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Umgang mit sexualisierter Gewalt: »Soziale Ausgrenzung kann lebensbedrohlich sein«

Sexuelle Gewalt ist eine häufig eingesetzte Kriegswaffe. Die Betroffenen haben nicht nur mit dem Erlebten zu kämpfen, sondern auch mit einem gefährlichen Stigma. Der Politikwissenschaftler Carlo Koos erforscht, welche Strategien sie entwickeln, um von ihren Gemeinschaften nicht ausgeschlossen zu werden.
Eine Person steht in einem Raum und blickt aus einem großen Fenster auf eine verschwommene Landschaft. Sie ist in eine dunkle Decke gehüllt und scheint nachdenklich. Draußen sind Felder und Berge zu erkennen.
Menschen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, entwickeln oft Strategien gegen die Stigmatisierung.

Herr Koos, in Ihrer Forschung geht es um sexuelle Gewalt während bewaffneter Auseinandersetzungen. Wie häufig wird diese als Kriegsmittel eingesetzt?

Grob geschätzt in ungefähr der Hälfte der Kriege und Konflikte, und zwar weltweit: zum Beispiel in Südamerika während der Bürgerkriege in Peru und El Salvador, im Irak durch den Islamischen Staat, im Ostkongo, dem Südsudan und Äthiopien und während des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Ich habe mich in meiner Forschung unter anderem auf die Auswirkungen sexueller Gewalt während der Bürgerkriege in Sri Lanka, Sierra Leone, Liberia und in dem noch anhaltenden Konflikt im Ostkongo konzentriert.

Carlo Koos | Der Professor für Politikwissenschaften an der norwegischen Universität Bergen leitet ein vom Europäischen Forschungsrat (ERC) gefördertes Projekt, das sich mit den Auswirkungen von Konflikten auf geschlechtsspezifische Machtverhältnisse befasst. Zuvor war er mit »Ärzte ohne Grenzen« in Südsudan, Libyen, Ägypten, Eswatini (ehemals Swasiland) und Uganda.

Was unterscheidet die Gewalt in Kriegen von der in Friedenszeiten?

Traumatisierend ist beides. Vor allem im Kontext von Zwangsrekrutierungen kann sexuelle Gewalt ein perfides Instrument sein, um zwischen den Tätern – etwa Soldaten oder Rebellengruppen – eine Art Bündnis herzustellen. Meist geht es aber darum, Zivilisten zu schockieren und den Zusammenhalt innerhalb der Gemeinschaft zu zerstören. Die Täter – das können Armeen, aber auch nichtstaatliche Gruppen sein – gehen häufig besonders brutal vor. Übergriffe finden teilweise auf öffentlichen Plätzen statt, wo es Zuschauende gibt. Es wird Dominanz vermittelt und, dass die Gemeinschaft nicht in der Lage ist, sich zu verteidigen. Es kommt auch zu sexueller Gewalt an Männern und Jungen, aber tendenziell sind eher Frauen und Mädchen betroffen. Das kann ein impliziter Angriff auf die männlichen Gruppenmitglieder sein, wenn sie die soziale Rolle haben, diese zu schützen.

»In grob geschätzt der Hälfte der Kriege und Konflikte weltweit wird sexualisierte Gewalt als Kriegsmittel eingesetzt«

Die sexuelle Gewalt im Ostkongo hat in Europa und den USA viel Aufmerksamkeit bekommen …

… was vor rund zehn Jahren beträchtliche Spendensummen einbrachte. Gleichzeitig wurde in den Medien das Stereotyp des hilflosen Opfers propagiert, das auf westliche »Retter« angewiesen ist – ein fragwürdiges Bild, das den komplexen sozialen und politischen Dynamiken natürlich selten gerecht wird und die lokale Autonomie und Handlungsfähigkeit der betroffenen Menschen ausblendet.

Systematische sexuelle Gewalt im Ostkongo | Das Bild zeigt Frauen und Vergewaltigungsopfer in der Ortschaft Luvungi in der Provinz Nordkivu im Osten der Demokratischen Republik Kongo. Dort wurden 2010 mindestens 242 Frauen, darunter auch 20 Kinder von Rebellen vergewaltigt. Die Region ist seit Jahrzehnten umkämpft und das Ausmaß sexualisierter Gewalt ist laut »Ärzte ohne Grenzen« alarmierend. Allein in der besonders betroffenen Provinz Nordkivu hat die Organisation 2024 fast 40 000 Überlebende sexualisierter Gewalt medizinisch betreut.

Opfer sexueller Gewalt werden von der Gesellschaft oft stigmatisiert. Das kann eine erschütternde Erfahrung für die Betroffenen sein, die sie nach dem Übergriff ein weiteres Mal traumatisiert. Sind sie dem hilflos ausgeliefert?

Schuldzuweisungen aus dem Umfeld bedeuten enormes Leid – man spricht auch von sekundärer Viktimisierung. Wie Menschen darauf reagieren, ist individuell ganz unterschiedlich. Es ist lange bekannt, dass Personen, die auf Grund von beispielsweise Herkunft, Geschlechtsidentität oder körperlicher Beeinträchtigung stigmatisiert werden, den Anfeindungen teilweise etwas entgegensetzen. Manche unterstützen sich gegenseitig oder gründen Aktivistengruppen. Die Forschung, die ich gemeinsam mit Summer Lindsey von der Rutgers University in den USA, Richard Traunmüller von der Universität Mannheim und lokalen Forschungsassistenten durchgeführt habe, hat gezeigt, dass Opfer und Überlebende sexueller Gewalt häufiger als bisher angenommen Strategien entwickeln, um den negativen Folgen des Stigmas wie Ausgrenzung oder Schuldzuweisungen entgegenzuwirken.

»Meist geht es darum, Zivilisten zu schockieren und den Zusammenhalt innerhalb der Gemeinschaft zu zerstören«

Es heißt, die Überlebenden sexueller Gewalt würden in manchen Ländern auf Grund des Stigmas von der Gemeinschaft verstoßen. Ist das in den von Ihnen erforschten Regionen der Fall?

Teilweise. Zumindest fühlen sie sich häufig gemieden und ausgegrenzt. Qualitative Studien zeigen, dass manche Frauen von ihren Männern verlassen werden, weil sie als beschmutzt gelten – gar nicht unbedingt, weil ihre Männer das selbst wollen, sondern weil die sozialen Normen das so vorgeben.

Was hat das für Folgen für die Betroffenen?

Soziale Ausgrenzung kann lebensbedrohlich sein. Insbesondere während Kriegen oder bewaffneten Konflikten sind für uns selbstverständliche staatliche Systeme wie Polizei und Justiz nicht vorhanden oder funktionsfähig, genau wie medizinische und psychologische Versorgungsangebote. Das macht die Opfer und Überlebenden sexueller Gewalt besonders abhängig von ihrer Familie und Gemeinschaftsstrukturen und unterscheidet ihre Situation von der zum Beispiel in Deutschland.

»Schuldzuweisungen aus dem Umfeld bedeuten enormes Leid – man spricht auch von sekundärer Viktimisierung«

Sie haben deshalb vermutet, dass die Frauen im Ostkongo, Sri Lanka und Liberia einiges tun, um weiterhin Teil ihrer Gruppe zu bleiben.

Genau. Unsere Hypothese war, dass sie vermehrt in ihre Gemeinschaft investieren, damit diese sie weiter akzeptiert. In Gesprächen mit Betroffenen und quantitativen Analysen haben wir das überprüft.

Was haben Sie herausgefunden?

Tatsächlich haben sich Menschen, die sexuelle Gewalt erlebt hatten, überdurchschnittlich häufig sozial engagiert, beispielsweise bei gemeinschaftlichen Bauprojekten, was offenbar dem Stigma geschuldet war. Oder sie haben für die Instandhaltung der Brunnen gesorgt. Solche Dinge können viel Zeit und Energie kosten. Im Ostkongo zum Beispiel gibt es in einem Dorf oft nur einen Brunnen, der morgens und abends für einige Zeit aufgesperrt wird, damit die Menschen Wasser holen können. Indem Opfer sexueller Gewalt diese – wenig prestigeträchtigen – Aufgaben übernahmen, signalisierten sie: Mir ist es wichtig, Teil der Gruppe zu bleiben. Das ist ihnen gelungen.

Es ist sicherlich schwierig, während Kriegen Erhebungen zu sexueller Gewalt durchzuführen. Wie genau sind Ihre Daten?

Wir haben die Erhebungen nicht während der Konflikte durchgeführt, sondern danach. Trotzdem war es nicht einfach. Man muss mit im Land gut vernetzten und dort erfahrenen Institutionen zusammenarbeiten. In unserem Fall war das beispielsweise die Nichtregierungsorganisation »Research Initiatives for Social Development« im Ostkongo und die University of Colombo in Sri Lanka. Je nach kulturellem Hintergrund und Bildungsniveau der Menschen mussten wir die Fragen anpassen oder im Nachhinein ändern, wenn etwas nicht funktioniert hat oder unpassend war. Zudem ist die Logistik sehr aufwändig, wenn bis zu 40 Interviewer mehrere Monate unterwegs sind. Gerade im Ostkongo hat es oft Tage gedauert, um in einige Dörfer zu gelangen.

»Tatsächlich haben sich Menschen, die sexuelle Gewalt erlebt hatten, überdurchschnittlich häufig sozial engagiert, beispielsweise bei der Instandhaltung von Brunnen«

Wahrscheinlich wollen die Menschen fremden Interviewern auch nicht unbedingt von sexuellen Übergriffen erzählen.

Das ist dort nicht anders als bei uns. Wir haben deshalb erstmals im Kontext sexueller Gewalt zu einer Methode namens »List Experiment« gegriffen, die verwendet wird, um sensible Daten zu schätzen. Dabei teilt man die Befragten zufällig in zwei Gruppen: Eine enthält nur neutrale Aussagen, die andere zusätzlich eine sensible Frage – in unserem Fall ging es darum, ob die Person sexuelle Gewalt erlebt hatte. Beide Gruppen müssen nur angeben, wie vielen Aussagen sie zustimmen. Die Differenz in der Anzahl der zutreffenden Aussagen wird dann zwischen beiden Gruppen verglichen. So kann man indirekt schließen, wie viele Personen der heiklen Frage zugestimmt haben. Die von uns mit dieser Methode ermittelte Zahl sexueller Gewalterfahrungen war in allen Ländern viel höher,als wenn wir die Menschen direkt danach gefragt haben, wobei man beachten muss, dass es sich um Schätzwerte handelt. In der Provinz Südkivu im Osten der Demokratischen Republik Kongo lag der Anteil laut konventioneller Befragung bei 6 Prozent – mit dem List Experiment waren es 12 Prozent. In Südost-Liberia zeigte sich ein noch stärkerer Unterschied: 5 Prozent bei direkter Befragung, aber 14 Prozent mit der indirekten Methode. Und besonders auffällig war der Unterschied in Sri Lanka. Dort gaben nur 1 Prozent der Befragten bei direkter Frage an, sexuelle Gewalt erlebt zu haben, während das List Experiment einen Anteil von 13 Prozent ergab. Daher wäre es wichtig, in groß angelegten Gesundheitsumfragen wie den Demographic Health Surveys die Techniken für sensible Fragen anzupassen und den Befragten Anonymität zu gewähren.

Kann in Kriegen erlebte sexuelle Gewalt auch zu Empowerment führen, beispielsweise im Sinne von zunehmender Emanzipation und Selbstbestimmung?

Das ist eine der Fragen, der ich in dem vom Europäischen Forschungsrat geförderten Projekt »Wareffects« auf den Grund gehen möchte. Bisher sieht es eher nach einem ausgleichenden Effekt aus: Die Überlebenden verhindern durch ihr verstärktes Engagement zwar, dass sie ausgegrenzt werden, doch unsere Daten zeigen bisher nicht, dass sie dadurch gestärkt würden oder gar gesellschaftliche Veränderungen anstoßen. Denkbar ist es dennoch, es bedarf aber weiterer Untersuchungen.

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  • Quellen

Koos, C., Traunmüller, R.: The gendered costs of stigma: How experiences of conflict-related sexual violence affect civic engagement for women and men. American Journal of Political Science, 2024

Lindsey, S., Koos, C.: Legacies of wartime sexual violence: Survivors, psychological harms, and mobilization. American Political Science Review, 2024

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