Aerodynamik: Wie wirkt der Anzug beim Skispringen?

Sport ist Physik in Aktion. Kaum ein Wintersport bringt das so auf den Punkt wie das Skispringen. »Die Sportler verwandeln ihre Skier und ihren Körper in eine Art Flügel«, schreibt die amerikanische Physikerin Amy Pope. »Sie kämpfen gegen die Schwerkraft an und halten sich fünf bis sieben Sekunden lang in der Luft.« Dabei legen sie eine Strecke von der Länge eines Fußballfelds zurück. Doch streng genommen machen die Springerinnen und Springer das nicht allein. Es ist vielmehr ein System, das da fliegt: Mensch, Ski, Bindung – und der Anzug. Alles ist perfekt aufeinander abgestimmt. Die Aerodynamik dieses Systems ist das Ergebnis jahrelanger Arbeit.
Arbeit, deren Redlichkeit durch die aktuellen Geschehnisse im Skispringen jedoch in Frage gestellt wird. Das norwegische Team wurde bei der Nordischen Ski-WM im eigenen Land der Manipulation überführt. Mehrere Springer wurden disqualifiziert. Der Grund: Sie haben die Nähte ihrer Skisprunganzüge zwischen Knie und Schritt verstärkt. Ein Video belegt den Betrug. Aber kann ein so kleiner Eingriff tatsächlich so große Auswirkungen haben?
Sobald ein Skispringer mit mehr als 90 Kilometern pro Stunde den Schanzentisch verlässt, beginnt das große Austarieren: Die Schwerkraft zerrt von unten, der Luftwiderstand bremst, und aus dem Sportler und seiner Ausrüstung wird ein 0,7 Quadratmeter großer Flügel, dessen Auftrieb ihn durch die Luft trägt.
Skispringende müssen dabei ihr eigenes Drehmoment in den Griff bekommen, auf veränderliche Winde reagieren und ihren Körper trotzdem möglichst ruhig halten. Eine Herausforderung, physisch wie psychisch. Und doch entscheidet neben dem Können des Springers auch das Material über Sieg und Niederlage. Neben Ski und Bindung spielt dabei der Anzug eine entscheidende Rolle.
Während des Flugs kollidiert die Oberfläche des menschlichen Flügels nämlich kontinuierlich mit Luftteilchen. Schafft es der Springer, durch eine entsprechende Haltung möglichst viele dieser Luftteilchen nach unten zu drücken, erfährt er mehr Auftrieb, denn die Partikel drücken wiederum ihn nach oben. Es stellt sich also ein Kräftegleichgewicht ein, so wie es das 3. newtonsche Gesetz beschreibt. Das Ganze funktioniert umso effektiver, je weniger Luftteilchen sich durch den Flügel hindurchbewegen oder an ihm vorbeimogeln. Für den Anzug bedeutet das: Er sollte möglichst luftdicht und steif sein.
Mit jedem Sprung weniger Auftrieb
Das Wissen darum verlockt allerdings auch, technisch nachzuhelfen. Schon ein steifes Band, das an der Naht zwischen Knie und Schritt eingenäht ist, kann den entscheidenden Vorteil bringen. Mit einem steiferen Anzug fliegen die Sportler ruhiger, sie müssen weniger bremsende Ausgleichsbewegungen machen und fliegen weiter – bis zu zwei oder drei Meter nach Einschätzung des Exskispringers Martin Schmitt. Der frühere Skisprungprofi Sven Hannawald vermutet in dem soeben aufgedeckten Fall um die norwegische Mannschaft allerdings nur die Spitze des Eisbergs. Das Ausmaß der Manipulationen im Skispringen könnte in Wirklichkeit deutlich größer sein als bislang bekannt. Dazu passt das Bekenntnis des ehemaligen norwegischen Olympiasiegers Daniel-André Tande: »Absolut jeder macht es.« 2019 hätten die Norweger sogar ihre Maschine, mit der sie ihre Anzüge manipulierten, an ein anderes Team verliehen, berichtet der Spiegel.
Der Weltskiverband FIS setzt dem Design des Anzugs eigentlich enge Grenzen. Sein Regelwerk hat er im Herbst 2024 noch einmal verschärft. Aus fünf Schichten darf der Anzug bestehen: eine Polyamid-Elasthan-Schicht außen, dann Schaum, eine elastische Membran in der Mitte, nochmal Schaum und ein Futterstoff auf der Innenseite. Dicker als insgesamt sechs Millimeter darf der Stoff nicht sein. Im Wind muss das Material sekündlich mindestens 40 Liter Luft pro Quadratmeter durchlassen, ansonsten ist der Anzug zu dicht; und er darf nicht mit gasförmigen, flüssigen oder festen Substanzen behandelt werden, die ihn möglicherweise luftundurchlässiger machen. Auch die Anforderungen an den Schnitt sind rigoros: Vom Abstand zwischen Schritt und Reißverschluss bis hin zum Winkel des Saums im Verhältnis zum Ärmel ist alles vorgegeben. Nicht einmal bei der Unterwäsche lässt das Regelwerk Raum für Vorlieben: zweiteilig, Luftpermeabilität von 60 Liter je Quadratmeter und Sekunde.
Doch der Skianzug ist ein Verschleißteil. Am meisten Auftrieb liefert er beim ersten Sprung, dann kontinuierlich weniger, denn der Anzug wird nachgiebiger und luftdurchlässiger. Doch viele Skiverbände wussten sich in den letzten Jahren zu helfen: Einige Springer zogen einfach für jeden einzelnen Sprung einen neuen Anzug an, denn frische Anzüge sind formstabil, steifer – also aerodynamisch leistungsfähiger. Dieser Praxis hat der Weltverband seit dieser Saison einen Riegel vorgeschoben. In einem Wettkampf musste sich jeder Springer mit zwei Anzügen begnügen – bis zu der nun aufgedeckten Manipulation. Für den Rest der Saison darf jeder Springer jetzt nur noch einen einzigen Anzug verwenden.
Damit sich alle an die Regeln halten, kontrolliert ein Testteam des Weltskiverbands die Anzüge vor dem ersten Sprung. An regelkonforme Anzüge klebt es bei den Frauen fünf, bei den Männern sieben elektronische Chips. Wenn an einem gechippten Anzug nachträglich Nähte wiederaufgetrennt oder er anderweitig verändert wird, deaktiviert sich der Chip – die Manipulation fliegt auf. Jedenfalls in der Theorie.
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