Kindesmissbrauch: »Im Netz explodiert das Risiko«

Sexuelle Übergriffe, Ausbeutung Minderjähriger, Missbrauchsdarstellungen im Netz – die Zahl sexueller Gewalttaten gegen Kinder und Jugendliche liegt in Deutschland weiterhin auf einem hohen Niveau. Darauf haben Bundesinnenministerium und Bundeskriminalamt bei der Präsentation eines jährlichen Lagebilds hingewiesen. Die Missbrauchsbeauftragte des Bundes, Kerstin Claus, warnte: »Im Netz explodiert das Risiko sexualisierter Gewalt. Noch nie war es für Täter so leicht, Kinder zu erreichen.« Für Kinder und Jugendliche sei das Risiko, Opfer zu werden, so hoch wie nie.
In Deutschland bearbeitete die Polizei im vergangenen Jahr laut polizeilicher Kriminalstatistik 16 354 Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern, mit mehr als 18 000 Opfern – pro Ermittlungsfall können auch mehrere Kinder betroffen sein. Ein unverändert hohes Niveau: Im Vorjahr wurden 16 375 Fälle mit 18 497 Opfern registriert.
Dem Lagebericht zufolge waren 13 365 der Opfer Mädchen, 4720 Jungen. In mehr als der Hälfte der Fälle (57 Prozent) waren ihnen die Tatverdächtigen nicht fremd: Es handelte sich um Eltern, Geschwister, Gleichaltrige, Trainer, Nachbarn oder andere bekannte Personen. Die Zahl der Tatverdächtigen stieg im Vergleich zum Vorjahr um 3,9 Prozent auf 12 368. Die Polizei zählte außerdem knapp 1200 Fälle von sexuellem Missbrauch von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17. Die Zahl der Tatverdächtigen lag hier bei 1018.
Die Zahlen geben nur Auskunft über das sogenannte Hellfeld, also Fälle, die angezeigt und der Polizei bekannt wurden. Sie schwanken entsprechend je nach Anzeigeverhalten. Oft werden Taten aus Scham, Angst oder anderen Gründen nicht gemeldet. Schon lange wird darüber diskutiert, wie das sogenannte Dunkelfeld besser ausgeleuchtet werden kann. Die Missbrauchsbeauftragte kündigte dazu eine großangelegte Studie an. Ab dem kommenden Jahr sollen bundesweit Jugendliche in den 9. Klassen nach möglichen Missbrauchserfahrungen befragt werden.
Was die Regierung vorhat
Ein wesentlicher Teil der Taten finde im Internet statt, sagte Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) bei der Vorstellung des Lagebilds. Um Täter besser zu finden, sollen Telekommunikationsanbieter deshalb künftig für drei Monate die IP-Adressen von Computern speichern. Dabei handelt es sich um einen Code, der jedem Computer im Netz zugewiesen wird. Ermittler könnten, wenn sie Hinweise auf eine Straftat im Netz bekommen, mit Hilfe der gespeicherten IP-Adresse die Rechner und somit die Täter besser ausfindig machen. Union und SPD haben das im Koalitionsvertrag vereinbart. Einen entsprechenden Gesetzentwurf will Dobrindt gemeinsam mit dem Justizministerium nun in den nächsten Wochen aufsetzen, wie er ankündigte.
Der Präsident des Bundeskriminalamts (BKA) Holger Münch verspricht sich viel von diesem Schritt. »Das wird unsere Ermittlungserfolge noch einmal deutlich steigern«, sagte er. Unter den jetzigen Bedingungen schaffe man es etwa bei 75 Prozent der Hinweise, auf einen möglichen Tatverdächtigen zu stoßen; mit der Neuregelung erhofft er sich eine Quote von mehr als 90 Prozent. Es sei überfällig, zur besseren Verfolgung schwerer Straftaten eine befristete Speicherung für IP-Adressen und zugehörige Port-Nummern zu ermöglichen, sagte der Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbunds, Sven Rebehn.
Was die Fachleute fordern
Die Missbrauchsbeauftragte Kerstin Claus sieht vor allem mit Blick auf die Gefahren im Internet großen Handlungsbedarf und fordert sogenannte Safe Spaces (sichere Räume) im Netz. Dort sollten per Altersnachweis nur Kinder und Jugendliche und keine Erwachsenen Zugang haben, damit diese keine Kontakte anbahnen können, wie es etwa über die Chatfunktion in Online-Spielen passieren kann.
»Im digitalen Raum multiplizieren sich die Risiken ins potenziell Unendliche«, sagte Claus. Taten würden gefilmt und online geteilt. Hinzu kämen Phänomene wie Cybergrooming (gezieltes Anbahnen sexueller Kontakte durch Erwachsene), Sextortion (sexuelle Erpressung), Livestreaming von Taten oder »Taschengeld-Dating über sogenannte Sugardaddy-Plattformen«, also Plattformen, über die für Geld oder Geschenke Treffen mit Minderjährigen angebahnt werden.
Auch vor Deepfakes warnte die Beauftragte. Dabei handelt es sich um künstlich erstellte oder technisch veränderte Bilder und Videos mit Darstellungen von Kindern und Jugendlichen. In dem Zusammenhang wies Innenminister Dobrindt bei der Pressekonferenz darauf hin, dass auch mit künstlicher Intelligenz erstellte Missbrauchsdarstellungen von Kindern strafbar seien und von den Behörden verfolgt würden. (dpa/eli)
Hilfe und Beratung bei sexueller Gewalt
Der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff), ein Dachverband für Frauenberatungsstellen, Frauennotrufe und andere frauenrechtliche Einrichtungen in Deutschland, informiert über Beratungs- und Hilfsangebote in der Nähe und liefert viele wichtige Informationen zum Thema.
Das Hilfetelefon »Gewalt gegen Frauen« berät betroffene Frauen, nahestehende Personen und Fachkräfte anonym und kostenlos unter der Nummer 116 016, per Chat oder E-Mail.
Das »Hilfe-Portal sexueller Missbrauch« bietet unter der Nummer 0800 22 55 530 oder online ebenfalls eine anonyme und kostenlose Beratung an. Dorthin können sich Betroffene und Angehörige mit allen Fragen zum Thema sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend wenden – auch im Verdachts- und Zweifelsfall.
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