Wissenschaftsgeschichte: »Psychotherapie braucht Freiheit«
Am 23. September 1939, gut drei Wochen nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, starb Sigmund Freud im Londoner Exil an einer Überdosis Morphium. Sie war ihm von seinem Arzt verabreicht worden, weil der Gaumenkrebs, an dem Freud bereits seit 16 Jahren litt, unaufhaltsam voranschritt und dem 83-Jährigen das Leben unerträglich machte.
Vier Jahrzehnte zuvor, Anfang November 1899, erschien das Werk, mit dem Freud als Entdecker des Unbewussten berühmt und seine Psychoanalyse zum ikonischen Vorbild der modernen Seelenheilkunde wurde. Freud hatte bis zu seiner Flucht vor den Nazis mehr als 52 Jahre lang als Nervenarzt in Wien praktiziert und dort seine revolutionäre Theorie der Psyche sowie eine völlig neue Behandlung seelischer Leiden entwickelt.
Für die Psychoanalyse – wie für die Psychologie insgesamt – bedeutete die »Machtergreifung« Hitlers eine Zäsur. Viele, vor allem jüdische Intellektuelle, Forscher und Ärzte wurden ausgegrenzt und verfolgt, manche gar ermordet. Doch was weniger bekannt ist: Die Psychologie als akademische Disziplin und als Berufszweig erlebte unter den Nazis mancherorts eine regelrechte Blüte. Das lag nicht zuletzt an dem Cousin eines der mächtigsten Männer im Dritten Reich: Der Medizinier Matthias Heinrich Göring träumte von einer »neuen deutschen Seelenheilkunde« und fand dafür willige Unterstützer. Die Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der Psychologie begann spät – und dauert bis heute an.
Martin Wieser studierte Psychologie und Philosophie an der Universität Wien sowie der Freien Universität Berlin und war Gastwissenschaftler an der York University in Toronto und der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 2016 bis 2020 war er Projektmitarbeiter in dem Forschungsprojekt »Psychologie in der ›Ostmark‹«. Seit 2013 lehrt und forscht Wieser im Bereich Theorie und Geschichte der Psychologie an der Sigmund Freud Privatuniversität Berlin.
Herr Wieser, Sie haben sich intensiv mit der Geschichte der Psychologie und Psychotherapie im Nationalsozialismus beschäftigt. Zunächst einmal: Psychologie als Universitätsfach und die damals noch recht junge Profession der Psychotherapeuten – das sind zwei unterschiedliche Dinge, richtig?
Das stimmt. Zwar wird Psychotherapie, oft sogar nur die Psychoanalyse, heute manchmal mit der Psychologie gleichgesetzt, jedoch existierte schon Ende des 19. Jahrhunderts eine eigene wissenschaftliche Disziplin namens Psychologie. Sie begann sich von der Philosophie als eigenständiges Forschungsfeld abzulösen und hatte damals nichts mit Therapie oder dem Unbewussten zu tun. Die frühen Psychologen wie der Leipziger Professor Wilhelm Wundt analysierten die Elemente der Wahrnehmung und des Bewusstseins mit experimentellen Methoden, waren also schon von ihrem Grundansatz her nicht tiefenpsychologisch interessiert. Zwar entwarf auch Freud in seiner »Traumdeutung« von 1900 ein Modell der Psyche. Es sollte aber in erster Linie als Grundlage seiner Neurosenlehre und seiner psychotherapeutischen Methode dienen.
In den 1920er Jahren stieg Berlin zu einem bedeutenden Zentrum der Psychoanalyse auf. Wie kam es dazu?
Berlin war unter anderem deshalb attraktiv für den psychotherapeutischen Nachwuchs, weil im Deutschen Reich, anders als in Österreich, »Kurierfreiheit« bestand. Hier durften auch Nichtmediziner, so genannte Laien, Heilverfahren anbieten, was vor allem jene Ausbildungskandidaten anzog, die kein Medizinstudium vorweisen konnten, wie den Literaturwissenschaftler Otto Rank, den Philosophen Theodor Reik oder den Soziologen Erich Fromm. Unter Leitung von Karl Abraham und Max Eitingon wurde in Berlin 1920 die erste Ausbildungsstätte für Psychoanalyse und die erste psychoanalytische Poliklinik auf der Potsdamer Straße im Herzen der Stadt eröffnet. Während man in Wien auf das Wohlwollen und didaktische Talent des jeweiligen Lehranalytikers angewiesen war, konnte man an der Spree schon bald eine fundierte Ausbildung absolvieren, samt Kursprogramm und »Kontrollanalyse« – heute würden wir Supervision dazu sagen. Viele zahlungskräftige Amerikaner und Briten, aber auch Flüchtlinge aus Ungarn, wo sich ein faschistisches Regime etabliert hatte, strömten im Lauf der 1920er Jahre nach Berlin.
»Die Psychoanalyse wurde als ›jüdische Wissenschaft‹ verleumdet«
Was änderte sich mit der Machtergreifung der Nazis im Januar 1933?
Die Psychoanalyse wurde als »jüdische Wissenschaft« verleumdet und es setzte ein Exodus ein, etwa zwei Drittel der Mitglieder der Deutschen Psychoanalytischen Gemeinschaft wurden vertrieben. Nach dem Reichstagsbrand Ende Februar 1933 setzte das Regime offenen Terror zur Verfolgung von Sozialdemokraten und Kommunisten ein – vermeintlich legitimiert durch die so genannte »Notverordnung zum Schulz von Volk und Reich«. Anfangs standen politische Gegner im Fokus, die zu Hunderten inhaftiert und in den ersten improvisierten KZs gequält wurden. Da viele Psychoanalytiker nicht nur jüdischer Herkunft, sondern auch sozialdemokratisch oder marxistisch engagiert waren, waren sie nun doppelt bedroht.
Wurde die Psychoanalyse verboten?
Nein, sie wurde öffentlich verunglimpft und Freuds Werke wurden bei der Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz in die Flammen geworfen, aber die Psychotherapie wurde vorerst nicht direkt gesetzlich eingeschränkt. Durch eine Reihe von Gesetzesreformen wurde es jüdischen Ärztinnen und Ärzten jedoch zunehmend erschwert, ihren Beruf auszuüben. 1938 wurde ihre Approbation annulliert, psychotherapeutische Behandlungen durch jüdische Ärztinnen und Ärzte waren dann nur noch im Geheimen möglich.
Was geschah mit dem Verband und der Poliklinik der Psychoanalytiker?
Die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft durfte bis 1938 weiter bestehen, jedoch wurde sie der Leitung des Deutschen Instituts für psychologische Forschung und Psychotherapie unter Matthias Göring unterstellt. Einerseits schienen die Erkenntnisse Freuds und Adlers in der Psychotherapie unentbehrlich, andererseits wollte man dies in der Öffentlichkeit nicht eingestehen. Das Ergebnis war, dass am Berliner Institut hinter verschlossenen Türen auf bewährtem Weg gelehrt und praktiziert wurde, während man nach außen hin eine »neue deutsche Seelenheilkunde« propagierte.
Psychoanalytiker wurden also aus politischen oder antisemitischen Gründen verfolgt, aber nicht, weil sie Therapie gemäß Freuds Lehre praktizierten?
Genau. Es gab auch gar keine wirkliche Alternative zur Tiefenpsychologie, weil die älteren somatischen Behandlungsmethoden innerhalb der Psychiatrie als weitgehend überholt galten. Weder die Verhaltenstherapie noch die humanistische Schule existierten zu diesem Zeitpunkt, auch psychotherapeutisch einsetzbare Psychopharmaka waren noch weitgehend unbekannt.
Aber braucht ein totalitäres Regime überhaupt eine Seelenheilkunde? Bedurfte der »arische Herrenmensch« aus Sicht der Nazis denn der Therapie?
Zumindest Matthias Göring propagierte die Psychotherapie als wichtigen Beitrag zum Erhalt der »Volksgesundheit«. Jenen, die aus rassenideologischer Sicht als schützenswert und »gemeinschaftsfähig« galten, sollte auch geholfen werden. Die »Gemeinschaftsunfähigen« hatten hingegen keinen Anspruch auf Unterstützung. Mit Kriegsbeginn änderten sich dann die Rahmenbedingungen und der Bedarf an psychotherapeutischen Leistungen erneut, denn nun galt es vor allem, die Kampffähigkeit von traumatisierten Soldaten wiederherzustellen.
Wie reagierte die Psychoanalytische Vereinigung auf die neuen Machthaber?
Nach der »Machtergreifung« kam die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft mit Billigung Freuds, seiner Tochter Anna und des Präsidenten der Internationalen Vereinigung, Ernest Jones, der geforderten »Arisierung« nach. Der Fortbestand der psychoanalytischen Bewegung, seines Lebenswerks, bedeutete Freud enorm viel. Wie viele seiner Zeitgenossen hoffte er, der Nazispuk werde bald ein Ende haben, es erschien ihm unvorstellbar, dass sich solch ein menschenverachtendes Regime an der Macht halten könnte. Der Preis für diese Unterwerfung war hoch, denn der Ausschluss langjähriger Mitglieder führte zu einer tiefen Spaltung innerhalb der psychoanalytischen Gemeinschaft.
»Manche sahen die Gefahr durch die Nazis nicht – oder wollten sie nicht sehen«
Der Psychoanalyseforscher Michael Schröter schreibt, Freud und seine Entourage wollten das Überleben der Psychoanalyse »auf dem Wege der Kooperation« sichern. Konnte dieser Plan überhaupt aufgehen?
Aus heutiger Sicht muss man sagen: nein, natürlich nicht. Aber man darf nicht vergessen, in welcher Ausnahmesituation sich die Psychoanalytische Gemeinschaft befand. Manche sahen die Gefahr, die von den Nazis ausging, entweder nicht – oder sie wollten sie nicht sehen. Wir Nachgeborenen wissen, wie die Geschichte verlaufen ist. Doch für viele Zeitgenossen war so eine Entwicklung kaum vorstellbar. Vielleicht war auch Freud ein Opfer seiner eigenen Verdrängung.
Freud floh, hochbetagt und von Gaumenkrebs gezeichnet, im Juni 1938 nach London. Warum löste man die Deutsche Psychoanalytische Vereinigung nicht auf, wie dies in den Niederlanden 1941 geschah?
Das lag einerseits sicherlich an einer tragischen Verkennung der Lage. Andererseits biederten sich einige verbliebene nichtjüdische Psychoanalytiker wie Karl Müller-Braunschweig offen dem Regime an. Man versprach, aus »verweichlichten Schwächlingen« wieder gesunde Volksdeutsche zu machen. Das hörte Matthias Göring gern, als er 1936 daranging, sein Institut zu gründen. Dieser Mann träumte davon, eine eigene »deutsche Seelenheilkunde« auf den Weg zu bringen, in die er auch Elemente der Psychoanalyse integrieren wollte.
Hätte es diese Entwicklung genauso gegeben, wenn nicht ausgerechnet der Cousin Herrmann Görings sich dafür stark gemacht hätte?
Sicherlich hatte der Name Göring großes Gewicht, wie auch viele andere Organisationen im NS-Staat von den persönlichen Verbindungen der Menschen an der Spitze abhingen. Matthias Göring verfügte über ausreichend Einfluss, um sein Institut in den Räumen der Deutschen Psychoanalytischen Gemeinschaft einzurichten und deren nichtjüdische Mitglieder in sein Institut aufzunehmen. Er war zudem maßgeblich an der Entwicklung der 1941 erlassenen ersten Diplomprüfungsordnung für Psychologie beteiligt. Wäre der Krieg nicht dazwischengekommen, hätte er womöglich ein erstes Psychotherapiegesetz auf den Weg gebracht.
Worin bestand Görings »deutsche Seelenheilkunde« genau? War das nur ein ideologiekonformes Schlagwort oder steckte ein ernsthaftes Konzept dahinter?
Görings »Seelenheilkunde« war kein neues oder geschlossenes psychotherapeutisches System, sondern verband Ansätze aus Adlers Individualpsychologie mit verschiedenen psychoanalytischen Grundlagen und Praktiken wie der freien Assoziation und Traumdeutung, die nun jedoch anders tituliert wurden. Auch das von Johann Heinrich Schultz entwickelte autogene Training erfreute sich großen Zuspruchs. Zudem gab es zeitweilig prominente ideologische Unterstützung von Carl Gustav Jung, der bis 1940 Präsident der Ärztlichen Vereinigung für Psychotherapie war und ein »arisches Unbewusstes« zu entdecken meinte. Neben solcher ideologischen Anbiederung war oft ein opportunistisches Kalkül handlungsleitend. Man wollte das Wohlwollen der neuen Machthaber gewinnen, indem man sich dem Regime als nützlich für deren Ziele präsentierte.
Und wie lief Psychotherapie in der Nazizeit ab – ging es dabei auch um die Lösung unbewusster Konflikte?
Es ist schwer vorstellbar, wie man damals in einem psychotherapeutischen Rahmen »frei assoziieren« sollte. Denn unter den Bedingungen einer Diktatur bot die ärztliche Schweigepflicht den Patienten keinen vollumfänglichen Schutz mehr. Psychotherapie, sofern sie auf mehr als kurzfristige Symptomreduktion und eine Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit abzielt, braucht Schutz und Freiheit.
Was geschah mit der akademisch-wissenschaftlichen Psychologie in jener Zeit? War der »Braindrain«, wie man heute sagen würde, hier ebenso groß?
Zahlreiche jüdische Wissenschaftler verließen das Land, manche erst nach langem Zögern. Rund ein Drittel des wissenschaftlichen Personals aus dem Feld der Psychologie wurde vertrieben, darunter der Hamburger Intelligenzforscher William Stern, Karl und Charlotte Bühler in Wien oder die Gestaltpsychologen Kurt Lewin und Max Wertheimer. Die meisten flohen in die USA. Der einzige namhafte, nichtjüdische Psychologe, der aus Solidarität seine Professur niederlegte und ebenfalls nach Amerika auswanderte, war Wolfgang Köhler. Für ein so kleines Fach, wie es die Psychologie damals war, war der Verlust also erheblich.
Manche gingen aber auch schon früher in die USA, das neue Eldorado der Seelenkunde, richtig?
Ja, es gab infolge der Wirtschaftskrise bereits eine erste Migrationswelle ab Ende der 1920er Jahre. Franz Alexander und Karen Horney etwa verließen Berlin und gründeten 1932 ein psychoanalytisches Institut in Chicago, und der Wiener Alfred Adler bekam durch einen reichen Förderer im gleichen Jahr eine Professur an der Columbia University.
Sie schreiben in einem Fachaufsatz, das Göring-Institut habe erstmals »eine Brücke zwischen Psychologie und Psychotherapie« geschlagen. Inwiefern?
Trotz der Kurierfreiheit war das psychotherapeutische Feld bis in die 1930er Jahre hinein von Ärzten dominiert. Das Psychologiestudium war an den philosophischen Fakultäten angesiedelt, endete mit dem Doktorat und war auf die Forschung und nicht die Berufspraxis hin ausgerichtet. Dies begann sich zu ändern, als man am Göring-Institut eine Ausbildung zum »behandelnden Psychologen« und zum »beratenden Psychologen« entwickelte. Parallel dazu wurde an den Universitäten 1941 eine vereinheitliche Diplomprüfungsordnung für Psychologie eingeführt. Die Absolventen dieses stärker praxisorientierten Studiums sollten schneller und reibungsloser in der Wehrmacht, der Industrie und eben auch im klinischen Feld eingesetzt werden.
Von wie vielen Psychologen sprechen wir?
Es waren bei Weitem nicht solche Massen wie heute mit aktuell mehr als 100 000 Studierenden im Fach Psychologie. Es gibt hierzu keine offiziellen Statistiken, aber wir gehen um 1940 von einer niedrigen dreistelligen Zahl an praktischen Psychologen aus, wobei die meisten von ihnen in der Wehrmacht tätig waren. Die Zahl der Ausbildungskandidaten am Göring-Institut bewegte sich im zweistelligen Bereich, wuchs aber kontinuierlich bis Kriegsende an.
Was wäre aus Görings »deutscher Seelenheilkunde« geworden, wenn der Krieg anders verlaufen oder ausgeblieben wäre?
Die gesamte NS-Diktatur war von Anfang an auf Terror und Krieg ausgerichtet. Die permanente Mobilisierung der Bevölkerung, die massive Aufrüstung der Wehrmacht, die Ankurbelung der Rüstungsindustrie, das alles lief letztlich auf einen Eroberungs- und Vernichtungsfeldzug hinaus. Insofern erscheint die Vorstellung eines »friedlichen« NS-Staats, in dem der »gesunde Volkskörper« auch psychotherapeutisch gut versorgt worden wäre, illusorisch. Andererseits gibt es wenig Indizien dafür, dass die Nazis die Psychotherapie hätten ausschalten wollen: Solange sie aus Sicht der Machthaber praktischen Nutzen versprach und es genug Fachvertreter gab, die sich mit den Verhältnissen zu arrangieren wussten, war ihre Existenz nicht gefährdet.
»Erst mit der 68er-Bewegung entstand ein Bewusstsein dafür, dass man das Geschehene nicht ausblenden konnte«
Die Naziführung war vor allem an praktischer Psychologie interessiert: Im Zentrum standen die Wehrtauglichkeit, Begutachtung, Auslese von Menschen für Industrie und auch für die »Euthanasie«. War der Beruf des Psychologen ein Produkt der Nazizeit?
Nein, es gab schon vor 1933 praktisch tätige Psychologen sowie »Psychotechniker«, beispielsweise in der Industrie, der Erziehungsberatung oder im Militär. Jedoch erhielten das psychologische Berufsbild und die Ausbildung damals einen entscheidenden Professionalisierungsschub. Dazu zählt auch die Einführung der Diplomprüfungsordnung 1941, die nach Kriegsende in West- und Ostdeutschland bestehen blieb und noch viele Jahre die Grundlage des Psychologiestudiums bildete. Und auch die am Göring-Institut eingeführten »behandelnden Psychologen« waren nach Kriegsende weiter praktisch tätig.
Waren solche Praktiken der Grund dafür, weshalb die Aufarbeitung der Nazigeschichte des Fachs nach dem Krieg unterblieb?
Eine ernsthafte systematische Beschäftigung mit der Geschichte der deutschen Psychologie während des Nationalsozialismus setzte erst in den 1980er Jahren ein, denn viele Ordinarien waren nach dem Krieg in Amt und Würden geblieben und zeigten wenig Interesse, über ihre Karriere während der NS-Zeit zu sprechen. Es bedurfte eines Generationenwechsels, um innerhalb des Fachs eine Kultur der Aufarbeitung und fachlichen Selbstkritik auf den Weg zu bringen. Auch heute wissen nur wenige Lehrende und Studierende der Psychologie von der Entwicklung des Fachs während der NS-Zeit.
Warum begann die Aufarbeitung so spät?
Ich glaube, dass im Westen erst mit der 68er-Bewegung ein gesellschaftliches Bewusstsein dafür entstand, dass man das Geschehene nicht einfach ausblenden, nicht bei null anfangen konnte. So veröffentlichte der Sozialpsychologe Peter Hofstätter, der während des Kriegs als Wehrmachtspsychologe tätig war, 1963 einen Beitrag in der »Zeit«, in dem er die Möglichkeit einer »Vergangenheitsbewältigung« prinzipiell in Frage stellte und für einen Verzicht auf Bestrafung der Täter plädierte. Sicherlich war hier und andernorts eine Mischung aus Scham und verdrängter Schuld bei denen im Spiel, die in den 1930er und 1940er Jahren in Deutschland praktizierten oder lehrten, was selbstverständlich nicht nur das Feld der Psychologie und Psychotherapie betrifft.
Laut dem Therapieforscher Bernhard Strauß genossen Psychotherapeuten in der DDR oft eine Art Narrenfreiheit, weil sich die SED-Führung von ihnen weder besonderen Nutzen noch Schaden für den Staat erwartete. Wie unterscheidet sich das von der Nazizeit?
Solche Vergleiche müssen immer mit großer Vorsicht behandelt werden, denn man kann und darf keinesfalls alle Diktaturen über einen Kamm scheren. Die Verfolgung von Dissidenten war unter den Nazis zweifellos brutaler als in der DDR. In den meisten poststalinistischen Staaten gab es Nischen, in denen Widerstand im Kleinen erprobt werden konnte, und dazu gehörten mancherorts auch psychotherapeutische Einrichtungen. Die Arbeits- und Ausbildungsbedingungen in der Psychotherapie erreichten in den vier Jahrzehnten DDR einen Grad an Autonomie, der im NS-Staat kriegsbedingt nicht möglich war.
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