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Sitting Bull: Sein Name selbst ist machtvoll

Vor 130 Jahren starb Sitting Bull. Der Lakota-Häuptling führte die Indianer zu ihrem größten Sieg und verlor nicht einmal als Zirkusnummer sein brandgefährliches Charisma.
Sitting Bull um das Jahr 1883

Mehrere Eisenbahnzüge braucht es, um alle Gäste in die Einöde Montanas zu verfrachten. Einige tausend Schaulustige müssen es sein, darunter sogar Expräsident Ulysses S. Grant und Würdenträger aus Europa. Sie alle wollen dabei sein, wenn die neue Eisenbahnverbindung zwischen den Großen Seen im Osten und der Pazifikküste im Westen eingeweiht wird.

Einem der Ehrengäste ist es an diesem 8. September 1883 vermutlich alles andere als festlich zu Mute. Für Sitting Bull, dem damals schon legendären Anführer der Lakota, symbolisiert die neue Bahnstrecke den Verlust seiner Heimat. Noch elf Jahre zuvor hat er Vermessungstrupps vertrieben, die schließlich mit militärischer Rückendeckung zurückkamen, um eine kompromisslose stählerne Linie quer durch indianisches Land zu ziehen. Dass auch ihm eine Einladung zum Eröffnungsfest zukommt, muss dem 52-Jährigen wie blanker Hohn erscheinen. Zu allem Überfluss war sie mit der Bitte verbunden, doch ein paar Worte an die Feiergesellschaft zu richten.

Seine Ansprache fällt anders aus als erwartet: »Ich hasse alle weißen Menschen. Ihr seid Diebe und Lügner. Ihr habt uns unser Land genommen und uns zu Ausgestoßenen gemacht«, sagt er in seiner Muttersprache und lässt weitere bittere Worte der Wahrheit und Wut folgen. Zwischendurch macht er Pausen, lächelt und gibt den Zuhörern Zeit zum Applaus. Nur einen bringt die Rede ins Schwitzen. »Schließlich setzte er sich, und der bestürzte Dolmetscher trat ans Rednerpult. Der Offizier hatte nur ein paar liebenswürdige Phrasen übersetzt und notiert, doch er fügte einige abgedroschene indianische Metaphern hinzu und brachte damit die Zuhörer dazu, aufzuspringen und Sitting Bull eine Ovation darzubringen«, schreibt der US-amerikanische Sachbuchautor Dee Brown in seinem berühmten Werk »Bury My Heart at Wounded Knee« (»Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses«).

Auch wenn diese Begebenheit möglicherweise nicht wirklich genau so stattgefunden hat, es könnte sich auch um die Grundsteinlegung des Kapitols von Bismarck, der Hauptstadt North Dakotas, gehandelt haben, so verbildlicht sie doch, mit welcher Unerbittlichkeit, aber auch mit welchem Scharfsinn der Mann, der heute vor 130 Jahren starb, Widerstand leistete. Sowohl als Krieger als auch als spiritueller und politischer Führer setzte er sich gegen die Eindringlinge mit den europäischen Wurzeln zur Wehr, die die Lebensweise und die Kultur der Indianer systematisch zu vernichten trachteten. »Jeder spricht über Sitting Bull und ob er nun eine Galionsfigur oder ein unvergleichliches Mysterium ist, sein gegenwärtiger Einfluss ist unzweifelhaft. Sein Name selbst ist machtvoll«, schrieb etwa der Journalist John Finerty 1879 in der »Chicago Times«.

»Springender Dachs«, »der sich langsam bewegt«

Dabei trug er in den ersten Lebensjahren einen ganz anderen Namen. Der spätere Anführer kam um das Jahr 1831 zur Welt und hieß zunächst Jumping Badger (»Springender Dachs«). Bereits als Kind zeichnete er sich durch sein überlegtes Vorgehen aus, weshalb ihn seine Familie und Freunde auch Hunkesni – »der sich langsam bewegt« – nannten. Sein Vater gab während einer Zeremonie, die den 14-jährigen Sohn in den Kreis der Krieger einführte, seinen eigenen Namen weiter. Tȟatȟáŋka Íyotake lautet er in der Sprache der Lakota. Man spricht die »t« darin mit einem leichten Reibelaut im Rachen aus, das zweite »a« durch die Nase. Die knappe englische Übersetzung »Sitting Bull« verkürzt dessen Bedeutung – gemeint ist damit vielmehr »der Bisonbulle, der sich setzt, um über die Herde zu wachen«.

Der Vater, der sich ab diesem Zeitpunkt Jumping Bull nannte, führte mit anderen Männern die Hunkpapa, eine von insgesamt sieben Gruppen, die zusammen den Stamm der Lakota bildeten. Dessen etwa 20 000 Angehörige verband eine gemeinsame Kultur und Sprache, ein Dialekt aus der Familie der Sioux-Sprachen. Die Lakota lebten in der Prärie der nördlichen Great Plains, zwischen dem Missouri und den Rocky Mountains, wo sie die großen Bisonherden jagten. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war das Gebiet weitgehend unangetastet von weißen Eindringlingen, die Kontakte eher friedlich vorsichtig. Euroamerikanische Quellen erwähnen die Lakota erst 1825, als sie mit den Vereinigten Staaten einen Handelsvertrag unterzeichneten.

Kontakt mit den Wasichu

Auf Grund des Bevölkerungsdrucks – in dieser Zeit standen etwa elf Millionen Euroamerikaner zwei Millionen Indianern gegenüber – war die friedliche Koexistenz jedoch bald vorüber. Weiße Siedler begannen, sich auf dem Land der Indigenen niederzulassen oder es in langen Planwagenzügen Richtung Westen zu durchqueren. Zu ihrem Schutz schloss die US-Regierung mit den Lakota und weiteren Stämmen, wie den Arapaho, den Assiniboine und den Cheyenne, 1851 den Vertrag von Fort Laramie. Die Indianer sollten den Siedlern unbehelligte Passage garantieren und dafür jährliche Gegenleistungen im Wert von 50 000 Dollar erhalten. Ursprünglich war diese Summe für 50 Jahre festgelegt, der Senat reduzierte den Zeitraum schließlich aber auf zehn, später sogar auf fünf Jahre. Außerdem teilten die Behörden den Indianergruppen einzelne Siedlungsgebiete zu, einerseits um sie zurückzudrängen und andererseits um zu unterbinden, dass sie sich untereinander bekämpften.

Ein Siedlertreck in die Black Hills | Mit langen Planwagenkonvois arbeiteten sich die Siedler in die Indianergebiete vor – oder passierten sie auf dem Weg nach Kalifornien. Gegen die Attacken der Indianer sollten Armeestützpunkte helfen, zudem versuchte man die Indigenen durch Verträge zu binden.

Schon die Unterzeichnung des Vertrags begleiteten allerdings erhebliche Meinungsverschiedenheiten: »Während die Indigenen hauptsächlich bestehende Missstände hatten besprechen wollen und die Zahlungen als Kompensation für diese verstanden, sah die US-Regierung den Vertrag als Ausdehnung des amerikanischen Machtanspruchs«, schreibt die Nordamerika-Expertin Heike Bungert in ihrem Buch »Die Indianer«.

Die zerrissene Situation führte zu neuen Auseinandersetzungen, sowohl zwischen Indigenen und Weißen als auch innerhalb einiger Indianergruppen. Geringe Anlässe genügten mitunter, um die explosive Lage zu entzünden – wie beim so genannten Grattan-Massaker am 19. August 1854. Nachdem sich ein Rind aus einem Treck in ein Indianerdorf verlaufen hatte und dort getötet worden war, drang der Offizier John Grattan mit einem Trupp Soldaten in die Siedlung ein und forderte die Herausgabe des Schuldigen. Der Häuptling Conquering Bear verweigerte dies, bot aber als Entschädigung ein Pferd an. Den Vorschlag lehnte ein Dolmetscher im Namen der Weißen ab und beleidigte dabei den indianischen Anführer. Als dieser die Gespräche entrüstet beendete, traf ihn eine tödliche Kugel in den Rücken. Die umstehenden Indianer metzelten daraufhin alle 30 Soldaten nieder.

Konflikte wie dieser führten schnell dazu, dass sich die Hunkpapa und andere Gruppen nicht mehr an den Vertrag von 1851 gebunden fühlten und auf die Materiallieferungen und Geldgeschenke der Wasichu, wie sie die Weißen nannten, verzichteten.

Kriegshäuptling und heiliger Mann

Sitting Bull, 1857 zum Kriegshäuptling aufgestiegen, war in dieser Zeit zu einem beliebten jungen Mann von Mitte 20 herangewachsen. Er hatte sich in den Kämpfen gegen die Crow, den Erzfeinden der Lakota, als Krieger ausgezeichnet und sich als besonders verantwortungsbewusst gegenüber seiner Gruppe gezeigt. »Da war etwas in Sitting Bull, das jeder mochte. Kinder mochten ihn, weil er freundlich war, die Frauen, weil er freundlich zur Familie war und familiäre Probleme lösen konnte. Männer mochten ihn, weil er tapfer war. Medizinmänner mochten ihn, weil sie wussten, dass er ein Mann war, der als Anführer in Frage kommen würde«, erzählte sein ehemaliger Stammesgefährte Robert Higheagle.

Das besondere Verantwortungsgefühl gegenüber seinem Stamm habe er bereits im Mutterleib erfahren, berichtete Sitting Bull später in einem Interview. Wakantanka, das »allumfassende Geheimnis«, die zentrale religiöse Kraft der Sioux, habe ihm damals bereits gesagt, dass er ein großer Mann sein werde, der in allen Bereichen für die anderen Indianer entscheiden würde. Solche Erfahrungen qualifizierten ihn zum Wichasha Wakan, zum »heiligen Mann«, der für Rituale zuständig war, Träume deuten und prophetische Visionen haben konnte. In dieser Rolle des spirituellen Führers – und nicht der eines Kriegshäuptlings – wird er viele Jahre später seinen Tod finden, aber auch seinen größten Triumph erreichen.

Red-Clouds-Krieg

Doch zunächst führt er seine Kriegerschar in den bewaffneten Kampf. Während die Hunkpapa in den 1850er Jahren kaum an Kampfhandlungen mit der US-Armee beteiligt waren, sollte sich das im anschließenden Jahrzehnt ändern. Zum einen war 1858 in den Rocky Mountains Gold gefunden worden, was den Durchgangsverkehr durch indianisches Land und seine unerlaubte Besiedlung wieder anwachsen ließ. Zum anderen vertrieb die US-Armee aufständische Santee-Sioux vom benachbarten Minnesota nach Westen. Das zog die befreundeten Lakota ebenfalls in den Konflikt. In seiner ersten großen Schlacht unterlag Sitting Bull gemeinsam mit rund 6000 Kriegern, die überwiegend mit Pfeil und Bogen kämpften, den 2200 gut ausgerüsteten Soldaten.

In Sitting Bull festigte sich die Überzeugung, dass es mit den Wasichu kein Auskommen geben könne. Handel für die Waren, von denen man inzwischen abhing, wie Waffen und Munition: ja. Doch weder Drohung noch Geschenke noch Friedensverhandlungen würden ihn dazu bringen, das US-Militär, Siedler oder Goldschürfer auf dem eigenen Land zu dulden. Verschwänden sie nicht, würde er kämpfen.

Sie verschwanden nicht. Und Sitting Bull kämpfte. Aber nicht mehr in offener Feldschlacht, sondern in Guerillataktik. Blitzartig griffen die Hunkpapa Stützpunkte an, stahlen Pferde, töteten Gegner außerhalb der Forts und verschwanden wieder. Diese Nadelstiche halfen den benachbarten Oglala, die unter der Führung von Red Cloud unablässig Attacken auf die Trecks auf dem Bozeman Trail ritten – jener legendären Route zu den Goldminen in den Rocky Mountains, die quer durch Lakota-Land führte. Auch die Forts, die man zum Schutz der Planwagenkonvois errichtet hatte, wurden von den Indianern belagert. Der Einsatz der beiden Lakota-Gruppen zahlte sich aus. Nach vielen Scharmützeln gaben die Weißen entnervt auf, da »Bloody Bozeman« praktisch nicht mehr passierbar war. Im April 1868 bat die US-Regierung um Friedensgespräche.

Spaltung der Stämme

Der zweite Vertrag von Fort Laramie sprach den gesamten Sioux das Gebiet des heutigen Bundesstaats South Dakota zu – inklusive der Black Hills, einem Gebirge, das den Indianern heilig war. Land des Reservats durfte nur verkauft werden, wenn drei Viertel der Bewohner zustimmten. Das Territorium war deutlich kleiner als die Fläche, auf der sich die Sioux zuvor bewegten, und es lag fernab von den Regionen, durch die die Bisons zogen. Weitere Gebiete sollten nur noch so lange ihnen gehören, bis dort keine Tiere mehr gejagt werden konnten. Die US-Regierung machte keinen Hehl daraus, dass sie die Indianer nach und nach zu einer sesshaften Lebensweise zwingen wollte; Lebensmittel- und Textillieferungen, Geld und andere Förderungen unterstützten das Vorhaben.

Die Lakota zerfielen durch den Vertrag in zwei Lager: Die einen, vertreten beispielsweise durch Red Cloud, unterzeichneten und entschieden sich für das sichere Leben im Reservat, die anderen verzichteten auf eine Unterschrift und bestanden auf ihrer Unabhängigkeit. Letztere wählten vermutlich 1869 Sitting Bull zum Kriegshäuptling der gesamten Sioux-Stammesgruppe. Ein solches Amt hatte es bisher nicht gegeben, wahrscheinlich wurde es auch nicht von allen Gruppen akzeptiert. Trotzdem unterstreicht es den Status, den der Anführer der Hunkpapa mit seiner Nichtkooperation inzwischen erlangt hatte.

Planwagen und Kavallerie | General Custer führte eine groß angelegte Expedition in die Black Hills. Als die Lakota das goldreiche Land nicht verkaufen wollten, wurde ihnen der Krieg erklärt.

Die neue Verantwortung drängte ihn aber zu einer veränderten Strategie. Er trat weitaus defensiver auf, ließ Forts unangetastet und beschränkte sich auf vereinzelte Übergriffe auf die eingangs erwähnten Bahnbauarbeiten. Dabei kämpfte er auch gegen einen gewissen George Armstrong Custer, der sich beschwerte, dass die Indianer von den Weißen durch die Hilfslieferungen ausgerüstet worden seien – ein Umstand, der auch in der Ostküstenöffentlichkeit heiß diskutiert wurde.

Jener Custer war es auch, der im Folgejahr mit einer 1200 Mann starken Expedition Gold in den heiligen Black Hills fand. Wenige Wochen später und ein Heer von Goldsuchern flutete das Indianerterritorium. Ein Kaufangebot der US-Regierung für das Gebiet samt seiner reichen Jagdgründe lehnten die Lakota erwartungsgemäß und mit Nachdruck ab. Red Cloud etwa fragte sarkastisch, warum der US-Präsident die Indianer nicht mit Rädern ausstatte, damit er sie immer dahin schieben könne, wohin er wolle. Spotted Bear, ein weiterer Anführer, stellte klar: So wie der »große Vater« in Washington einen Safe besitze, so haben auch die Lakota einen, nämlich diese Berge.

Washington ließ die Lage eskalieren. Unter dem Vorwand, die jagenden Gruppen um Sitting Bull hätten sich nicht wie zuvor angeordnet in das Reservat begeben und somit den Vertrag von 1868 – den sie nie unterzeichnet hatten – gebrochen, erklärte die US-Regierung am 1. Februar 1876 den Krieg. Am 17. März griffen Soldaten ein Winterlager der Lakota und Cheyenne im Jagdgebiet westlich des Powder River an. Zwar gab es kaum Verluste auf beiden Seiten, allerdings zerstörte die Armee Hütten und Ausrüstung. Die Indianer flohen in Sitting Bulls Camp.

Dass dieser sie nicht einfach nur pflichtschuldig unterstützte, sondern mit offenen Armen willkommen hieß, verstärkte seinen Ruf als verantwortungsvoller und einender Anführer. Viele Lakota, die nach dem Winter das Reservat verließen, um zu jagen, schlossen sich ihm ebenfalls an, ebenso die aus Minnesota geflüchteten Santee-Sioux sowie Gruppen der Cheyenne und Arapaho.

Die Schlacht am Little Bighorn

Trotz der wachsenden Stärke blieben Sitting Bull und die anderen Anführer, darunter der Oglala-Häuptling Crazy Horse, zurückhaltend: Solange keine direkte Gefahr für Frauen und Kinder bestehe, wollten sie auch nicht kämpfen.

Erst acht Wochen später war es so weit. Angeführt von Crazy Horse nutzten die Indianer am Rosebud Creek das Gelände geschickt aus und zwangen eine 1000 Mann starke Armee unter General George »Three Star« Crook zum Rückzug. Zu diesem Zeitpunkt war das Lager der Indianergruppen auf etwa 7000 Menschen angewachsen, rund 1800 davon Krieger, vermuten Historiker heute. Für ein Indianercamp eine immense Größe. Doch verglichen mit der Truppenstärke der Wasichu war Sitting Bulls Streitmacht erschreckend klein. Im offenen Kampf war dem Gegner kaum beizukommen. Es sei denn, dieser fühlte sich zu siegessicher.

Der langhaarige General | »Long Hair« nannten die Lakota den US-General George Armstrong Custer. Seine verheerende Niederlage am Fluss Little Bighorn ging in die Geschichte ein.

Am Morgen des 25. Juni galoppiert ein Trupp Kundschafter ins Lager des Mannes zurück, den die Indianer »Long Hair« nennen. General Custer hatte Späher ausschicken lassen, um nach Sitting Bulls großen Camp zu suchen. Nun nimmt er ihre Erfolgsmeldung entgegen: Am Fluss Little Bighorn sind sie auf ein ausgedehntes Indianerlager gestoßen. Custer wähnt den entscheidenden Schlag zum Greifen nah.

Attacke noch am Nachmittag

Unverzüglich beginnt er mit der Planung eines Überraschungsangriffs. Bei einer Attacke am nächsten Morgen will er das Lager überrumpeln, Frauen und Kinder als Geiseln nehmen und so die Krieger zur Aufgabe zwingen. Doch bald stellt sich heraus, dass die Sache einen Haken hat. Im Indianercamp ist man sich offenbar der Anwesenheit der US-Truppen bewusst. Zudem herrscht Unklarheit über die Mannstärke beim Gegner. Laut Unterlagen der Indianerbehörde dürften nicht mehr als 800 Kämpfer in den Zelten sitzen. Konnte dies stimmen? Seine Crow-Scouts reden vom größten Lager, dass sie je gesehen hätten. Custer läuft die Zeit davon. Um nicht vollends das Heft des Handelns aus der Hand zu geben, lässt er noch am selben Nachmittag sein 7. Kavallerieregiment aufsitzen. Rund 600 bis 650 Soldaten rüsten sich zum Angriff.

Was nun folgt, wird von Historikern mit der Ermordung John F. Kennedys gleichgesetzt, so groß ist die Schockwirkung auf die amerikanische Bevölkerung. Bis heute rätselt man, was den General zu seiner Attacke verleitete. Ist es Größenwahn? Oder verlässt er sich einfach nur auf die Zahlen der Behörde? Er teilt sein Heer in drei Gruppen, die den Feind umzingeln sollen. Durch einen ersten Vorstoß im Süden dringen Soldaten in Richtung Camp vor, schießen einige Frauen und Kinder nieder. Berittene Hunkpapa-Krieger erfassen die Situation schnell und schlagen die Einfallenden über den Fluss zurück.

Dann kommt es zum verhängnisvollen Manöver. Custer selbst reitet mit dem Großteil des Regiments von Osten heran. Er will das Lager im Norden angreifen, erreicht es aber genau in der Mitte – vermutlich weil er dessen Ausmaße nicht kennt. Der Schwung des Angriffs verpufft auch deshalb, weil sich die Pferde auf dem sumpfigen Ufergelände schlecht bewegen. Die Angreifer werden eingekesselt: Im Norden reiten Crazy Horse und der Cheyenne Two Moons mit ihren Gruppen auf ihn zu, aus Süden eilen vermutlich die erfolgreichen Verteidiger des ersten Angriffs herbei.

Für den Kampf brauchen die Indianer nur so lang »wie ein Hungriger für eine Mahlzeit«. So beschreibt es später einer der Lakota-Krieger. Binnen einer Stunde werden Custer und seine fünf Kompanien, insgesamt etwa 210 Mann, komplett aufgerieben, alle Soldaten und der General selbst sterben. Insgesamt lassen bei der Schlacht am Little Bighorn 268 Soldaten, Kundschafter und Zivilisten ihr Leben. Die Indianer verlieren 40 Krieger und etwa 10 Frauen und Kinder.

In Washington reagiert man auf die Nachricht, die erst Anfang Juli dort eintrifft, zunächst mit Entsetzen und schon bald mit Geschichtsklitterung. Aus Custers leichtsinnigem Vorgehen wird ein heldenhafter Einsatz gegen blutrünstige Wilde. Der Mythos von »Custers letztem Gefecht« existierte bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Und spätestens jetzt wird auch Sitting Bull zur öffentlichen Person. Wer bislang noch nie seinen Namen gehört hatte, kann ihn nun überall in den Zeitungen lesen.

Dabei hat der große Kriegshäuptling bei der Schlacht selbst keine einzige Kugel abgefeuert, was ihm mitunter als Feigheit ausgelegt wurde. Doch im Stamm blieb das Kämpfen seit jeher den jüngeren Kriegern vorbehalten – Sitting Bull hatte zu diesem Zeitpunkt aber bereits das Alter von 40 Jahren deutlich überschritten. Als Organisator, Berater, Heiler und vor allem als politische Identifikationsfigur konnte er weitaus mehr beitragen. Wenige Tage vor der Schlacht hatte er mit der Vision von »Soldaten, die wie Grashüpfer vom Himmel in das Lager fallen« die Indianer zum Kämpfen inspiriert und einen großen Sieg vorausgesehen. »Sitting Bulls Bedeutung am Little Bighorn lag nicht darin, Tapferkeit zu zeigen, die Bewegungen der Krieger zu dirigieren oder sie zum Kampf anzuspornen. Vielmehr lag es an einer Führung, die so weise und mächtig war, dass sie eine kraftvolle Koalition von Stämmen zusammenbrachte und zusammenhielt, eine Koalition von Stämmen, die so von trotziger Geisteshaltung durchdrungen war, dass sie Three Stars vertrieb und Long Hair vernichtete«, schreibt der US-Historiker Robert Utley in seiner Sitting-Bull-Biografie.

Vom Exil ins Reservat

Ihr glänzender Sieg am Little Bighorn, der ikonischste der zahllosen Kriege gegen die Invasoren aus Europa, war freilich nicht von Dauer. Im Gegenteil. Von Rache angetrieben nahmen die Kommandeure die Verfolgung auf, sprengten den Lagerverband, schnitten die Flüchtigen von Nachschub ab und zwangen sie einer nach dem anderen in die Knie. Crazy Horse kehrte im Mai 1877 zermürbt ins Reservat zurück. Am 5. September erstach ihn ein Soldat beim Versuch einer Festnahme. Der Oglala wurde keine 40 Jahre alt. Sitting Bull floh im selben Monat über die Grenze nach Kanada, wo er mit rund 3000 Getreuen vier auszehrende Jahren verbrachte. Als er am 19. Juli 1881 von den Strapazen des Überlebenskampfs gezeichnet mit den noch verbliebenen 200 Begleitern, vorwiegend Frauen und Kindern, zurückkehrte, ergab er sich im Fort Buford. Dem Kommandanten sagt er: »Ich wünsche, dass man sich daran erinnert, dass ich der letzte meines Volkes war, der sein Gewehr übergeben hat.«

Eine einfache Hütte im Reservat | Nach der Rückkehr aus dem kanadischen Exil ging Sitting Bull in das Standing-Rock-Reservat, das in den heutigen US-Bundesstaaten North und South Dakota liegt.

Im Reservat konfiszierten die Behörden sämtliche Waffen und Pferde, wodurch den Lakota nicht nur der Krieg, sondern auch ein Leben nach alter Tradition unmöglich gemacht wurde. Daran war die Erwartung geknüpft, dass sie sich nun demütig unterweisen lassen würden, wie sie in Zukunft ein »weißes« Leben führen sollten. Der Anführer der Hunkpapa dachte allerdings nicht daran. »Sitting Bull wurde als Störer betrachtet, was aber nicht stimmte«, berichtet Robert Higheagle. »Sitting Bull war ein Denker, und er nahm nichts einfach so hin, bis er dachte, dass es gut war. Er stand für die Indianer ein und schützte ihre Rechte.«

Gut war aus Sicht des Häuptlings Schulbildung für Kinder. Auch mit der Landwirtschaft konnte er sich arrangieren, er züchtete sogar selbst erfolgreich Tiere. Christliche Bekehrungen hingegen lehnte er ab, auch trennte er sich nicht von einer seiner beiden Ehefrauen. Sein Einfluss beschränkte sich jedoch zunehmend auf seine Familie und die wenigen unmittelbaren Gefährten rund um seine Hütte, die er sich etwas abseits am Grand River gebaut hatte. Viele andere ehemalige Mitstreiter hatten sich stärker mit dem neuen System arrangiert, arbeiteten beispielsweise für die Polizei innerhalb des Reservats.

Die US-Regierung übte derweil Druck auf die Häuptlinge im Reservat aus und zwang sie, die Black Hills und die Jagdgebiete offiziell abzutreten, da sie sonst keine Lebensmittellieferungen erhalten würden. Bedroht durch Hungersnöte gaben die Friedenshäuptlinge ihren Widerstand auf und traten die Gebiete an die Vereinigten Staaten ab. Erst 1980 entschied der Supreme Court der USA, dass dieses Vorgehen nicht rechtens gewesen ist und sprach den Lakota eine Entschädigung in Höhe von 105 Millionen Dollar zu. Die Indigenen lehnten ab und verlangen bis heute die Rückgabe des heiligen Landes.

Ein Star auf Reisen

Der Ruf, der Sitting Bull seit der Schlacht am Little Bighorn nachhing, machte ihn zum Faszinosum für die Wasichu. Zahlreiche Einladungen flatterten in das Blockhaus im Standing-Rock-Reservat. Mit Genehmigung der Reservatsleitung tourte er schließlich gemeinsam mit einigen Gefährten durch die angrenzenden Bundesstaaten und die großen Städte im Osten – New York, Philadelphia, Washington. Dabei saßen sie auf einer Bühne neben einem Tipi und präsentierten ihr Alltagsleben, das ein Redner erklärte. Die »New York Times« berichtete ebenso von ausverkauften Theatern wie von dem Attentatsversuch in St. Paul, Minnesota, dem Sitting Bull mit dem Leben entkam. Ab Juni 1885 trat er zudem vier Monate lang in »Buffalo Bill's Wild West Show« auf – für 50 Dollar pro Woche und einem einmaligen Bonus von 125 Dollar plus dem Recht, Fotos und Autogramme eigenständig zu verkaufen. Die Besucher bestaunten in ihm den »stolzen Wilden« und hassten den Staatsfeind, der ihren Custer vernichtet hatte. Sitting Bull schickte Geld an Familie und Gefährten.

Sitting Bull und Buffalo Bill | Mit Buffalo Bill trat der Hunkpapa-Häuptling in der Wildwest-Show auf. Möglicherweise erhoffte er sich davon, größeres Verständnis für die Lebensweise der Indianer zu erzeugen. Die große Europatournee des Zirkus machte er allerdings nicht mit.

So entwürdigend der Zirkus häufig war, so bot er doch eine willkommene Abwechslung zum langweiligen Reservatsleben. Zudem hielten diese Reisen die ersten intensiven Begegnungen mit der euroamerikanischen Kultur bereit. Die Gruppe besuchte Städte und Fabriken, fuhr mit der Eisenbahn und übernachtete in gut ausgestatteten Hotels. Doch im Oktober hatte die Freiheit ein Ende: »Sitting Bulls Reisen und Eindrücke erweiterten seine Sicht auf die Welt«, schreibt Utley, was sehr zum Missfallen der Reservatsleitung geschah, die sich verärgert über die demonstrative Unabhängigkeit des Indianers zeigte.

Eine folgenschwere Reise im September 1886 jedoch verwehrte sie ihm nicht. Gemeinsam mit rund 100 Sioux zog Sitting Bull in das Reservat ihrer Erzfeinde, der Crow, nach Montana. Feierlich begruben beide Gruppen das Kriegsbeil. Eine Regierungsinitiative hatte kurz zuvor angeregt, das Territorium in kleine Teile zu zerstückeln und dabei auch indianisches Land zu verkaufen. Zunächst hatten die Crow zugestimmt, nach Sitting Bulls Besuch jedoch wuchs der Widerstand dagegen, zumindest für einige Monate.

Diese Parzellierung des den Indianern zugewiesenen Landes schrieb ab 1887 ein Gesetz vor. Der so genannte Dawes Act bestimmte, dass jeder Mann im Reservat eine gewisse Fläche zugewiesen bekam, die für 25 Jahre unter der Treuhänderschaft der Regierung verblieb. So wollte die Regierung die Indianer einerseits zur Landwirtschaft zwingen und andererseits Stammesstrukturen zerstören. Land, das bei dieser Aufteilung übrig blieb, wurde an weiße Siedler abgegeben. Die »Great Sioux Reservation« zerfiel daraufhin 1889 in sechs kleinere Gebiete. Auf militärischen Widerstand stieß ihr Vorhaben nicht mehr.

Der Geistertanz

Stattdessen begannen im Oktober 1890 in Sitting Bulls kleiner Siedlung die Tänze. Den ganzen Winter hindurch sollten sie andauern. Das Reservat am Standing Rock war von einer Bewegung erfasst worden, die sich wie ein Buschfeuer unter den Stämmen Nordamerikas ausbreitete. Tagelang tanzten große Gruppen unter Anleitung spiritueller Führer bis zur Erschöpfung und versetzten sich so in Trance.

Die »Geistertänze« vereinten viele indigene Nationen und Gruppen miteinander, stärkte deren Zusammenhalt und gab ihnen Hoffnung auf ein freieres Leben. Wieder einmal. Schon 20 Jahre zuvor, um das Jahr 1870, hatte der Paiute Wodziwob mit der Vision eines Erdbebens, das sämtliche Spuren der Weißen beseitigen würde, eine Geistertanz-Bewegung ausgelöst. Und noch weitere rund 100 Jahre früher hatte es ähnliche »panindianische Revitalisierungs- und Erneuerungsbewegungen« gegeben, wie Heike Bungert sie nennt.

Nun wurde auch im Standing-Rock-Reservat getanzt. Allerdings nicht von Sitting Bull selbst. Er glaubte möglicherweise weniger an die Prophezeiung als an die damit verbundene revolutionäre Kraft. Die Reservatsleitung schrieb alarmierende Briefe an die Behörden, besichtigte das Ritual, stellte Sitting Bull zur Rede. Dieser hört sich die Argumente höflich an, lehnte aber jegliche Einflussnahme ab. Auch die Armee wollte zunächst nicht einschreiten. Als allerdings Mitte Dezember das Gerücht aufkam, Sitting Bull wolle gemeinsam mit seinen Anhängern das Reservat verlassen, beauftragte der Agent den Polizeikommandeur Bull Head, ein Lakota, den Häuptling vorsorglich festzunehmen.

Das Ende des Aufbäumens

Im Morgengrauen des 15. Dezember 1890 umstellen 43 Polizisten Sitting Bulls Hütte und fordern ihn auf mitzukommen. Er ist unbewaffnet, zeigt sich kooperativ. Unterdessen eilen immer mehr seiner Anhänger hinzu. Sie wollen ihren Anführer, der sich angesichts dieser Unterstützung leicht zur Wehr setzt, verteidigen. Einer von ihnen feuert auf Bull Head und trifft ihn am Kopf, gerade als dieser den Verhafteten abführen will. Im Fallen schießt der Getroffene Sitting Bull in die Brust. Fast gleichzeitig trifft den Häuptling eine weitere Kugel in den Kopf. Kurze Zeit später liegen Sitting Bull, sieben seiner Anhänger und vier Polizisten tot im Staub. Auch Sitting Bulls Sohn Crow Foot ist darunter. Bull Head und ein weiterer Kollege sterben wenige Tage später im Krankenhaus.

Mit dem großen Lakota-Häuptling haben die Geistertänzer verloren, was der Mittelpunkt ihrer Bewegung hätte sein können. Einen anderen von vergleichbarer Strahlkraft gibt es nicht. Trotzdem machen sie sich tatsächlich von Standing Rock aus auf die Reise und begeben sich in das etwa 200 Kilometer südwestlich gelegene Pine Ridge Reservat. Weitere Lakota schließen sich unterwegs an. Die Armee, die nicht toleriert, dass sich Indianer außerhalb der Reservate aufhalten, stoppt den Zug und bringt ihn zunächst in ein Lager am Fluss Wounded Knee. Es sind Soldaten des 7. Kavallerieregiments, derselben Einheit, die auch unter Custer in die Schlacht geritten war.

Mit ihren fahrbaren Maschinengewehren umstellen die Soldaten – viele davon offenbar nicht ganz nüchtern – die Indianer und beginnen damit, ihnen einer nach dem anderen die Gewehre abzunehmen. Als sich ein Mann weigert, kommt es zum Handgemenge, ein Schuss löst sich und die Soldaten eröffnen wahllos das Feuer. 150 bis 300 Lakota, vor allem Frauen und Kinder, sterben an diesem 29. Dezember binnen Minuten im Kugelhagel. Nicht wenige sehen in dem Massaker die Rache für die Niederlage am Little Bighorn. Sollte es nach dem Tod von Tȟatȟáŋka Íyotake noch Zweifel gegeben haben, war spätestens jetzt alle Hoffnung dahin. Als am Wounded Knee der Pulverdampf verrauchte, war der Widerstand der indigenen Bevölkerung gegen die euroamerikanische Vorherrschaft endgültig gebrochen.

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