Covid-19: Sind Krebspatienten die unsichtbaren Opfer der Pandemie?
Es ist eine bittere Zahl: 50 000 Krebsoperationen sind allein während der ersten Coronawelle ausgefallen. Aber auch zwei Jahre später hat sich die Lage noch nicht vollständig normalisiert. Für die fast 500 000 Menschen, die hier zu Lande jährlich die Diagnose »Krebs« erhalten, ist das zusätzlich belastend. Sie bangen, ob Untersuchungen, Therapien und operative Eingriffe bei hohen Corona-Fallzahlen planmäßig stattfinden können. Wie dramatisch war die Lage tatsächlich und wie stellt sie sich heute dar?
»Wie viele Krebsoperationen insgesamt verschoben wurden, lässt sich noch nicht in absoluten Zahlen ausdrücken«, sagt Volker Arndt, wissenschaftlicher Leiter des Epidemiologischen Krebsregisters Baden-Württemberg am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg. »Basierend auf Abrechnungsdaten und Meldungen aus den Kliniken gehen wir aber von einem Rückgang um etwa zehn Prozent aus.« Allerdings habe es in den Spitzenzeiten einzelner Coronawellen auch Einbrüche von bis zu 20 Prozent gegeben – zuletzt, weil die Intensivstationen Ende 2021 mit Covid-19-Patienten ausgelastet waren.
Arndt analysiert regelmäßig die Daten aus 18 onkologischen Spitzenzentren, um eine Unterversorgung rechtzeitig zu erkennen. Die Informationen übermittelt er dann an die Corona Task Force der Deutschen Krebshilfe, der Deutschen Krebsgesellschaft und des DKFZ. Die drei Einrichtungen hatten zu Beginn der Pandemie ein Frühwarnsystem ins Leben gerufen, nachdem die ersten Hinweise auf aufgeschobene Untersuchungen und Behandlungen eingegangen waren. Ende 2021 warnten sie in einer gemeinsamen Erklärung vor einer stillen Triage in Krebszentren, bei der überfüllte Intensivstationen zu einer ungewollten Priorisierung der Patienten führen. Laut Arndt drohte zu diesem Zeitpunkt eine solche Situation in sieben von zehn Kliniken. Aktuell sei dies nur noch bei jedem vierten Zentrum der Fall.
Negativer Spitzenreiter war Hautkrebs
Das Statistische Bundesamt geht davon aus, dass im Jahr 2020 etwa sechs Prozent weniger Menschen wegen einer Krebserkrankung im Krankenhaus behandelt wurden als vor der Pandemie. Zum Vergleich: Stationäre Behandlungen bei Rheuma oder Hals-Nasen-Ohren-Erkrankungen gingen um mehr als das Dreifache zurück. Besonders im März und April 2020 führten verschärfte Hygienemaßnahmen und das Freihalten von Klinikbetten für Covid-19-Patienten zu einer angespannten Lage in der onkologischen Versorgung. Hierbei gab es jedoch Unterschiede bei den Krebsarten: Negativer Spitzenreiter war Hautkrebs, gefolgt von Darm- und Brustkrebs.
»Krebs ist nicht weniger schlimm, nur weil es Corona gibt«, sagt Bernhard Wörmann, Arzt an der Berliner Charité und medizinischer Leiter der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO). Er setzt sich für eine klare Priorisierung derjenigen mit aktiver Krebserkrankung ein. »Wir haben inzwischen viel Erfahrung und Wissen bei den meisten Krebsarten, ob sofort gehandelt werden muss oder ob man auch zwei bis drei Wochen warten kann«, erklärt Wörmann. »Bei einem Engpass in der Versorgung muss diskutiert werden, ob bei einem Patienten das Warten vertretbar ist.« Tumorboard nennt sich die Konferenz, bei der Onkologen, Chirurgen und Radiologen die Behandlung gemeinsam planen – auch in Zeiten ohne Pandemie.
»Krebs ist nicht weniger schlimm, nur weil es Corona gibt«Bernhard Wörmann, Onkologe
Ob es Fälle gegeben habe, in denen ein Zeitverzug nicht vertretbar war, ließe sich in der Gesamtbevölkerung nicht beziffern, sagt Arndt. Während der ersten Coronawellen seien teilweise Operationstermine mit geringerer Dringlichkeit verschoben worden. »Grundsätzlich ist den Krebspatienten aber eine hohe Priorität eingeräumt worden.« Anhaltende bedrohliche Einschränkungen in der Akutversorgung sah der Wissenschaftler bei den onkologischen Spitzenzentren nicht.
Anders sieht es mit der Nachsorge aus: Die Analysen, die Arndt gemeinsam mit einem Kollegen im »Deutschen Ärzteblatt« veröffentlicht hat, zeigen hier deutliche Einschränkungen vor allem zu Beginn der Pandemie. »Heute liegt das Defizit bei der Nachsorge noch bei 15 Prozent«, sagt der Mediziner. Die Patienten erhoffen sich von diesen Untersuchungen die Bestätigung, dass weder Rezidive (Rückfälle) noch Metastasen vorhanden sind. Eine Terminverschiebung bedeutet daher für die Betroffenen »stets ein erneutes Bangen und Warten«, erklärt Hedy Kerek-Bodden. Sie ist Bundesvorsitzende der Frauenselbsthilfe Krebs (FSH), die Patientinnen in ganz Deutschland informiert und begleitet.
Wie in anderen Ländern, etwa den USA oder den Niederlanden, wurden in Deutschland während des ersten Lockdowns außerdem weniger Krebserkrankungen als üblich diagnostiziert. Viele Menschen scheinen aus Sorge, sich beim Arzt mit dem Coronavirus zu infizieren, nicht in die Sprechstunden gegangen zu sein – manche trotz Beschwerden. Die COSMO-Online-Befragung ergab, dass nahezu jeder Zweite einen anstehenden Vorsorgetermin wegen der Pandemie aufgeschoben hat. Laut einer Studie im Magazin »Cancers« lag die Zahl der Krebsdiagnosen in deutschen Hausarztpraxen im April 2020 rund 28 Prozent unter dem Vorjahreswert. Neben der Angst vor einer Infektion vermuten die Autoren, dass nicht notfallmäßige Termine in dieser Zeit auf Grund von Überlastung in den Praxen verschoben wurden.
»Heute liegt das Defizit bei der Nachsorge noch bei 15 Prozent«Volker Arndt, Epidemiologe
Ende März bis Anfang Mai 2020 setzte zudem der Gemeinsame Bundesausschuss das Mammografie-Screening zur Erkennung von Brustkrebs komplett aus. Dadurch sollten Kontakte im medizinischen Bereich reduziert werden. Die Zahl der durchgeführten Mammografien brach daraufhin im zweiten Quartal 2020 um 41 Prozent ein. Nach einer Auswertung des Wissenschaftlichen Instituts der AOK ist aber davon auszugehen, dass ein Großteil der versäumten Untersuchungen nachgeholt worden ist. Bei den Screenings auf Prostata- oder Gebärmutterhalskrebs, die zu Beginn der Pandemie um 18 und 14 Prozent einbrachen, seien hingegen keine Nachholeffekte zu erkennen. Die aktuelle Lage schätzt ein Sprecher der AOK aber so ein: »Wir gehen davon aus, dass sich die Situation bei den Früherkennungsuntersuchungen zunehmend normalisiert.«
Was ist mit jenen, deren Krebserkrankung wegen der Pandemie verspätet erkannt wurde? Laut einer Metastudie im Magazin »BMJ« kann je nach Art des Tumors bereits eine vierwöchige Verzögerung der Therapie das Sterberisiko erhöhen – um bis zu 8 Prozent bei Operationen und um bis zu 13 Prozent bei Strahlen- und systemischen Therapien. »Wir wissen aber nicht bei jedem Einzelfall, wie viel später er diagnostiziert wurde«, sagt DKFZ-Experte Arndt. Und weil auch die bisherigen Einschränkungen die Krebspatienten unterschiedlich stark betroffen haben, könne man dies nicht hochrechnen.
Erste Hinweise finden sich jedoch in den Daten des Bayerischen Krebsregisters. Demnach sank die Zahl der im Stadium I behandelten Tumoren. Besonders auffällig war dies bei Darmkrebs und Melanomen (schwarzer Hautkrebs), also Krankheiten, für die es Früherkennungsuntersuchungen gibt. Hier ging die Zahl der Operationen im Stadium I von Januar bis September 2020 gegenüber dem Zeitraum vor der Pandemie um 26 und 29 Prozent zurück. Belastbare bundesweite Zahlen aus den Krebsregistern erwartet Arndt hierzu Ende 2022.
Das System hat sich angepasst
»Die Angst vor Corona darf nicht die Behandlung einer Krebserkrankung verzögern«, betont Charité-Mediziner Wörmann. Er befürchtet, dass verspätete Diagnosen zu einer höheren Krebssterblichkeit führen könnten. »Aber das werden wir erst in ein paar Jahren wissen.« Denn: Auch wenn bei der Diagnose ein Stadium erreicht sei, in dem der Krebs nicht mehr komplett heilbar ist, werden die Patienten eine gewisse Zeit mit der Erkrankung leben können. Das sind zum Beispiel selbst bei fortgeschrittenem Brustkrebs heute mehrere Jahre.
»15 bis 20 Prozent der Ärzte und Pflegekräfte fallen aktuell wegen Quarantäne und Isolation aus«, sagt Arndt. »Die Mitarbeitenden versuchen aber mit großen Mehranstrengungen die Ausfälle zu kompensieren. Zwar erscheint die onkologische Versorgung insgesamt derzeit besser als zu Beginn der Pandemie, aber in fast allen Bereichen gibt es noch Einschränkungen in der Größenordnung von fünf bis zehn Prozent.« »Das medizinische Versorgungssystem habe jedoch auch auf die neuen Herausforderungen reagiert. Tumorkonferenzen oder Beratungstermine per Video und angepasste Therapieschemata, die bei gleicher Wirksamkeit weniger Termine erfordern und damit zu weniger Kontakten vor Ort führen, sind nur zwei Beispiele dafür. »Wir sehen derzeit, dass trotz der aktuell hohen Neuerkrankungszahlen bei Covid-19 die onkologische Versorgung fast wieder das Ausgangsniveau vor der Pandemie erreicht hat.« Ein Grund hierfür sei auch, dass Krebspatienten und andere vulnerable Gruppen bei der Impfstrategie priorisiert wurden.
»Dass sie jetzt auf einmal locker sein sollen, können sie gar nicht nachvollziehen«Bernhard Wörmann, Onkologe
Trotzdem haben die Betroffenen Angst, sich mit dem Coronavirus zu infizieren. Sie sind im Fall einer Ansteckung besonders gefährdet, denn Patienten mit einer aktiven Krebserkrankung haben ein erhöhtes Risiko, schwer an Covid-19 zu erkranken oder daran zu sterben. »Das liegt zum einen an der Erkrankung an sich, am geschwächten Organismus, aber auch an der Immunsuppression durch bestimmte Krebstherapien«, erklärt Mediziner Wörmann. Hoffnung machen aber die seit Kurzem verfügbaren neuen Medikamente, die schwere Covid-19-Verläufe verhindern sollen.
Für eine Entwarnung ist es angesichts der aktuell hohen Infektionszahlen und Lockerungen im öffentlichen Leben aber zu früh. FSH-Bundesvorsitzende Kerek-Bodden sieht die Abschaffung der Maskenpflicht zum jetzigen Zeitpunkt kritisch: »Selbst der Besuch im Supermarkt ist dann eine riskante Aktion. Es gibt viele Krebspatienten, die diese Entscheidung katastrophal finden und sich einer persönlichen Quarantänesituation ausgesetzt sehen.«
Mediziner Wörmann hingegen tritt die Flucht nach vorn an: »Wir müssen proaktiv damit umgehen. Wir kennen die Gefahren. Wir kennen die Patienten. Und wir wissen, welche Maßnahmen sie schützen.« In einer gemeinsamen Stellungnahme teilten die DGHO und andere onkologische Fachgesellschaften vor Kurzem mit, dass sich Krebspatienten unbedingt weiter durch Maske tragen, Hände desinfizieren, Abstand halten und testen schützen sollen. »Die Patienten haben zwei Jahre lang von uns gehört, auf was sie alles achten müssen. Dass sie jetzt auf einmal locker sein sollen, können sie gar nicht nachvollziehen«, sagt Wörmann. Für diese Menschen wird es also auch in nächster Zeit nicht einfacher werden. Selbst wenn sie in den Kliniken priorisiert werden – im Leben außerhalb werden sie es nicht.
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