Sexuelle Gewalt: Die Schuld gehört den Tätern

Es ist einer der schockierendsten Fälle der jüngeren Vergangenheit: Viele Jahre lang hat der Franzose Dominique Pelicot seine damalige Frau Gisèle immer wieder mit starken Medikamenten betäubt, missbraucht und von Fremden vergewaltigen lassen. Die Taten, die durch den 2024 abgeschlossenen Strafprozess weltweit bekannt wurden, waren rein zufällig entdeckt worden. Nachdem er dabei erwischt worden war, wie er Frauen im Supermarkt unter den Rock filmte, durchforstete die Polizei Pelicots Computer und fand dort tausende Videos und Fotos des Missbrauchs an seiner Frau Gisèle. Etwa 200 Taten sind dokumentiert. Ende 2024 verurteilte das Gericht im französischen Avignon den Hauptangeklagten zur Höchststrafe von 20 Jahren; 50 weitere Männer wurden wegen Vergewaltigung schuldig gesprochen. Die meisten stammen aus einem kleinen Umkreis von 25 bis 50 Kilometern um die kleine Gemeinde Mazan, was erschreckend deutlich macht: Sexuelle Gewalt findet inmitten unserer Gesellschaft statt. Weltweit sind der Weltgesundheitsorganisation zufolge etwa eine von drei Frauen betroffen.
Was den Prozess so ungewöhnlich machte: Gisèle Pelicot setzte durch, dass er öffentlich geführt wurde, um das gesellschaftliche Bewusstsein für sexuelle Gewalt zu schärfen. »Die Scham muss die Seite wechseln«, sagte die 72-Jährige zu Beginn der Verhandlungen. Binnen weniger Wochen wurde sie zur international gefeierten Ikone für Kraft und Widerstand. Indem sie das Leid publik machte, das ihr angetan wurde, gewann die buchstäblich ohnmächtige Frau die Kontrolle über ihr Leben zurück.
Vielen Überlebenden sexueller Gewalt gelingt das nur schwer. Die Gesellschaft schreibt ihnen eine Mitschuld zu, die sie internalisieren. Erschreckend häufig führt das dazu, dass Betroffene sich selbst nicht als legitime Opfer erkennen. Das zeigt eine Metaanalyse von Laura Wilson von der University of Mary Washington in Fredericksburg und ihrer Kollegin Katherine Miller. Die beiden klinischen Psychologinnen werteten in einer Metaanalyse 28 Studien mit mehr als 5000 Opfern sexueller Gewalt aus. Obwohl die Betroffenen von Vorfällen berichteten, die der gesetzlichen Definition einer Vergewaltigung entsprechen, benannten mehr als die Hälfte von ihnen die Vergewaltigung nicht als solche und sprachen stattdessen beispielsweise von einem »Missverständnis« oder einem »schlechten sexuellen Erlebnis«.
Unfaire Beurteilung
Machen wir ein kleines Gedankenexperiment. Wem würden Sie eher glauben, vergewaltigt worden zu sein: einer Ärztin oder einer Barkeeperin? Einer Frau in Hosenanzug oder einer im Minirock? Einer, die Alkohol getrunken und mit dem Täter geflirtet hat, oder einer, die nüchtern und distanziert war? Im besten Fall allen gleichermaßen, sofern sie angeben, ohne ihr Einverständnis zu einer sexuellen Handlung gezwungen worden zu sein. Denn die beschriebenen äußeren Umstände sind völlig irrelevant. Strafbar sind laut § 177 Strafgesetzbuch alle sexuellen Handlungen, die gegen den erkennbaren Willen einer Person stattfinden. Doch zahlreiche Studien zeigen, dass sich Menschen – Männer wie Frauen, einschließlich Polizisten, Anwälten und Richtern – bis zu einem gewissen Grad von Stereotypen beeinflussen lassen: Einer Ärztin im Hosenanzug, die distanziert und nüchtern war, glaubt man eher als einer Barkeeperin im Minirock, die geflirtet und getrunken hat.
Der Täter ist selten ein Fremder
Als Vergewaltigungsmythen bezeichnet man Auffassungen, die dazu dienen, sexuelle Gewalt zu verharmlosen, zu leugnen oder zu rechtfertigen, den Täter zu entlasten und Opfern eine Mitschuld zu geben. Sie haben eine psychologische Funktion: Bei Männern geht es eher darum, Angriffe auf ihr Geschlecht zu verhindern, bei Frauen können sie der Angstabwehr dienen. »Wenn man davon ausgeht, dass so etwas nur denen passiert, die es auf irgendeine Weise provozieren, muss man sich selbst keine Sorgen machen«, sagt Barbara Krahé.
Die meisten Vergewaltigungen finden nicht nachts im Park, sondern in vertrauter Umgebung statt. In acht von zehn Fällen ist der Täter der Partner, Expartner, ein Freund oder Bekannter
Die Psychologin von der Universität Potsdam beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Urteilsverzerrungen bei Sexualdelikten. Sie beschreibt einen Teufelskreis: Sexualdelikte werden eher angezeigt, wenn sie gängigen Klischees entsprechen. »Solche Fälle werden häufiger angezeigt, erreichen also häufiger das Gericht und führen zu mehr Verurteilungen – was wiederum die öffentliche Vorstellung davon formt, wie ›echte‹ sexuelle Gewalt aussieht.« Die Folge: Es erscheinen ausgerechnet solche Fälle als ›echt‹, die wenig mit der Realität sexueller Gewalt zu tun haben. Auch die Medien berichten eher über solche Fälle. »Die Darstellungen verstärken so das Stereotyp«, kritisiert Krahé.
Übergriffe in den eigenen vier Wänden
Schauen wir uns drei besonders gut erforschte falsche Vorstellungen einmal genauer an. Dem ersten Klischee zufolge sind Täter meist Fremde, die ihrem Opfer in abgeschiedener Umgebung auflauern. Doch das ist höchst selten der Fall. Laut der US-amerikanischen Organisation Rape, Abuse & Incest National Network (RAINN) handelt es sich in acht von zehn Fällen beim Täter um den Partner oder Expartner, einen Freund oder Bekannten des Opfers. Entsprechend finden die meisten Vergewaltigungen auch nicht in dunklen Parks oder nachts im Wald statt, sondern dort, wo man sich eigentlich sicher fühlen sollte: in vertrauter Umgebung oder gar der eigenen Wohnung. Wenn Betroffene sexuelle Gewalt nicht anzeigen, kann das viele Gründe haben, doch oft spielt die Angst, man könnte ihnen nicht glauben, eine Rolle. Man kann sich vorstellen, dass es einfacher ist, einen Fremden anzuzeigen als den guten Freund der Familie, den alle so nett finden und mit dem man sich selbst immer gut verstanden hat. Je nach Umfragedaten gehen Expertinnen und Experten davon aus, dass nur 5 bis 15 Prozent aller Vergewaltigungen angezeigt werden. »Eine verschwindend geringe Zahl«, so Krahé. Die medial gern aufgegriffenen Falschbeschuldigungen gibt es nur in etwa drei Prozent der Fälle.
Ein zweiter Mythos dreht sich um das Verhalten der Betroffenen: »Echte« Opfer würden sich wehren, so die Annahme. Wer nicht um Hilfe ruft oder zu fliehen versucht, habe »es« doch eigentlich gewollt. Obgleich in den meisten Rechtssystemen weltweit zunehmend der Grundsatz »Nein heißt Nein« gilt – dem zufolge ein erkennbarer entgegenstehender Wille des Opfers ausreicht –, wird vor Gericht häufig nach Zeichen physischer Abwehr gefragt, um die fehlende Einwilligung zu beweisen.
Bleibt bei einem sexuellen Übergriff der Widerstand aus, ist das jedoch keine Zustimmung, sondern eine unwillkürliche Reaktion des Körpers auf extreme Bedrohung. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse sprechen dafür, dass Angst die neuronalen Schaltkreise für die Handlungskontrolle im Gehirn blockieren kann. In der Schockstarre, im Englischen »freeze« genannt, ist man wie gelähmt, kann weder sprechen noch seine Gliedmaßen kontrollieren. Aus biologischer Sicht ist die Reaktion sinnvoll, wenn man es mit einem übermächtigen Gegner zu tun hat – um Verletzungen zu vermeiden und möglichst am Leben zu bleiben.
Laut einer Studie um Anna Möller vom Karolinska-Institut erlebten 70 Prozent von rund 300 Frauen, die sich binnen eines Monats nach der Tat in eine Notfallklinik für vergewaltigte Frauen begaben, eine solche tonische Immobilität. Sechs Monate später litten sie häufiger an einer Posttraumatischen Belastungsstörung oder schweren Depression als Frauen, die nicht »eingefroren« waren. Den Autoren zufolge ist es wichtig, dass die Schockreaktion besser bekannt wird. Sonst könne die eigene Handlungsunfähigkeit Schuld- und Schamgefühle verursachen und das Trauma verstärken.
Bleibt bei einem sexuellen Übergriff der Widerstand aus, ist das keine Zustimmung, sondern eine unwillkürliche Reaktion des Körpers auf extreme Bedrohung
Ein drittes Klischee besagt, »echte« Opfer seien emotional aufgewühlt, wenn sie von der Tat berichten. In einer Metaanalyse von 20 Studien mit 3128 Teilnehmenden – darunter Polizeibeamte und Richter – stellte ein Team um den Sozialpsychologen Eric Vanman von der University of Queensland in Australien fest, dass deutlich sichtbare Zeichen der Verzweiflung die Glaubwürdigkeit von Überlebenden sexueller Gewalt erhöhte, wobei die Effektstärken klein bis moderat waren. »Wie jemand auf eine Gewalterfahrung reagiert, ist individuell ganz unterschiedlich. Es gibt keine Standardreaktion«, sagt Krahé. Eine Posttraumatische Belastungsstörung etwa kann zu emotionaler Taubheit führen. Betroffene können ihre Empfindungen dann nicht oder kaum ausdrücken. Auch das ist ein Schutzmechanismus: Indem das Gehirn die Emotionen dämpft, verhindert es, dass die betroffene Person von ihnen überwältigt wird.
Das »Stereotyp des glaubwürdigen Opfers« bringe die Betroffenen in eine »No-win-Situation«, so Krahé: Man neige zwar dazu, aufgewühlten Opfern eher zu glauben und Mitleid mit ihnen zu haben. Gleichzeitig gelte aber die Vorstellung: Wer emotional aufgewühlt ist, kann keine belastbare Aussage machen. »Man kann es also gar nicht richtig machen.«
Umfassender Kontrollverlust
Überlebende sexueller Gewalt erleben einen Kontrollverlust auf allen Ebenen. Da ist zunächst die körperliche Dimension, die mit der psychischen eng verknüpft ist: Während des Übergriffs ist das Opfer dem Täter hilflos ausgeliefert und kann nicht verhindern, was mit ihm geschieht. Die direkte, physische Gewalt zerstört das Gefühl der körperlichen Autonomie. Manche haben das Gefühl, sich von ihrem Körper zu trennen und das Geschehen von außen zu betrachten. Dabei handelt es sich um eine Form der Dissoziation, die – genau wie das Einfrieren – ein Schutzmechanismus ist. Langfristig erschüttert das Erlebte bei vielen das Selbstbild, und sie entwickeln eine Depression oder Posttraumatische Belastungsstörung, begleitet von Albträumen, Flashbacks und Angstzuständen. Auf sozialer Ebene entgleitet den Betroffenen oft die Realität über das Geschehene. Wer sich traut, davon zu erzählen, sieht sich häufig mit Misstrauen konfrontiert. Andere Menschen stellen Fragen, die die Schuld auf das Opfer lenken: »Hast du dich denn gewehrt?«, »Warum musst du auch in eine Bar gehen?«, »Warum hast du ihn überhaupt ins Haus gelassen?« oder »Was hattest du an?«.
»Wie jemand auf eine Gewalterfahrung reagiert, ist individuell ganz unterschiedlich. Es gibt keine Standardreaktion«Barbara Krahé, Psychologin
Die Opferbeschuldigung, im Englischen »victim blaming«, ist ein effektives Mittel, Betroffene dazu zu bringen, das Geschehene für sich zu behalten, weil man so Scham und Schuld in ihnen auslöst. Dabei handelt es sich um zwei eng miteinander verwandte Gefühle; doch während sich Schuld eher auf einen speziellen Umstand bezieht, lastet Scham auf der Person als ganzer: Man fühlt sich insgesamt unerträglich und würde am liebsten unsichtbar werden.
Warum so oft geschwiegen wird
Die Psychologin Courtney Ahrens von der California State University in Long Beach erforscht, weshalb Opfer schweigen. Für eine 2006 veröffentlichte Studie hatte sie mit acht Frauen Gespräche geführt, die binnen drei Tagen nach einem Übergriff jemandem davon erzählt hatten, dabei mindestens eine negative Reaktion erhielten und anschließend für mindestens neun Monate nicht mehr darüber gesprochen hatten. Ahrens deckte drei Wege auf, die Überlebende zum Schweigen bringen: (1) Wer negative Reaktionen von Fachleuten wie Mitarbeitenden bei der Polizei, der Justiz, in Kliniken oder an Beratungsstellen erhalten hatte, glaubte anschließend nicht mehr daran, dass es etwas bringen würde, weiter über den Vorfall zu sprechen. (2) Hatten Freunde oder Familienmitglieder negativ reagiert – etwa gesagt, es sei besser, nicht mehr darüber zu reden, oder das Ganze sei eine Strafe Gottes –, so löste das Schuldgefühle aus. (3) Sowohl die Reaktionen von offizieller Seite als auch von Menschen aus dem engeren sozialen Umfeld ließen Betroffene zweifeln, ob sie tatsächlich eine »echte« Vergewaltigung erlebt hatten.
Scham hilft nur dem Täter
Forschende um Ash Catton von der neuseeländischen University of Canterbury gingen den Ursachen der Scham in einer Untersuchung von 2023 mit quantitativen Methoden genauer auf den Grund. Sie baten 142 Studierende, ein persönliches Ereignis über ein Computerprogramm zu teilen, das für sie unangenehm, jedoch nicht traumatisierend gewesen war. Den Teilnehmenden sagte man, ein Psychologe würde das Erlebte einschätzen. In Wirklichkeit erschien jedoch ein automatisches Feedback, das das Erlebte entweder anerkannte oder abwertete, oder es tauchte eine Fehlermeldung auf dem Bildschirm auf. Die Vermutung der Forschenden dabei lautete: Positive Rückmeldungen beugen Scham vor, negative verstärken sie.
Überraschenderweise hatte es nur einen geringen – nicht signifikanten – Einfluss auf das Ausmaß der Scham, ob das Programm eine validierende oder invalidierende Rückmeldung verschickte. Den Unterschied machte die subjektive Wahrnehmung der Teilnehmenden. Offenbar empfanden einige die an sich positiven, jedoch standardisierten Rückmeldungen auf dem Monitor als oberflächlich, so die Autoren. Sie interpretierten die unpersönlich formulierten Worte als Zeichen dafür, dass der »Psychologe« ihr Anliegen banal fand – und schämten sich deshalb. Auch eine professionelle Unterstützung etwa in Beratungsstellen könnte demnach womöglich Scham auslösen, wenn die Zuwendung nicht einfühlsam und authentisch ist.
Opfer oder Überlebende?
Im Kontext sexueller Gewalt wird teilweise von »Überlebenden« statt von »Opfern« gesprochen, um die aktive Rolle der Menschen in ihrem Heilungsprozess sowie ihre Resilienz hervorzuheben. So verwendet beispielsweise der kongolesische Arzt und Friedensnobelpreisträger Denis Mukwege diesen Ausdruck. Er hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Betroffene sexueller Gewalt medizinisch zu behandeln und zu unterstützten.
An sich ist der Begriff »Opfer« jedoch keineswegs negativ, sondern beschreibt sachlich, dass jemand durch eine andere Person Schaden erlitten hat. Problematisch ist, wenn der Ausdruck stigmatisierend verwendet und die betroffene Person dadurch dauerhaft in eine passive, hilflose Rolle gedrängt wird. Demgegenüber soll der Begriff »Überlebende« verhindern, dass Menschen auf ihr Trauma reduziert werden, und vielmehr ihre Stärke betonen. Laut Monica Thompson vom Ashford and St. Peter's Hospitals NHS Foundation Trust in Großbritannien kann es je nach Kontext sinnvoll sein, den einen oder anderen Begriff zu verwenden: Vor Gericht etwa könne es hilfreich sein, mittels des Begriffs »Opfer« die Vulnerabilität eines Menschen betonen, wohingegen während des Heilungsprozesses der Ausdruck »Überlebende« ein positives Selbstbild unterstützten kann. Die Psychologin Barbara Krahé hält es ebenfalls für problematisch, auf den Begriff »Opfer« zu verzichten: »Man überlebt auch einen Brand oder einen Verkehrsunfall. Der Ausdruck ›Opfer‹ stellt deutlich heraus, dass die Schädigung einer Person durch eine aggressive Handlung einer anderen herbeigeführt wurde.«
»Scham und Schuld sind keine hilfreichen Gefühle. Sie schaden dem Selbstwert und stehen einer Aufarbeitung des Geschehenen im Weg«Barbara Krahé, Psychologin
Forschende um Mónica Romero-Sánchez haben 2020 an der Universität Bielefeld untersucht, ob solche Bezeichnungen tatsächlich unterschiedlich wirken. In einem ersten Experiment baten sie Studierende aus Spanien, fünf Wörter aufzuschreiben, die sie mit den Begriffen »Opfer«, »Überlebende« und »misshandelte Frau« assoziierten. Anschließend teilten sie die Teilnehmenden in drei Gruppen ein und legten ihnen einen Bericht vor, der einen Fall häuslicher Gewalt beschrieb. Der einzige Unterschied: Die im Text beschriebene »Alicia«, die die Gewalt erlebt hatte, erhielt jeweils eines der drei Labels.
Im Schnitt verbanden die Teilnehmenden mit dem Ausdruck »Überlebende« häufiger positive Begriffe wie »stark« und »kämpfend«; die anderen beiden Bezeichnungen dagegen lösten eher negative Assoziationen wie »schwach« oder »leidend« bei ihnen aus. Andererseits empfanden sie den Ausdruck »Überlebende« als weniger passend. In einer Studie zu sexueller Gewalt mit deutsch- und englischsprachigen Teilnehmenden kamen Gerd Bohner und Michael Papendick von der Universität Bielefeld zu einem ähnlichen Ergebnis. Womöglich ist die Bezeichnung »Überlebende« vielen im Kontext häuslicher oder sexueller Gewalt wenig geläufig und wird deshalb als ungewöhnlich empfunden.
Es braucht gesellschaftliche Veränderungen
Damit Überlebende sexueller Gewalt die Kontrolle über ihr Leben zurückgewinnen können, es mehr Anzeigen und letztlich mehr Verurteilungen gibt, sind vor allem gesellschaftliche Veränderungen notwendig. Bei Polizei und vor Gericht braucht es eine stärkere Sensibilisierung gegenüber den schädlichen Auswirkungen von Stereotypen. Zwar lassen sich dort arbeitende Personen in der Regel weniger von falschen Vorstellungen leiten als Laien. Dennoch werden Opfer häufig mit Fragen konfrontiert, die nicht zur Aufklärung des Falls beitragen. Zum Beispiel: »Warum haben Sie nicht um Hilfe geschrien?« Oder: »Haben Sie häufig wechselnde Sexualpartner?« Wer dem Opfer auf diese Weise eine Mitschuld zuschreibt, denkt auch, der Täter hätte weniger Schuld: »In Studien besteht eine hohe negative Korrelation zwischen den Schuldzuweisungen an Opfer und Täter«, sagt Krahé. »Dabei liegt die Verantwortung für den Übergriff ausschließlich beim Täter – selbst dann, wenn das Opfer sich vielleicht unvorsichtig verhalten hat.«
Spezialisierte Beratungsstellen bieten Hilfe
Auf eine Personengruppe kommt es ganz besonders an: Für Betroffene kann es entscheidend sein, wie nahestehende Menschen reagieren, wenn sie sich diesen anvertrauen. Ein Spruch wie »Warum musst du auch immer diese viel zu kurzen Röcke tragen?« kann hochgradig verletzend sein. »Oberstes Gebot ist es, unterstützend und nicht bewertend zu sein«, so Krahé. Am Anfang sollte der Kontakt mit einer spezialisierten Beratungsstelle stehen, etwa vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff), einem Dachverband für Frauenberatungsstellen, Frauennotrufe und andere frauenrechtliche Einrichtungen in Deutschland, der auch über regionale Beratungs- und Hilfsangebote informiert. Das Hilfetelefon »Gewalt gegen Frauen« ist ebenfalls eine gute Anlaufstelle. Viele spezialisierte Beratungsstellen bieten eine anonyme Spurensicherung an: Sperma, Hautpartikel oder DNA des Täters wird gesammelt, ohne dass der Name des Opfers erfasst wird. Sollte sich die Person später jedoch noch zu einer Strafanzeige entscheiden, kann das Material als Beweis dienen. Auch eine Prozessbegleitung und therapeutische Unterstützung ermöglichen die Beratungsstellen.
Hilfe und Beratung bei sexueller Gewalt
Der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff), ein Dachverband für Frauenberatungsstellen, Frauennotrufe und andere frauenrechtliche Einrichtungen in Deutschland, informiert über Beratungs- und Hilfsangebote in der Nähe und liefert viele wichtige Informationen zum Thema.
Das Hilfetelefon »Gewalt gegen Frauen« berät betroffene Frauen, nahestehende Personen und Fachkräfte anonym und kostenlos unter der Nummer 116 016, per Chat oder E-Mail.
Das »Hilfe-Portal sexueller Missbrauch« bietet unter der Nummer 0800 22 55 530 oder online ebenfalls eine anonyme und kostenlose Beratung an. Dorthin können sich Betroffene und Angehörige mit allen Fragen zum Thema sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend wenden – auch im Verdachts- und Zweifelsfall.
Das Opfer trägt keine Verantwortung
Da Betroffene die Stereotype internalisiert haben, fragen sich viele automatisch, was sie falsch gemacht haben und wie sie selbst die Tat hätten verhindern können. In der Beratung und Therapie geht es darum zu lernen, die Verantwortung beim Täter zu sehen. Dort arbeitet man beispielsweise am so genannten Rückschaufehler – der Tendenz, nach dem Eintreten eines Ereignisses zu glauben, dass man dieses hätte vorhersehen müssen. »Scham und Schuld sind keine hilfreichen Gefühle«, so Krahé. »Sie schaden dem Selbstwert und stehen einer Aufarbeitung des Geschehenen im Weg, weil Opfer über ihre Erlebnisse schweigen und Täter nicht zur Verantwortung gezogen werden.«
Gisèle Pelicot wirkte während der Verhandlungen aufrecht und ruhig, strahlte Stärke und Entschlossenheit aus. Auf dem Weg zu den Verhandlungen applaudierten ihr Menschen, feierten sie als Heldin. Die Täter hingegen schlichen mit hochgezogenen Schultern durch den Gerichtssaal, viele saßen mit gesenktem Kopf, Sonnenbrillen oder Schildmützen auf der Anklagebank, um ihre Identität zu verbergen. Hier war offensichtlich, wer sich schämte.
Nach einer Vergewaltigung fragen sich viele Betroffenen, was sie hätten tun können, um die Tat zu verhindern. Die Verantwortung liegt jedoch allein bei den Tätern
Alle Opfer sexueller Gewalt verdienen die Unterstützung, die Gisèle Pelicot erhielt. Doch die meisten bekommen sie nicht. Im Fall Pelicot war die Beweislast enorm. Was, wenn sie eine Barkeeperin mit fragwürdigem Ruf gewesen wäre? Oder es nicht hunderte Fotos und Videos der Vergehen an ihr gegeben hätte? In den meisten Fällen steht Aussage gegen Aussage. Deshalb birgt die Begeisterung für die Französin auch ein Risiko: dass mutiges öffentliches Auftreten der Opfer sexueller Gewalt zu einer neuen Norm wird – und man dann die Glaubwürdigkeit derer anzweifelt, die anders reagieren. Denn für viele ist so ein Umgang mit dem Erlebten schlicht nicht vorstellbar.
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