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Tierwanderungen: Serengetis Tierwelt weiß nicht mehr wohin

Die berühmte Tierwanderung in Ostafrika ist in Gefahr. Jedes Jahr folgen rund zwei Millionen Huftiere, weit über die Hälfe davon Gnus, dem Regen von der südlichen Serengeti nordwärts bis in den Masai-Mara-Park. Doch verändertes Wetter, invasive Pflanzen und vor allem der Mensch bringen das Ritual nun aus dem Gleichgewicht.
Gnus überqueren den Mara-Fluss in der Serengeti

Für die Safaricamps im Masai-Mara-Park war es eine freudige Überraschung. Im Juli 2017 erreichten hunderttausende Gnus, Zebras und Thomson-Gazellen das bei Touristen so populäre Naturschutzgebiet, das die kenianische Seite der Serengeti-Savanne bildet und sich über rund 1500 Quadratkilometer erstreckt. Mit den tierischen Gästen von der berühmten Huftierwanderung im Osten Afrikas hatte man eigentlich erst fast zwei Monate später gerechnet. Schnell machte diese Neuigkeit bei Reiseveranstaltern die Runde, und schon bald war fast jedes Bett in den Luxuscamps des Nationalparks ausgebucht. »So etwas haben wir bislang noch nie erlebt«, sagt Nicholas Murero, der Koordinator des grenzübergreifenden Serengeti-Mara-Ökosystems.

Doch der wissenschaftliche Hintergrund dieser Überraschung gibt nicht jedem Grund zur Freude. Im Gegenteil: Ökologen sehen im veränderten Migrationsverhalten der Tiere ein weiteres Indiz für etwas, was sie schon seit einer Weile befürchten: Das empfindliche Gleichgewicht dieses wichtigen Ökosystems könnte instabil werden. »Die drei derzeit größten Probleme für das Serengeti-Mara-Ökosystem sind Bevölkerungswachstum der Menschen, Klimawandel und veränderte Landnutzung«, fasst Eivin Røskaft zusammen, Biologe bei African Bio-Services, einem von der Europäischen Union geförderten Projekt, das die Gefahren für das ostafrikanische Ökosystem untersucht.

Auf der tansanischen Seite der Serengeti erläutert der Chef-Wildhüter des dortigen, knapp 15 000 Quadratkilometer großen Nationalparks, William Mwakilema, was in dem Jahr anders war: »Der Süden und Westen der Serengeti waren von der schweren Dürre hier in Ostafrika am stärksten betroffen.« Die Tiere seien schlichtweg dem Regen gefolgt. »Deswegen sind Gnus, Zebras und Gazellen im Sommer 2017 sehr schnell in den Norden und den Masai Mara gezogen. Normalerweise bleiben sie bis August in der westlichen Serengeti und erreichen den Norden erst Ende August«, ergänzt der Ranger.

Monate der Dürre als Auslöser

Die Serengeti-Mara-Migration zieht jährlich bis zu 100 000 Schaulustige aus aller Welt an. Angeführt von über anderthalb Millionen Gnus verlassen die Tiere normalerweise im Juli den Süden der Serengeti, wenn die Grasflächen dort knapper werden. Dann legen sie rund 800 Kilometer zurück, um im August in Kenia anzukommen. Später im Jahr geht es dann in den Süden zurück. Die gesamte Migrationsschleife umfasst ein Gebiet von fast 26 000 Quadratkilometern. Das Ökosystem dieser Region wurde von dieser Tierwanderung über Jahrhunderte nachhaltig geprägt. Die grasenden Gnus sorgen dafür, dass die Halme jung, gesund und einfach verdaubar bleiben. Die trampelnden Hufe der Tiere halten die Erde weich, ihre Ausscheidungen bringen dem Boden Nährstoffe. Gebiete, die von den Migranten besucht werden, besitzen nachweislich mehr Pflanzenwuchs. Im Schutz der gewaltigen Gnu-Herde ziehen mehr als 200 000 Zebras und rund eine halbe Million Thomson-Gazellen. Die drei Arten haben es gelernt, die Ressourcen geschickt zu teilen, fressen jeweils sogar andere Teile der Gräser.

»So etwas haben wir bislang noch nie erlebt«Nicholas Murero

Doch all diese Faktoren kommen nun in Bewegung. »Unsere Forschung hat gezeigt, dass Klimawandel einen starken Einfluss auf die Zukunft solcher Ökosysteme haben wird, besonders weil sich der Rhythmus der Regenzeiten verändert«, betont die Ökologin Julie Aleman von der Yale University in den USA.

Manche Auswirkungen lassen sich bereits erkennen – etwa beim Timing der jährlichen Reproduktion der Gnus, die üblicherweise im Februar eine weitere wichtige Etappe im jährlichen Wanderungsspektakel darstellt. Dazu kommen jedes Jahr bis zu zwei Millionen der Tiere im Süden der Serengeti zusammen, um rund eine halbe Million Kälber zu gebären. Doch nicht in diesem Jahr, denn die Gnus griffen auf einen biologischen Trick zurück, der es ihnen erlaubt, eine Schwangerschaft um bis zu drei Monate hinauszuzögern, wenn die Bedingungen für die Jungtiere zu ungünstig sind. »Dies ist zum ersten Mal passiert, und wir befürchten, dass die steigenden Zahlen von Nutzvieh die Gnus davon abgehalten hat, zum Kalben weiter nach Süden zu ziehen, wo speziell Rinder schon all das Gras gefressen hatten«, berichtet Susuma Kusekwa von Tanzania National Parks. Stattdessen wichen die Tiere in die Zentral-Serengeti aus, die für ihre Zwecke allerdings weniger günstig ist. Immerhin: »Dort gab es Niederschlag und damit weichere Grashalme für die Kälber«, sagt William Mwakilema.

Wichtiges Huftier: Gazellen in Ostafrika | Thomson-Gazellen sind im Serengeti-Ökosystem das zweithäufigste Huftier.

Früher verlässliche Konstanten wie der Zeitpunkt der Migration, die Route oder Geburtsroutinen werden heute schwer berechenbar – und alle Folgen für das komplexe Zusammenspiel des Ökosystems sind kaum vorherzusehen. Weitere Beispiele erläutert Amanda Subalusky, die als Ökologin vom Cary Institute of Ecosystem Studies in den USA die Bewegungsmuster großer Säugetiere in der Mara-Region seit 2008 erforscht. Sie bestätigt: »Die Gnu-Migration beeinflusst jeden einzelnen Bestandteil des Serengeti-Mara-Systems. Veränderungen in der Zeitsequenz dieser Wanderung können eine Vielzahl komplexer Konsequenzen für andere Spezies haben, zum Beispiel Raubtiere oder Pflanzenfresser, die auf den Einfluss der Gnus auf den Graswuchs angewiesen sind.« Da die Migration über eine solch lange Zeit so konstant gewesen sei, prognostiziert Subalusky, dass sich andere Tiere der Veränderung nur schwer werden anpassen können, »besonders wenn man Jahr für Jahr nicht mehr vorhersagen kann, wann die Migration welche Gegenden erreicht«.

Die Nahrungssuche führt Gnus, Zebras und Gazellen nun zudem aus den Naturschutzgebieten heraus – und so wird es für Wilderer einfacher, die Tiere zu jagen. Überdies gefährden die hungrigen Herden aber auch die Anbaugebiete der Landwirte, die zum Schutz der Ernte die Tiere ebenfalls gewaltsam von ihren Feldern abhalten könnten. »Unsere größte Herausforderung im Augenblick ist es, Wilderei im Norden zu verhindern, denn dort tauchen die Gnus sogar auf Kommunalland auf«, bestätigt Mwakilema.

Ausbrechen aus Schutzzonen und Routine

Die in der politisch instabilen Weltregion überall auftauchenden Zäune – von landwirtschaftlichen Abgrenzungen bis hin zu Grenzanlagen – verhindern ohnehin, dass sich die tierischen Migranten auf Wetter und andere Faktoren einstellen und so bewegen können, wie sie es wollen und bräuchten. Die britische Anthropologin Katherine Homewood vom University College London warnte mit ihren Kollegen bereits in Studien von 2001 sowie 2004, dass die Umwandlung von Kommunalland in groß angelegte Agrarflächen mit mechanisierten Anbaumethoden die Bodenqualität verschlechtert und die Weidegebiete für wilde Tiere weiter beschneidet.

Die amerikanische Geografin Jenny Olson hat mit ihren Kollegen eine Karte erstellt, auf der gezeigt wird, wie viel Agrarfläche im Jahr 2040 in Ostafrika benötigt würde, um die dortigen Menschen zu ernähren. Bis dahin wären demnach praktisch alle Naturschutzgebiete von eingezäuntem Farmland umgeben. Die Bevölkerung der Region ist zwischen 1988 und 2008 um 74 Prozent angestiegen – sie könnte sich bis 2050 weiter verdoppeln. »Mit dem Bevölkerungswachstum kommen die Nachfrage nach noch mehr Agrarland, noch mehr Nutzvieh und noch mehr Anbau. Die Verlierer sind dabei die wilden Tiere und die Biodiversität«, gibt Eivin Røskaft zu bedenken. So nehme nach Angaben des Norwegers aus diesen Gründen in Kenia die Wildpopulation bereits rapide ab. Eine neue Gesetzesregelung räumt Landwirten dort nun mehr Optionen ein, ihr Land einzuzäunen. Speziell im Gebiet rund um den Masai-Mara-Park tauchen deswegen immer mehr Zäune auf.

Und der Vormarsch des Menschen endet nicht mit Farmzäunen: Für viele Jahre plante die Regierung Tansanias, eine 50 Kilometer lange Fernstraße mitten durch den Serengeti-Nationalpark zu bauen. Nach heftigen Protesten internationaler Wissenschaftler wurde das Projekt schließlich eingestellt. Dennoch existieren weiterhin Pläne für asphaltierte Straßen entlang der Grenzen des Parks.

Eine nach Expertenmeinung noch größere Gefahr für die Serengeti und seine Tierwanderung wächst auf der kenianischen Seite heran. Dort begann im Juni 2016 der Bau der Itare-Talsperre am nördlichen Rand des Mau-Waldes, Kenias größtem Ursprungsgebiet für Frischwasser, in dem zwölf große Flüsse ihre Quellen haben. Der Staudamm soll 2020 fertig gestellt sein und dann rund 800 000 Kenianer versorgen. Einer der von dem Projekt betroffenen Flüsse ist der Mara, welcher der Serengeti Wasser bringt. »Das ist sozusagen eine schleichende Vergiftung, denn der Damm wird die Biodiversität innerhalb und außerhalb des Mau-Waldes zerstören und damit auch das Serengeti-Mara-Ökosystem gefährden«, sagt Paul Orengoh von RTI International, einer amerikanischen NGO.

»Wir müssen vor allem den Menschen in der Region beibringen, was ihre Präsenz für das Ökosystem bedeutet«Eivin Røskaft

Bereits 2016 erreichte der Wasserausfluss aus dem Mau-Wald ein Rekordtief. Wegen der Dürre könnte der Mara-Fluss, der während der Trockenzeit das normalerweise einzige noch fließende Gewässer in der Serengeti ist, nun auch dann austrocknen. Wenn dies geschehen sollte, könnten laut einer Studie des Ökologen Emmanuel Gereta 30 Prozent der migrierenden Gnus innerhalb von nur zwei Wochen zu Tode kommen.

Klimawandel und Sekundärfolgen

In einer Studie aus dem Jahr 2016 sagten Klimaforscher um die Italienerin Simone Russo vom Institute for Environmental Protection and Research in Rom voraus, dass die derzeit noch als Anomalien angesehenen Hitzewellen in Ostafrika bis 2040 regelmäßige Erscheinungen sein werden. Wissenschaftler prognostizieren auch, dass mit dem sich so ändernden Wetter in Ostafrika die Dürren dann sporadisch von extremen Regenfällen unterbrochen werden. »In manchen Gegenden kann der Regen sogar zunehmen, in vielen Regionen wird er aber abnehmen, dann aber mit saisonalen schweren Niederschlägen«, sagt Julie Aleman.

Aber auch das stellt eine Problem für die Migration dar. Der ausgetrocknete Mara könnte die plötzlichen Wassermassen nicht absorbieren. Schon in normalen Jahren ist für viele Gnus die Überquerung des Maras eine Todesfalle. Sie ertrinken entweder oder werden von wartenden Krokodilen gerissen. Bei Springfluten und Hochwasser könnte sich die Zahl der toten Gnus drastisch vervielfachen. Wird nun also auch der Wasserstand des Mara wie das Wetter selbst unbeständig, könnte er für die Wanderung zu einem unüberwindlichen Hindernis werden.

Nach Einschätzung von Frederike Otto, der stellvertretenden Direktorin des Environmental Change Institute an der University of Oxford, sind dabei nicht die schweren Dürren das große Problem Ostafrikas – sondern eher ihre Regelmäßigkeit. »Mit jeder Dürre schwinden die Möglichkeiten von Mensch und Tier, sich einer Dürre anzupassen. Die Auswirkungen sind dann teilweise dramatisch, auch wenn es aus rein meteorologischer Sicht gar kein extremes Ereignis war«, erläutert Otto. Mehrere Dürren, insbesondere im Zusammenhang mit der Veränderung der Landnutzung, werden ein Ökosystem wie das der Serengeti-Mara aus dem Gleichgewicht bringen. Entscheidend sei, ob – und hier liegt das Problem – Mensch und Tier in solchen Situationen in andere Gebiete ausweichen können: »Das geht nur, wenn keine Konflikte und Grenzen Menschen davon abhalten und wilde Tiere nicht durch Vieh, Städte und andere Hindernisse gestoppt werden.«

Solche von Otto beschriebenen Ausweichversuche haben auch einen Haken: Sie bringen dann nicht nur die Tiere in die Gebiete des Menschen, sondern auch die Menschen in die Gebiete der Tiere. Manche Massai-Hirten in Kenia klagen, dass wegen Nahrungsmangel die Hälfte ihrer Rinderherden verendet seien. »Die Dürre hat besonders starke Auswirkungen auf Viehhalter im östlichen Bereich des Serengeti-Mara-Systems«, bestätigt Wildschützer Mwakilema. In ihrer Not führen manche Hirten die Rinder illegal in die Naturschutzgebiete, wo sie mit den wilden Tieren um das spärliche Gras konkurrieren. »Dies kam besonders im Osten und Westen der Serengeti vor, aber wir haben unsere Bemühungen dort verstärkt, solche Eindringlinge, aber auch Wilderer aus dem Park fernzuhalten«, bekräftigt Mwakilema.

Die Rolle des Grases

Doch auch ohne eindringende Rinder und Dürre werden die Gräser in der Serengeti knapper. Eine wissenschaftliche Erhebung von 2017 zeigt, dass in das Serengeti-Mara-System eingeschleppte exotische Pflanzen heimische Gräser verdrängen und damit auch die Nahrung für die wandernden Gnus reduzieren. Die Autoren um Arne Witt vom Centre for Agriculture and Biosciences International CABI in Nairobi berichten, dass solche invasiven Pflanzenarten besonders aus Nord- und Südamerika kamen. »Sie wurden in Ostafrika als Zierpflanzen, in der Agrarforstwirtschaft oder unabsichtlich eingeführt«, erklärt Witt. Besonders jene Gewächse, die zur Zier in den Gärten der Safari-Camps angepflanzt wurden, schafften es schnell, sich in der Serengeti selbst zu verbreiten. »Und wir haben diesmal wesentlich mehr exotische Arten entdeckt«, so Witt.

Zebras und Gnus bei der großen Wanderung | Neben Gnus und Gazellen wandern auch abertausende Zebras Jahr für Jahr von der Serengeti nordwärts.

Die Untersuchung verweist auf sechs besonders gefährliche Pflanzen, darunter das Siamkraut (Cromolaena odorata) und Parthenium hyserophorus. Beide invasive Arten schreiben in Afrika eine erschreckende Erfolgsgeschichte. So hat das Siamkraut bereits die Überlebenschancen des Nilkrokodils in Südafrika und des Flachlandgorillas in Kamerun reduziert, während Parthenium hyserophorus inzwischen schon 34 afrikanische Staaten infiltriert hat.

»Solche invasiven Pflanzen verdrängen die heimischen Gräser. Sie sind aber giftig oder ungenießbar für die wilden Tiere, die dann nichts mehr zu fressen finden«, erläutert der Biologe. Manche Arten, wie zum Beispiel Opuntien, können mit ihren Stacheln die Tiere bei der Nahrungssuche sogar verletzen und gefährliche Infektionen verursachen. Witt fordert daher nun als einen ersten Schritt, alle exotischen Zierpflanzen aus den Safari-Camps zu entfernen. Und jene, die sich bereits in der Serengeti verbreiten, müssten mit biologischen Mitteln bekämpft werden.

Noch hoffen die Experten, dass es für die Serengeti nicht schon zu spät ist. »Wir müssen vor allem den Menschen, die in der Region leben, beibringen, was ihre Präsenz für das Ökosystem bedeutet und sie an der Verwaltung der Naturschutzgebiete teilnehmen lassen«, sagt Eivin Røskaft. Klimaforscherin Otto fordert Programme zu Aufforstung und nachhaltiger Landwirtschaft. »Aber all diese und andere Maßnahmen werden erheblich behindert und verhindert durch Konflikte in der Region«, warnt Otto.

Serengeti-Parkwächter Mwakilema hofft angesichts solcher Probleme, dass Medien und Tierliebhaber nun dem Ökosystem in Ostafrika mehr Aufmerksamkeit schenken und dass Spenden und Ressourcen den Nationalparks helfen, die Tiere besser zu schützen. Dabei beschwört der Tansanier den Geist des von ihm verehrten deutschen Biologen Bernhard Grizmek und sagt: »Wir müssen alle unsere Bemühungen jetzt noch mehr verstärken – denn die Serengeti darf nicht sterben.«

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