Raumfahrt: Frischer Wind für Sonnensegel
Alles begann mit dem Debakel von Cosmos-1. Am 21. Juni 2005 flog dieses bisher größte Sonnensegel der Geschichte mit einer russischen Rakete gen Orbit. Es sollte ein ambitionierter Test eines neuen Antriebs für die Raumfahrt werden. Aber die Rakete stürzte schon Minuten später zurück ins Meer – und Cosmos-1 landete am Grund des arktischen Ozeans. Die Pläne für Sonnensegel wurden eingemottet; die Zeit schien noch nicht reif zu sein.
Ein Jahrzehnt später gibt es nun einen weiteren Anlauf, die Raumfahrt mit Segeln im All grundlegend zu verändern: Der Nachfolger des desaströsen Cosmos-1 stand im Mai 2015 auf einer Startrampe. Auch wenn diese im Vergleich zu ihrem Vorgänger vielfach geschrumpft worden war. Die Mission namens LightSail-A war als so genannter CubeSat kaum größer als ein Milchkarton und wog beim Start nur einen Bruchteil ihres Vorgängers. Doch das hatte Vorteile: Gerade 1,2 Millionen US-Dollar musste der Verein Planetary Society dafür von Spendern einsammeln, kaum vergleichbar mit einem gewöhnlichen tonnenschweren Satelliten. Ein weiterer Vorteil ist das Segel selbst – denn es ist mit 32 Quadratmetern 20-mal kleiner als beim Vorgänger.
Eine 90 Jahre alte Idee
Die Idee für solche Sonnensegel ist älter als das Raumfahrtzeitalter selbst. Entsprechend sind die Namen von Pionieren damit verknüpft. Der russische Vordenker Konstantin Ziolkowski machte in den 1920er Jahren erste Vorschläge für die Segeltechnik im All. Anders als das Wort vermuten lässt, nutzen die Segel allerdings nicht den Sonnenwind aus geladenen Teilchen, sondern das Sonnenlicht selbst. Die Photonen treffen darauf und werden zurückgeworfen, also reflektiert, und bewirken so einen schwachen Schub.
Einmal gestartet, könnte eine durchs All segelnde Raumsonde jede Menge Treibstoff einsparen. Die Kometensonde Rosetta etwa trug nach dem Abheben noch 1,6 Tonnen davon mit sich, zehnmal mehr als das Gewicht ihrer wissenschaftlichen Instrumente. Masse, die eine Mission schlagartig günstiger oder wissenschaftlich potenter machen könnte. Die von der Sonne übertragene Kraft ist gegenüber Rosettas konventionellen chemischen Triebwerken zwar äußerst gering: Beim Segel der Testsonde LightSail-A entsprach der Schub rechnerisch der Gewichtskraft eines Pfefferkorns. Aber diese Beschleunigung würde reichen, um im Sonnensystem voranzukommen. So genannte Sample-Return-Missionen könnten ohne große Raketentriebwerke Material von Asteroiden zur Erde bringen. Denn durch eine Schrägstellung des Segels lässt sich eine Raumsonde auf ihrer Bahn bremsen und somit quasi gegen die Sonnenstrahlung ins Innere des Planetensystems befördern. In 18 Monaten könnte eine Mission problemlos den Merkur erreichen. Selbst Flüge an den Rand des Sonnensystems wären rechnerisch möglich, wenn nur die Segel ausreichend groß sind.
"Das war ein wilder Ritt"
David Spencer
Die US-Mission LightSail-A war derweil planmäßig in eine zu tiefe Umlaufbahn gestartet, um überhaupt der Erdschwere entkommen zu können: Rund 400 Kilometer über dem Erdboden reiben zu viele Teilchen der Atmosphäre an einem Segel, das so schnell wieder abgebremst und dadurch nach unten gelenkt wird. LightSail-A sollte aber ohnehin nur demonstrieren, dass sich das Segel im All entfalten lässt. Das jedoch misslang beinahe. Zwei Wochen nach dem Start taumelte die kleine Sonde unkontrolliert auf ihrer Bahn, bis das kritische Kommando doch noch ankam und das Segel ausfuhr. "Das war ein wilder Ritt", gibt Missionsmanager David Spencer zu. Am 14. Juni verglühte LightSail-A in der Atmosphäre.
Einen Monat später startete die zweite Segelmission des Jahres, das europäische DeOrbitSail. Ziel des von der Europäischen Union geförderten CubeSat ist es ebenfalls noch nicht, direkt im Sonnenlicht zu segeln. Stattdessen soll er erproben, wie gut der aufgefaltete Schirm den Satelliten wieder gen Boden zieht, damit er schneller verglüht. Damit wollen Ingenieure eine Idee erproben, das Problem des Weltraumschrotts im Erdorbit zu entschärfen. "Die gleiche Technik lässt sich im freien Raum aber auch als Segelantrieb verwenden", sagt der an der Mission beteiligte Ingenieur Martin Hillebrandt vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt. Bisher hatte das Team allerdings weniger Glück als die Amerikaner: DeOrbitSail erreichte zwar einen Orbit, ließ sich bis aber heute nicht entfalten.
Entfalten des Segels ist der kritische Punkt
Das Entfalten eines Segels im All gehört zu den kritischsten Manövern – und es fordert Ingenieure bis heute heraus. Das genutzte Segelmaterial ist eine gerade einmal 0,0075 Millimeter starke Folie, zehnmal dünner als ein menschliches Haar. Sie besteht aus so genanntem biaxial orientiertem Polyester, auch bekannt unter dem Markennamen Mylar. Das ist gleichzeitig extrem leicht und doch stabil genug, um sich für den Transport in einer Rakete zusammenfalten und hoffentlich im All auch wieder auffalten zu lassen. Während die Sonde schnell rotiert, werden meist vier meterlange Metallträger nach außen gedrückt, die ihrerseits jeweils ein Dreieck des Segels aufspannen. Das muss klappen: Denn schon aus Platzgründen kann kein Ersatzsegel mitgenommen werden, anders als bei vielen anderen kritischen Systemen einer Raumsonde.
Rekordhalter beim Segeln im All ist bislang Japans Raumfahrtagentur JAXA. Sie schaffte es 2010 mit ihrer Mission IKAROS erstmals, ein Raumfahrzeug im interplanetaren Raum allein durch das Sonnenlicht zu steuern. IKAROS ist eine 300 Kilogramm schwere Sonde, die von einer 170 Quadratmeter großen Folie umgeben ist. Darauf sind Dünnschicht-Solarzellen für die Stromversorgung eingelassen. Dazu lässt sich IKAROS im Sonnenlicht ausrichten, indem die Außenkanten des Segels wie ein Computerbildschirm heller oder dunkler gemacht werden. Dadurch wirft es mehr oder weniger Licht zurück – und wird so an den Kanten stärker oder schwächer ausgelenkt. Das klappt gut: Bis heute kreist IKAROS um die Sonne und meldet sich trotz Alterserscheinungen regelmäßig bei der Erde. Das Sonnenlicht beschleunigte die Sonde in den letzten fünf Jahren um über 400 Meter pro Sekunde.
Bis heute verfolgen die Japaner die ehrgeizigsten Pläne mit Sonnensegeln. Um das Jahr 2022 will die JAXA erstmals eine 1,3 Tonnen schwere Sonde ins Planetensystem segeln lassen, Richtung Jupiter. Sie soll mehrere so genannte Trojaner-Asteroiden anfliegen und über viele Jahre aktiv bleiben. "Eine derart ausgedehnte Mission ließe sich überhaupt nicht mit den heute gebräuchlichen chemischen oder elektrischen Antrieben realisieren", sagt Osamu Mori, der die IKAROS-Mission geleitet hat. Denn der Treibstoffbedarf wäre immens. Der Raumfahrtingenieur gibt aber auch zu, dass das Segel der geplanten Raumsonde die bisherigen Dimensionen sprengt. Es müsste mit 2500 Quadratmetern zehnmal größer sein als beim Vorgänger. "Das ist wohl die größte Herausforderung für das Projekt", sagt Mori.
Ein ehrgeiziger Plan und viele Zweifel
Es sind die fehlenden Erfahrungen beim Entfalten riesiger Segel, die westliche Raumfahrtagenturen bisher von neuen Versuchen abhalten. Die NASA stellte 2014 ihr eigenes und ähnlich ambitioniertes Segelprojekt Sunjammer kurzerhand ein, nach Jahren der Entwicklung. Die Europäische Raumfahrtagentur ESA verfolgt zwar ein eigenes Programm für Sonnensegel, es befindet sich aber noch im Versuchsstadium ohne konkretes Startdatum. Den eigenen Forschungssonden bleibt vorerst ein konventioneller Antrieb: "Ich sehe für die nächsten 15 Jahre keine segelgetriebene Raumsonde", sagt etwa ESA-Missionsanalytiker Rüdiger Jehn. Die ESA führte vor zehn Jahren mit dem Ionenantrieb erstmals ein neues Antriebssystem ein, verbunden mit hohen Investitionen. Und die bleiben nun gemeinsam mit chemischen Raketenmotoren das Mittel der Wahl, denn die Raumfahrt ist ein konservatives Metier: Was sich seit Jahren bewährt hat, wird gern weitergenutzt. Allzu häufige Technologiesprünge sind dagegen riskant und entsprechend unbeliebt.
So bleiben neben den japanischen Plänen die Enthusiasten der Planetary Society, die derzeit fest an Sonnensegel glauben. Deren kleines Testsegel soll Anfang 2016 einen Nachfolger erhalten: Mit LightSail-B wird wiederum ein winziger CubeSat starten, der in einer Bahnhöhe von mehr als 700 Kilometern nun auch die treibende Kraft des Sonnenlichts spüren soll.
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