder traf es Sie unerwartet? Und wie lange hat es gedauert, bis Ihnen aufging: Mensch, was für ein Glück das war?

»Wir beeinflussen unser Schicksal zu einem gewissen Grad durchaus – kraft unserer Überzeugungen!«Albert Bandura, Psychologe

Welche Macht der Zufall über unser Wohl und Wehe hat, verblüfft vor allem im Zwischenmenschlichen. Ein Team um den Sozialpsychologen Mitja Back untersuchte vor Jahren, wie Freundschaften entstehen. Die Forscher verteilten Studienanfänger per Los in einem Hörsaal. Dann stellte sich jeder »Ersti« kurz vor, und die anderen gaben in einem Fragebogen an, wie sympathisch sie die jeweilige Person fanden. Am Ende hatte so jeder jeden bewertet. Ein Jahr später wurde geschaut, wer miteinander befreundet war. Dies hing weit weniger von den Sympathiewerten ab als von der Platzierung! Wer zufällig nebeneinandergesessen hatte, war im folgenden Jahr besonders »dicke«.

Doch lässt sich das Schicksal durch die eigene Geisteshaltung wirklich beeinflussen? Und wenn ja, wie? Das erkunden heute Serendipitätsforscher verschiede­ner Disziplinen, darunter Psychologen, Soziologen und Verhaltensökonomen, aber auch Medien- und IT-Experten. In einer Literaturübersicht von 2015 resümiert der Informationswissenschaftler Naresh Agarwal vom Simmons College in Boston (USA), Serendipität basiere vor allem auf zwei Faktoren: »preparedness« und »noticing« – also für den Wink des Zufalls bereit zu sein und ihn im richtigen Augenblick zu bemerken.

Die Auslöser seien in der Regel eher unspektakulär, eine beiläufige Beobachtung oder eine kleine Anomalie, auf die die so genannte Inkubation folge. Diese Phase der unbewussten Verarbeitung führe schließlich – und zwar oft in ganz unerwarteten Momenten – zu einer neuen Erkenntnis.

Genau das erleichtern offenbar bestimmte Charakter­eigenschaften und Verhaltensweisen, glaubt Agarwals Fachkollegin Sanda Erdelez von der University of Missouri. Sie interviewte Menschen mit unterschiedlichen sozialen Hintergründen über die unverhofften Glücksfälle ihres Lebens. Jene Zeitgenossen, die von vielen solcher guten Fügungen berichteten, taufte sie »Super-­Encounterer« (von englisch: to encounter = begegnen, auf etwas stoßen). Sie kennzeichneten vor allem drei Dinge: Sie lassen sich leicht auf Abwege führen, entscheiden schnell, was sie interessiert und was nicht, und sie haben keine Angst zu scheitern. Neugier, Flexibilität und Frustrationstoleranz sind demnach die Kernkompetenzen der Glückspilze.

Zahl der Erwähnungen des Wortes "serendipity" in englischsprachigen Zeitungen und Zeitschriften

Jannica Heinström von der Universität in Tampere (Finnland) untersuchte das beiläufige Entdecken von Informationen im akademischen Bereich. Fast 900 Studierende und Masterabsolventen befragte sie zu deren Persönlichkeitszügen sowie zur bevorzugten Form der Informationsrecherche. Hier zeigte sich die besondere Bedeutung positiver Emotio­nen: Jene Teilnehmer, die im Allgemeinen gut gelaunt und ausgeglichen waren, ließen sich deutlich eher im Meer der Möglichkeiten treiben und wandten den Blick vom gesetzten Ziel ab.

Das schnelle Scannen potenziell nützlicher Informationsquellen bezeichnet Heinström als »fast surfing«, zu Deutsch etwa schnelles Absuchen. Anders als die detaillierte Analyse (deep diving; tiefes Eintauchen) fördere es Serendipität, frei nach der Devise: Ein umtriebiger Geist wird öfter fündig.

Resultate wie diese sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Serendipitätsforscher vor einem Problem stehen: Unabsichtliche Glücksfälle sind nicht nur selten, sondern auch kaum unter kontrollierten Bedingungen im Labor herbeizuführen. Wie die Psychologen Allen Foster und David Ellis von der Universität im walisi­schen Aberystwyth in einer Übersicht von 2014 einräumen, sind daher meist »weiche« Methoden wie die Auswertung historischer Berichte, Tagebuchstudien oder Interviews im Einsatz. Man ist eben auf die Auskünfte von Menschen angewiesen, die serendipitäre Erfahrun­gen schildern.

Oder ist Serendipität nur ein Denkfehler?

Solche Erinnerungen können allerdings verzerrt sein. Wegen einer typischen Denkfalle, des »fundamentalen Attributionsfehlers«, halten wir unseren persönlichen Einfluss allgemein für größer als den der Umstände: Wir schreiben das Geschehen um uns herum mit Vorliebe dem eigenen Einfluss zu; und wenn wir nichts dafür können, muss wenigstens ein tieferer Sinn dahinterstecken, dass wir den Lebenspartner trafen oder den Traumjob fanden.

Ist Serendipität nichts weiter als der Versuch, dem blinden Schicksal System anzudichten und sich einzubilden, man könne ihm nachhelfen? Albert Bandura, einer der wichtigsten Psychologen des 20. Jahrhunderts, entwickelte bereits in den 1970er Jahren eine Theorie, die einen Mittelweg zwischen purem Zufall und Aberglauben aufzeigt. Sie besagt: Wir beeinflussen unser Schicksal zu einem gewissen Grad durchaus – kraft unserer Überzeugungen! Bandura prägte das Konzept der Selbstwirksamkeitserwartung. Demnach ist unser Glaube daran, dass wir den Lauf der Dinge in der Hand haben, eine wichtige mentale Voreinstellung. Sie ermögliche es uns, mit der Umwelt zu interagieren und Herausforderungen anzugehen.

Neugier, Flexibilität und Frustrationstoleranz – das sind die Kernkompetenzen der Glückspilze

Dazu passt eine weitere Beobachtung von Sanda Erdelez: »Super-Encounterer bauen auf ihr Glück.« Sie vertrauen auf ihr Händchen und fürchten sich nicht davor, in eine Sackgasse zu geraten. Diese Gelassenheit, so Erdelez, ermögliche es ihnen, kreative Abwege zu beschreiten. Mit anderen Worten: Super-Encounterer verfügen über eine starke Selbstwirksamkeitserwartung.

Auch der britische Psychologe Richard Wiseman von der University of Hertfordshire ist überzeugt, dass die Persönlichkeit das Pendel des Zufalls auszulenken vermag. »Glücksfälle resultieren aus einer Konstellation persönlicher Eigenschaften«, erklärt er. »Durch ihre Art zu denken und zu handeln steigern manche Menschen die Chance, außerordentliche Gelegenheiten in ihrem Leben zu schaffen, zu erkennen und zu ergreifen«.

Im Rahmen seines von der BBC gesponserten »Luck Project« suchte Wiseman Mitte der 1990er Jahre per Zeitungsannonce Menschen, die sich selbst für ausgesprochene Glückspilze beziehungsweise Pechvögel hielten. Mehr als 700 Teilnehmer kamen so zusammen. Der Forscher vermaß dann bei einem Teil von ihnen mit Hilfe des Fragebogens NEO-FFI die fünf zentralen Dimensionen der Persönlichkeit: Extraversion, Neurotizismus, Offenheit für neue Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit sowie Verträglichkeit.

Hinsichtlich der zwei letztgenannten Eigenschaften unterschieden sich beide Gruppen kaum; jedoch waren die Sonntagskinder deutlich extravertierter, offener und weniger neurotisch als die selbst erklärten Pechvögel. Wiseman schlussfolgerte: Der Zufall begünstigt jene, die ein großes soziales Netzwerk haben, dem Glück ein breites Betätigungsfeld eröffnen und entspannt genug sind, um eine sich bietende Chance auch zu bemerken. Das habe nichts mit Magie zu tun, sondern mit ­einer ganz irdischen, selbsterfüllenden Prophezeiung: Wer an sein Glück glaubt, dem ist es eher hold.

Das Gefühl, auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen, ist allerdings nicht unbedingt ein sicheres Maß dafür, ob einem wirklich mehr Gutes im Leben widerfährt. So hängt die bloße Überzeugung beispielsweise auch vom Geschlecht und der Jahreszeit ihrer Geburt ab, wie Wiseman 2005 in einer Onlinebefragung mit fast 30 000 Teilnehmern herausfand. Männer schreiben sich selbst im Schnitt mehr Glück zu, als Frauen dies tun (womöglich verdrängen Männer ihr Pech effektiver). Und Sommerkinder halten sich ebenfalls eher für vom Schicksal verwöhnt als im Winter Geborene.

Glück hin oder her – offenbar spielt das Selbstbild eine Rolle dabei, wie wir mit dem, was uns geschieht, umgehen. So lässt uns eine optimistische Sichtweise sogar Rückschläge positiv deuten: Geht einmal etwas daneben, fällt es den Frohgemuten leichter, es abzuhaken oder gar neuen Antrieb daraus zu ziehen. Wer hingegen meint, er ziehe das Unglück magisch an, provoziert damit oft genau die Niederlagen, vor denen er sich fürchtet; was wiederum das angeknackste Selbstwertgefühl bestätigt!

Die eigenen Vorurteile stehen uns im Weg

Die Psychologin Carol Dweck von der Stanford University wies in zahlreichen Studi­en auf die Effekte negativer Stereotype hin. Ein verbreitetes Vorurteil besagt etwa, Frauen seien mathematisch weniger begabt als Männer. Weckt man solche Ideen bei Probandinnen (etwa indem man ihnen einen fingierten Fachartikel über die »Zahlenphobie« des weiblichen Gehirns zu lesen gibt), so schneiden sie beim anschließenden Rechentest schlechter ab als ohne eine solche Vorbereitung.

Super-Encounterer bauen auf ihr Glück

Was uns zu der Frage bringt: Wie lässt sich Seren­dipität fördern? Um das zu beantworten, müsste man zunächst einen Weg finden, die Bedingungen, unter denen das Phänomen auftritt, verlässlich zu messen. Davon sind die Wissenschaftler aber noch ein gutes Stück entfernt. So viel ist unter den meisten allerdings Konsens: Wer mutig ausprobiert, statt aus Angst vor Fehlern passiv zu bleiben, und wer genau hinschaut, statt das vermeintlich Belanglose vom Tisch zu wischen, der macht einen Schritt in die richtige Richtung.

»Die Neigung des Menschen, die kleinen Dinge für wichtig zu halten, hat sehr viel Großes hervorgebracht«, schrieb der Physiker und Philosoph Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799). Moderner formuliert es der Psychologe Daniel Goleman: »Ein aufgeschlossenes Bewusstsein schafft eine mentale Plattform für kreative Durchbrüche und unerwartete Einsichten.« Wer dies beherzigt, kann das Schicksal zwar nicht zwingen – aber ein wenig bezirzen. Das gilt besonders in einer Zeit, in der die Menge ­sowie die Vernetzung verfügbarer Informationen durch elektronische Medien rasant wachsen. Das Internet ist eine potenziell unerschöpfliche Quelle für Glücksfunde. Ein mit Milliarden Querverweisen durchwobener Hypertext eignet sich bestens dafür zu entdecken, wonach man eben nicht suchte.

Doch Onlinegiganten wie Facebook, Google oder Amazon werten das Klickverhalten der User im großen Stil aus und präsentieren ihnen oft nur das, was für sie scheinbar relevant ist. Das Internet gibt es insofern schon lange nicht mehr, sondern nur durch verborgene Algorithmen immer wieder neu und blitzschnell erstellte Ausschnitte daraus. Wer aber stets das eigene Suchverhalten gespiegelt bekommt, läuft Gefahr, in einer »Echokammer« gefangen zu bleiben. Der US-amerikanische Internetkritiker Eli Pariser prägte dafür 2011 den Begriff der Filterblase.

Eine 2016 veröffentlichte Studie italienischer Wissenschaftler ging diesem Phänomen nach. Das Team um Michela Del Vicario vom Istituto Alti Studi in Lucca verglich die Informationsströme in 67 Facebookgruppen. Gut die Hälfte davon waren seriöse Wissenschaftsforen, die anderen hingegen verbreiteten obskure Ideen und Verschwörungstheorien. Über fünf Jahre wurde beobachtet, wie sich die Posts in diesen Subnetzwerken sowie über deren Grenzen hinweg verbreiteten. Ergebnis: Mythen und Legenden zeigten eine viel längere Halbwertpß0üszeit als seriös belegte Fakten. Wie kommt das?

Gegen den Informationsstrom schwimmen? Online-Algorithmen erschweren es

Normalerweise versanden Nachrichten im Netz bereits innerhalb weniger Stunden; so auch die Neuigkeiten aus der Forschung. Dagegen wurden gezielt gestreute Fehlinformationen wie die Mär, die EU plane den priva­ten Gebrauch von Heilkräutern zu verbieten, über Jahre hinweg immer wieder geteilt, kommentiert und verlinkt. Laut den italienischen Forschern liegt das unter anderem an den verdeckten Auswahlalgorithmen von Suchmaschinen und sozialen Netzwerken. Sie erschweren es den Nutzern, gegen den Informationsstrom zu schwimmen und auf alternative Ansichten zu stoßen.

Nichtsdestoweniger gilt das Internet vielen nach wie vor als »Serendipitätsmaschine«. Hypertextlinks sorgen dafür, dass man binnen Sekunden an Wissen herankommt, das einst mühsam zusammengesucht werden musste. Unerwartete Bezüge lassen sich so viel leichter herstellen und Spuren einfacher nachverfolgen als mit traditionellen Medien. Klar ist allerdings auch: Mit der ungefilterten Masse der Onlineangebote wären wir vollkommen überfordert. Nicht umsonst bieten erfolgreiche Websites und Apps meist ganz einfache, überschaubare Funktionen, die die Komplexität des Internets extrem reduzieren. Eine große Herausforderung der digitalen Zukunft besteht darin, sich angesichts der vielen virtuellen Scheuklappen nicht für Ziele einspannen zu lassen, die man nicht anvisiert.

Ende 2015 warnten neun Autoren um den Sozialforscher Dirk Helbing von der Eidgenössischen Techni­schen Hochschule (ETH) in Zürich in einem Manifest vor den Gefahren der digitalen Revolution. Die zunehmende Automatisierung durch intelligente Datenana­lysen (Stichwort »Big Data«) drohe Wirtschaft, Politik und Öffentlichkeit, ja selbst persönliche Lebensentscheidungen zu manipulieren. Das höhle Freiheit und Demokratie aus. Um den »verdeckten Paternalismus« abzuwehren, müssten das Recht auf Privatsphäre und informationelle Selbstbestimmung gestärkt sowie die Auswahlmechanismen im Netz offengelegt werden. Denn nur mit Transparenz könne man verhindern, dass wenige Akteure online das Wissen steuern und verwalten, das letztlich allen gehört.

Andere Forscher, darunter Sanda Erdelez, sehen das weniger kritisch. Das Netz strotze nach wie vor von Informationen, die frei verfügbar und hochgradig vernetzt seien. Trotz der Dominanz von Google, Facebook und Co sei niemand gefangen in vorgegebenen Datenströmen – im Gegenteil, gerade im digitalen Zeitalter habe Serendipität Hochkonjunktur.

»Viele der wichtigsten Wegscheiden unseres Lebens sind das Resultat trivialer Zufälle«, schrieb Albert Bandura lange vor Erfindung des Internets. Noch heute gilt: Welche Zufälle passieren, liegt zwar nicht in unserer Hand, aber dass man sie nutzt, kann man sehr wohl fördern. Neugier, Offenheit und Vertrauen in das eigene Glück sind die besten Voraussetzungen dafür.

Serendipität – ein märchenhaftes Konzept macht Karriere

Selten lässt sich die Geburtsstunde eines Begriffs so genau datieren: Am 28. Januar 1754 schrieb Sir Horace Walpole, der 4. Earl of Orford, einen Brief an Horace Mann. Walpole schilderte darin eine Entdeckung, die er kurz zuvor gemacht hatte: Beim Stöbern in seiner Bibliothek war er auf ein Wappen gestoßen, das auch ein Renaissancegemälde zierte, welches ihm sein Freund aus Florenz zugesandt hatte. (Horace Mann hatte dort lange als britischer Botschafter beim Groß­herzog der Toskana gedient.)

Vor lauter Begeisterung über seinen Fund bezeichnet Walpole ihn in seinem Schreiben als einen Fall von »serendipity« – ein Wort, das er kurzerhand selbst erfand. Denn wie es der Zufall wollte, erinnerte ihn die Sache an ein Märchen, das er als Kind gelesen hatte: »Die drei Prinzen von Serendip«.

Serendip ist ein alter Sanskrit-Name für Ceylon, das heutige Sri Lanka. Dort spielt die Prinzen­saga, die Walpole beim Verfassen seines Briefs in den Sinn kam. Sie handelt von den Söhnen des weisen Königs Jafer, die in die Fremde gehen und allerlei kuriose Schlüsse aus Erlebnissen entlang des Wegs ziehen. Die Moral von der Geschichte: Mit der nötigen Beobachtungsgabe erkennt man Dinge, die anderen verborgen ­bleiben – und hilft damit seinem Glück auf die Sprünge.

Walpoles Wortschöpfung machte freilich erst viel später Karriere: Nach einer Auswertung des US-Soziologen Robert K. Merton brachte es das Wort »seren­dipity« in den 1960er Jahren auf ganze zwei Erwähnungen in der angelsächsischen Presse. In den 1990er Jahren waren es bereits mehr als 13 000 – Tendenz steigend.

Heute ist Serendipität nicht nur ein philosophisch viel beachtetes Konzept. Es wird zuneh­mend auch von empirisch arbeitenden Forschern in Feld- und Laborstudien untersucht. Laut Informations­wissenschaftlern dürfte im Zuge der Digitalisierung das beiläufige, unbeabsichtigte Aufschnappen von Begebenheiten und Fakten, die sich im Nachhinein als bedeutsam erweisen, immer wichtiger werden. Fachleute sprechen hierbei von »opportunistic information acquisition« (OIA) oder »information encountering« (IE).

Quelle: Merton, R. K., Barber, E.: The Travels and Adventures of Serendipity: A Study in Sociological Semantics and the Sociology of Science. Princeton University Press, 2006

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  • Quellen

Agarwal, N. K.: Towards a Definition of Serendipity in Information Behaviour. In: Information Research 20, 675, 2015

Del Vicario, M. et al.: The Spreading of Misinformation online. In: Proceedings of the National Academy of Sciences USA 113, S. 554–559, 2016

Dunbar, K.: How Scientists Think: Online Creativity and Conceptual Change in Science. In: Ward, T. B., Smith, S. M. Vaid, J. (Hrsg.): Conceptual Structures and Processes: Emergence, Dicovery, and Change. Washington D. C.: APA Press, 1997

Heinström, Jannica: Psychological factors behind incidental information acquisition. In: Library and Information Science 28, S. 579–594, 2006

Heinström, J.: From fear to flow: Personality and information interaction. Chandros, Oxfordshire 2010

Helbing, D. et al.: Digitale Demokratie statt Datendiktatur: Big Data, Nudging, Verhaltenssteuerung. 2015

Johnson, S.: Woher die guten Ideen kommen. Eine kurze Geschichte der Innovation. Bad Vilbel: Scoventa, 2013

Merton, R. K., Barber, E.: The Travels and Adventures of Serendipity. A Study in Sociological Semantics and the Sociology of Science. Princeton University Press, 2003

Van Andel, P.: Anatomy of the Unsought Finding. Serendipity: Origin, History, Domains, Traditions, Appearances, Patterns and Programmability. In: British Journal for the Philosophy of Science 45 (2), S. 631–648, 1994

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