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Kosmologisches Rätsel: Sind Neutrinos ihre eigenen Antiteilchen?

Warum gibt es mehr Materie als Antimaterie? Die leichtesten Teilchen könnten die Frage beantworten - wenn sie so genannte Majorana-Teilchen wären. Doch noch fehlen dafür Belege.
Neutrinos

Wenn es einen Preis für den sperrigsten Namen eines physikalischen Phänomens gäbe – der »neutrinolose Doppel-Betazerfall« hätte wohl gute Chancen auf einen der vorderen Plätze. Hinter dem Begriff verbirgt sich wider Erwarten eine der spannendsten Fragen der modernen Teilchenphysik. Wenn der extrem seltene radioaktive Zerfall mit dem abschreckenden Namen tatsächlich in der Natur vorkommen sollte, hätte das weit reichende Folgen für das Weltbild der Physiker.

Das erklärt vielleicht, wieso das Magazin »Nature« eine auf den ersten Blick wenig spektakuläre Forschungsarbeit veröffentlicht und für Journalisten aufbereitet hat. In ihr beschreibt ein internationales Forscherteam, dass man trotz mühsamer Suche in einem Untergrundlabor keinerlei Hinweise auf den seltenen Zerfall gefunden habe. Der neutrinolose Doppel-Betazerfall bleibt somit bis auf Weiteres das, was er seit Jahrzehnten ist: eine bei Physikern sehr populäre Hypothese.

Sie geht auf einen italienischen Physiker namens Ettore Majorana zurück, der 1938 unter rätselhaften Umständen verschwand. Zuvor hatte Majorana jedoch in einer Fachveröffentlichung vorhergesagt, dass es Elementarteilchen geben müsste, die ihre eigenen Antiteilchen sind. Das wäre ein Clou, denn normalerweise gehören Partikel zu einer von zwei Kategorien: Entweder sie sind ein Teilchen oder ein gegenteilig gepoltes Antiteilchen. Ein Beispiel sind Elektron und Positron, die sich bis auf ihre elektrische Ladung gleichen.

Begegnen sich zwei Majoranas, löschen sie sich aus

Wenn sich die beiden allerdings begegnen, löschen sie sich gegenseitig in einem Energieblitz aus. Majorana-Teilchen hätten hingegen kein Antiteilchen – sie wären identisch mit diesem. Das bedeutet: Wenn sich zwei von ihnen begegnen, würden sie sich ebenso gegenseitig auslöschen wie Materie und Antimaterie.

Physikern sind bisher jedoch keine Partikel mit dieser skurrilen Eigenschaft untergekommen – zumindest wenn man von mit viel Mühe hergestellten Mehr-Teilchen-Zuständen in ultrakalten Festkörpern absieht (so genannte Quasi-Teilchen), die Majorana-Eigenschaften aufweisen. Ob es Partikel, die ihr eigenes Antiteilchen sind, hingegen auch als natürlich vorkommende Elementarteilchen gibt, ist nach wie vor ungeklärt.

Physiker haben allerdings einen Verdacht, welches Teilchen hier in Frage käme: Neutrinos sind zwar schon lange bekannt, und es scheint auch Antiteilchen von ihnen zu geben, die Antineutrinos. Aber was die genauen Eigenschaften der flüchtigen Teilchen anbelangt, bleiben noch viele Fragen offen. So waren Wissenschaftler sehr überrascht, als sich vor einiger Zeit herausstellte, dass Neutrinos mitnichten masselos sind, wie lange vermutet, sondern wohl eine sehr kleine Masse haben.

Eine populäre Erklärung dafür setzt im frühen Universum an, unmittelbar nach dem Urknall. Damals sollte ein so genannter Seesaw-Mechanismus die Neutrinomasse klein gehalten haben – als Kompensation für die Masse von sehr viel schwereren, mittlerweile längst in andere Teilchen zerfallenen Neutrinovarianten. Hier kommt nun Ettore Majorana ins Spiel: Damit der Seesaw-Mechanismus richtig funktioniert und unter anderem die Dominanz gewöhnlicher Materie im heutigen Universum erklären kann, muss das Neutrino die Majorana-Eigenschaft besitzen.

Seit drei Jahrzehnten fehlt jede Spur der Majoranas

Auch andere Erweiterungen des Standardmodells der Teilchenphysik, mit dem Physiker den Mikrokosmos beschreiben, basieren auf der Annahme, dass das Neutrino sein eigenes Antiteilchen ist. Sollte nun eine Messung diese Hypothese Ettore Majoranas bestätigen, würde das Forscher darin bestärken, dass sie mit diesen Theorien auf dem richtigen Weg sind. Entsprechend erpicht sind sie auf einen experimentellen Nachweis der Majorana-Vermutung.

Und der ist prinzipiell möglich. Denn glücklicherweise gibt es eine subatomare Reaktion, die nur stattfinden kann, wenn Neutrinos Majorana-Teilchen sind. Wissenschaftler suchen seit drei Jahrzehnten nach Spuren ebenjenes neutrinolosen Doppel-Betazerfalls. Er ist eine Variante des gewöhnlichen Doppel-Betazerfalls. Bei ihm wandeln sich zwei Neutronen in einem Atomkern in Protonen um, wobei sie jeweils ein Elektron und ein Antineutrino aussenden.

GERDA-Kupferhalterung | Blick von unten in den GERDA-Detektor. Zu sehen ist die Kupferhalterung für die Germaniumdetektoren. Mit ihnen soll sich der extrem seltene neutrinolose Doppel-Betazerfall nachweisen lassen.

Ist das Neutrino mit seinem Antineutrino identisch, sollte bei diesem Doppelzerfall manchmal eines der Antineutrinos vom anderen zerfallenden Neutron absorbiert werden. Vereinfacht kann man es sich auch so vorstellen, dass sich die beiden Antineutrinos gegenseitig auslöschen – was sie aber nur können, wenn sie Majorana-Teilchen sind.

Das Problem ist, dass der neutrinolose Doppel-Betazerfall wenn überhaupt nur sehr, sehr selten stattfindet. Bisherige Messungen hätten den Prozess aufgespürt, wenn er eine Halbwertszeit von weniger als etwa 1026 Jahren hätte. Nach dieser unvorstellbar langen Zeitspanne wäre also noch mehr als die Hälfte der Neutronen vorhanden, wenn der neutrinolose doppelte Betazerfall ihre einzige Zerfallsmöglichkeit ist.

Das nun in »Nature« gewürdigte Experiment GERDA (GERmanium Detector Array) nutzt für die Suche nach dem Zerfall 37 insgesamt 36 Kilogramm schwere Germaniumkristalle in einem Argontank unter dem Gran Sasso D'Italia. Das Isotop Germanium-76 eignet sich besonders gut für die Suche, weil in dem Material gewöhnliche Betazerfälle nicht auftreten. Das Team, an dem unter anderem das Max-Planck-Institut für Kernphysik und die Universität Tübingen beteiligt sind, hat den Detektor in den vergangenen Jahren ausgebaut und verbessert. 2013 konnten sie bereits schon einmal keine Spuren des Betazerfalls aufspüren.

Nun aber haben die Forscher ihren Detektor so weit verfeinert, dass kaum noch natürliche Radioaktivität, kosmische Strahlung und andere Umwelteinflüsse die extrem sensitiven Messungen verfälschen. Damit sei die Technik konkurrierenden Suchmethoden überlegen, schreiben die Forscher. Insbesondere könne man einen Germaniumdetektor nach dem Vorbild von GERDA nun gut vergrößern und so die Nachweiswahrscheinlichkeit erhöhen. Ein entsprechendes Upgrade auf die sechsfache Germaniummasse ist bereits in Planung, langfristig träumen die Forscher von einem eine Tonne schweren Detektor.

Dabei haben sie jedoch Konkurrenz, etwa vom KamLAND-Zen-Experiment in Japan, das nach wie vor Rekordhalter für die sensitivste Suche nach dem seltenen Zerfall ist, dem Enriched Xenon Observatory in New Mexiko oder dem Experiment CUORE, das im selben Untergrundlabor wie GERDA unter dem Gran Sasso d'Italia steht. Ob alle Teams ihre Detektoren vergrößern können, ist derzeit offen. Die nächste Generation der Geräte sei teuer, schrieb der Physiker Reyco Henning im Jahr 2016 in einem Übersichtsartikel, weshalb wohl nicht alle Ideen umgesetzt werden könnten. Dennoch wird man in den nächsten Jahren vielleicht mehr darüber erfahren, ob der Zerfall mit dem sperrigen Namen mehr ist als eine faszinierende Vermutung.

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