Kosmische Singularitäten: Hartnäckige Unendlichkeiten im Gefüge der Raumzeit

Die moderne Physik hat zwei blinde Flecken: die Geburt des Universums und das Innere Schwarzer Löcher. Ersteres wirkt wie ein Moment in der Zeit, Letzteres wie ein Ort im Raum. Aber in beiden Fällen scheinen die bisherigen Konzepte von Raum und Zeit zu versagen. Diese seltsamen Stellen bezeichnen Physiker als Singularitäten.
Singularitäten folgen aus Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie. Diese besagt, dass Materie und Energie die Raumzeit krümmen, was wiederum die uns vertraute Schwerkraft verursacht. Wenn man genug Materie auf einen kleinen Fleck quetscht, wird die Raumzeit laut Einsteins Gleichungen unendlich stark gekrümmt, wodurch auch die Schwerkraft unendliche Werte annimmt.
Die meisten Physiker glauben jedoch nicht, dass das wirklich passiert. Vielmehr gelten Singularitäten weithin als »mathematische Kuriositäten«, wie es der Physiker Hong Liu am Massachusetts Institute of Technology ausdrückt – nicht als Objekte, die im realen Universum vorkommen. Es sei ein Zeichen, dass die allgemeine Relativitätstheorie bei der Beschreibung dieser Phänomene versagt. In einer grundlegenderen Theorie, einer Quantentheorie der Schwerkraft, sollten die Singularitäten verschwinden, hoffen Fachleute.
Doch während Physiker nach einer vollständigeren Theorie suchen, indem sie die allgemeine Relativitätstheorie und die Quantenphysik zusammenführen, erweisen sich die Singularitäten als ausgesprochen hartnäckig. Der britische Mathematiker Roger Penrose erhielt im Jahr 2020 den Nobelpreis für Physik für den Nachweis, dass in einem leeren Universum unweigerlich Singularitäten auftreten. Neuere Arbeiten haben dieses Ergebnis nun auf realistischere Szenarien erweitert.
In einer 2010 erschienenen Veröffentlichung hat ein Forscher gezeigt, dass es Singularitäten auch in einem Universum mit Quantenteilchen gibt – allerdings nur für den Fall, dass die Teilchen das Raum-Zeit-Gefüge nicht verformen. Und Anfang 2025 konnte Raphael Bousso von der University of California in Berkeley schließlich beweisen, dass Singularitäten auch dann vorkommen, wenn Quanten die Raumzeit zumindest leicht krümmen, also in Universen, die unserem eigenen etwas ähnlicher sind.
Wegen dieser drei Beweise müssen sich Physiker nun mit der Möglichkeit auseinandersetzen, dass Singularitäten mehr sind als nur eine mathematische Kuriosität. Vielleicht gibt es in unserem Kosmos tatsächlich Punkte, an denen die Raumzeit so stark gekrümmt ist, dass sie nicht mehr erkennbar ist. Kein Objekt könnte diese Punkte passieren, und die Zeit würden dort stehenbleiben.
Die Schwächen der Raumzeit
Nur wenige Monate nachdem Einstein seine allgemeine Relativitätstheorie veröffentlicht hatte, entdeckte Karl Schwarzschild im Jahr 1916 erstmals eine Singularität. Es dauerte Jahre, bis die Fachwelt die bizarren Eigenschaften der »Schwarzschild-Lösung« verstanden. Dabei nimmt die Raumzeit eine Form an, die einem Strudel ähnelt: Dessen Wände werden immer steiler, je tiefer man sich hineinwagt. In der Mitte ist die Krümmung der Raumzeit unendlich groß. Ist man einmal in diesen Strudel gelangt, gibt es kein Entrinnen; nicht einmal Lichtstrahlen können der kugelförmigen Begrenzung entfliehen.
Es dauerte Jahrzehnte, bis die Fachwelt akzeptierte, dass diese unvorstellbaren Objekte, die schließlich als Schwarze Löcher bekannt wurden, tatsächlich existieren könnten.
Entscheidend dafür war eine Arbeit von Robert Oppenheimer und Hartland Snyder, die 1939 berechneten, dass die Materie eines perfekt kugelförmigen Sterns, der durch die Schwerkraft kollabiert, eine Singularität in der Raumzeit erzeugt. Reale Sterne sind aber keine perfekten Kugeln. Sie blubbern und wackeln, vor allem wenn sie implodieren. Und so fragten sich Fachleute, ob diese Unvollkommenheit Sterne daran hindern würde, Singularitäten zu bilden.
1965 machte Penrose diese Hoffnungen zunichte. Sein bahnbrechender Singularitätsbeweis stützt sich auf zwei Annahmen. Erstens braucht man eine »gefangene Oberfläche«, aus der das Licht nicht entweichen kann: Wenn man diese Oberfläche mit Glühbirnen bedeckt, werden die Lichtstrahlen schneller hineinfallen, als sie entkommen können. Zweitens sollte die Raumzeit immer so gekrümmt sein, dass sich die Lichtstrahlen aufeinander zubewegen. Das heißt, die Schwerkraft muss anziehend sein, was für positive Energien stets der Fall ist.
Mit diesen beiden Bedingungen konnte Penrose die Sterblichkeit von zumindest einem der gefangenen Lichtstrahlen beweisen. Seine Reise durch Raum und Zeit, die sonst ewig währen würde, endet in einer Singularität. An diesem Punkt hört das Raum-Zeit-Gefüge auf zu existieren; hier gibt es keine Zukunft, in die der Lichtstrahl reisen kann.
Damit lieferte Penrose eine neue Definition von Singularität, die sich von der unendlichen Krümmung der Schwarzschild-Lösung unterscheidet. Ihre allgemeine Natur ermöglichte es Penrose, auf nur drei Seiten zu beweisen, dass beide Annahmen zwangsläufig zu Singularitäten führen. »Das war die wahrscheinlich wichtigste Arbeit zur allgemeinen Relativitätstheorie, die je geschrieben wurde – abgesehen von Einsteins Originalarbeit«, urteilt der Physiker Geoff Penington von der University of California in Berkeley.
Die Geburt des Urknalls
Stephen Hawking wandte das Argument von Penrose kurze Zeit später auf das frühe Universum an. Damit konnte er beweisen, dass ein durch die allgemeine Relativitätstheorie beschriebener Kosmos aus einem singulären Punkt während des Urknalls entstanden sein muss. Diese kosmologische Singularität ähnelt einem Schwarzen Loch: Würde man die Geschichte des Universums rückwärts abspielen, liefen die Lichtstrahlen zu Beginn der Zeit wie gegen eine Wand.
Im Lauf der Jahre haben Astronomen zahlreiche Hinweise darauf gesammelt, dass Schwarze Löcher existieren und das Universum durch ein Ereignis begann, das einem Urknall ähnelt. Aber handelt es sich dabei wirklich um Raum-Zeit-Singularitäten?
Viele Physikerinnen und Physiker glauben nicht daran. Wenn man das Schicksal eines Teilchens berechnen möchte, das sich einer Singularität nähert, versagt die allgemeine Relativitätstheorie. Die Gleichungen geben unmögliche, unendliche Antworten aus. »Die Singularität ist ein Mangel an Vorhersagbarkeit«, sagt Liu. »Die Theorie bricht einfach zusammen.« Ein reales Teilchen muss aber irgendeine Art von Schicksal haben. Daher braucht die Physik eine vollständigere Theorie, die dieses vorhersagt.
Die allgemeine Relativitätstheorie ist eine klassische Theorie: Die Raumzeit hat zu jedem Zeitpunkt eine eindeutig definierte Form. Materie folgt hingegen den Regeln der Quantenphysik. Sie kann zum Beispiel mehrere Zustände gleichzeitig annehmen – eine Überlagerung genannte Eigenschaft. Da Materie die Raumzeit krümmt, gehen Fachleute davon aus, dass Teilchen, die sich in einer Überlagerung aus zwei verschiedenen Orten befinden, die Raumzeit ebenfalls in einen überlagerten Zustand aus zwei Geometrien führen. Demnach müsste auch die Raumzeit den Regeln der Quantenphysik folgen. Aber eine solche Quantentheorie der Schwerkraft gibt es bislang noch nicht.
Der Weg ins Innere der Zwiebel
Physiker arbeiten sich bei der Suche nach einer solchen Theorie wie beim Schälen einer Zwiebel Schicht für Schicht vor. Jede steht für eine vereinfachte Beschreibung des Universums. Je tiefer man vordringt, desto mehr Wechselwirkungen zwischen Quantenmaterie und Raumzeit werden erfasst, bis man irgendwann ins Innere der Zwiebel angelangt, das unseren realen Kosmos vollständig beschreibt.
Penrose arbeitete an der äußersten Schicht: Er betrachtete die allgemeine Relativitätstheorie ohne jegliche Materie. Und er konnte zeigen, dass das Raum-Zeit-Gefüge in diesem Fall Singularitäten enthält. Doch was passiert, wenn man die Quantennatur von Materie berücksichtigt? »Physiker spekulierten, dass Quanteneffekte die Singularität irgendwie beheben sollten«, erklärt Penington.
In den späten 2000er Jahren machten sie erste Fortschritte. Bislang beschränkte die zweite Annahme von Penrose – die immerzu positive Energie – seinen Beweis auf die äußerste Zwiebelschicht. In der klassischen Physik ergibt diese Annahme zwar Sinn, nicht jedoch in der Quantenmechanik. Denn bei Quantenphänomenen wie dem Casimir-Effekt kann die Energie zumindest vorübergehend negative Werte annehmen. Außerdem spielen negative Energien eine entscheidende Rolle bei der Art und Weise, wie Schwarze Löcher Strahlung abgeben und schließlich verdampfen.
Aron Wall von der University of Cambridge war der Erste, der weiter in die Zwiebel vordrang. Um sich von der zweiten Annahme von Penrose zu verabschieden, musste er auf ein Ergebnis von Jacob Bekenstein aus den 1970er Jahren zurückgreifen.
Entropie und Schwarze Löcher
Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass der Inhalt eines Raumbereichs mit der Zeit immer weiter durcheinandergerät. Mit anderen Worten: Die Entropie, ein Maß für diese Durchmischung, nimmt stets zu. Als Bekenstein einen Bereich mit einem Schwarzen Loch untersuchte, stellte er fest, dass dessen Entropie aus zwei Quellen stammt. Da ist zum einen die Anzahl der Möglichkeiten, wie sich die Quantenteilchen um das Schwarze Loch anordnen könnten – das entspricht dem klassischen Verständnis von Entropie. Überraschenderweise besitzt aber auch das Schwarze Loch Entropie. Deren Menge hängt von seiner Oberfläche ab. Die Gesamtentropie des Raums ist also die Summe aus der Oberfläche des Schwarzen Lochs plus der Entropie der umgebenden Quantenteilchen. »Wall machte es sich zur Aufgabe, das zu verstehen«, sagt Raphael Bousso. »Er dachte viel klarer und besser darüber nach als jeder andere.«
Um ins Innere der Zwiebel vorzudringen, musste Aron Wall negative Energien und Quantenteilchen berücksichtigen. Dafür nahm er sich eine Oberfläche der Raumzeit vor und addierte die Entropie der Quantenteilchen, so wie es Bekensteins Gesetz beschrieb. Als er das Singularitätstheorem von Penrose auf diese Weise überarbeitete, hatte es Bestand. Singularitäten tauchten auch in Gegenwart von Quantenteilchen und negativen Energien auf. Im Jahr 2010 veröffentlichte Wall seine Ergebnisse. »Das war ein Durchbruch bei der Kombination von Quantenmechanik und Gravitation«, sagt Penington.
Nachdem er die äußerste, klassische Schicht der Zwiebel abgeschält hatte, erreichte Wall die erste, leicht quantisierte Schicht darunter, einen semiklassisch genannten Bereich. In einer semiklassischen Welt steuert die Raumzeit die Bewegung der Quantenteilchen, reagiert allerdings nicht darauf. Ein semiklassisches Schwarzes Loch strahlt beispielsweise Teilchen ab, aber die Raumzeit wird dadurch nicht beeinflusst. Das Schwarze Loch wird in dieser Beschreibung also niemals schrumpfen.
Einige Jahre später erkannte Raphael Bousso, dass sich Walls Beweis erweitern lässt. Der Physiker wollte die Argumentation auf eine Welt anwenden, in der Schwarze Löcher durch die abgegebene Strahlung kleiner werden. In diesem Szenario würde das Raum-Zeit-Gefüge auch auf Quantenteilchen reagieren. Er verfeinerte dafür die mathematischen Methoden, an denen Wall und andere Kollegen seit 2010 arbeiteten, und veröffentlichte im Januar 2025 seinen neuesten Beweis: Die Singularitäten bleiben auch in diesem Szenario bestehen.
»Allein durch das Hinzufügen kleiner Quantenkorrekturen kann man die Singularität nicht verhindern«Geoff Penington, Physiker
Die von Bousso untersuchte Welt unterscheidet sich noch immer von unserem Universum. Zum Beispiel nimmt er bei seinen Berechnungen an, dass es unendlich viele verschiedene Teilchen gibt. Das lässt manche Fachleute daran zweifeln, dass das Modell die Realität mit bloß 17 bekannten Elementarteilchen besser beschreibt als Walls Ergebnis.
Andere sehen in Boussos Arbeit einen weiteren Hinweis darauf, dass sich Singularitäten nicht vermeiden lassen – selbst in Raumzeiten, die zumindest leicht mit Quantenmaterie wechselwirken. »Allein durch das Hinzufügen kleiner Quantenkorrekturen kann man die Singularität nicht verhindern«, erläutert Penington.
Die echte Singularität
Boussos Theorem beweist nicht, dass unser Universum Singularitäten enthält. Einige Fachleute hoffen weiterhin, dass die seltsamen Konstrukte irgendwie verschwinden. Was wie eine Singularität aussieht, könnte in Wirklichkeit eine verborgene Verbindung zu einem anderen Ort sein: Vielleicht landen die verschwundenen Lichtstrahlen in einem anderen Universum.
Falls sie Recht behalten und keine Urknallsingularität existiert, könnte unser Universum mit einem »Big Bounce« begonnen haben. Dann zog sich ein früheres Universum, als es unter der Schwerkraft kollabierte, nicht zu einer Singularität zusammen, sondern ging in eine Phase der Expansion über. Physiker, die an solchen Theorien arbeiten, nutzen oft die Methoden der semiklassischen Physik. Sie greifen auf Quanteneffekte mit negativer Energie zurück, um die von Penrose beschriebenen Singularitäten zu umgehen. Doch die Arbeiten von Wall und Bousso zeigen, dass die Bounce-Modelle in diesem Fall das Entropie-Gesetz von Bekenstein brechen.
Surjeet Rajendran von der Johns Hopkins University entmutigt das nicht. Für ihn ist Bekensteins Erkenntnis nicht in Stein gemeißelt. Wenn man sie ablehnt, verschwinden die Singularitäten – und die Raumzeit lässt sich problemlos fortsetzen.
Andere Singularitätsskeptiker berufen sich auf die unbekannte Theorie im Innersten der Zwiebel, einer vollständigen Quantentheorie der Schwerkraft. Bei dieser kann nichts als selbstverständlich angesehen werden. In einer solchen Theorie lässt sich zum Beispiel das Konzept der Fläche nur schwer definieren – somit ist also unklar, wie Bekensteins Entropie-Gesetz in diesem Fall aussieht. Daher sind die bisherigen Singularitätstheoreme wahrscheinlich nicht auf eine Quantengravitationstheorie anwendbar.
Bousso und gleichgesinnte Physiker vermuten jedoch, dass auch in einer Quantentheorie der Schwerkraft Singularitäten auftauchen. Der Beginn des Kosmos und das Innere Schwarzer Löcher markieren ihrer Meinung nach tatsächlich Grenzen, an denen die Zeit stillsteht und der Raum aufhört.
In diesem Fall würde die noch unbekannte Quantentheorie der Schwerkraft keine Singularitäten auslöschen, sondern sie bloß entmystifizieren. Damit könnten die Fachleute völlig neuen Fragen nachgehen, in denen bisherige Raum-Zeit-Größen wie Position, Krümmung und Zeitdauer ihre Bedeutung verlieren. Dort, wo die Zeit endet, müssten andere Konzepte ihren Platz einnehmen.
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