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Einfache Sprache: So leicht kann Verstehen sein

Behörden formulieren oft umständlich und unnötig kompliziert. Deutsch-Deutsch-Übersetzer verwandeln das Kauderwelsch in einfache Worte. Wie funktioniert das?
Eine junge Frau lächelt beim Lesen
»Allan steht im Blumenbeet und schaut auf seine Pantoffeln. Pantoffeln!
Warum hat er bloß vergessen, sich ein Paar ordentliche Schuhe anzuziehen!
Jetzt ist es zu spät.
Er kann nicht durchs Fenster wieder ins Haus klettern.
Schon der Sprung ins Blumenbeet war nicht ganz einfach.
Mit hundert ist man eben nicht mehr der Jüngste
Hundert?
Ja, tatsächlich.
An diesem 2. Mai 2005 ist Allans 100. Geburtstag. (…)«
(Auszug aus: »Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand« von Jonas Jonasson, übertragen in Einfache Sprache von Eva Dix, Verlag Spaß am Lesen 2019)

Das kommt manchem vielleicht bekannt vor. Wenn auch in etwas anderen Worten. Denn der Bestseller »Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand« von Jonas Jonasson beginnt eigentlich so:

»Man möchte meinen, er hätte seine Entscheidung etwas früher treffen und seine Umgebung netterweise auch davon in Kenntnis setzen können. Aber Allan Carlson war noch nie ein großer Grübler gewesen. Entsprechend war der Einfall auch noch ganz frisch, als der alte Mann sein Fenster im Erdgeschoss des Altersheims von Malmköping, Sörmland, öffnete und in die Rabatte kletterte. (…) Allan Carlson stand zögernd in dem Stiefmütterchenbeet, das an der Längsseite des Altersheims verlief. Zu einer braunen Hose trug er ein braunes Jackett und braune Pantoffeln. Mit der Mode hatte er es nicht so, aber das ist ja auch eher selten in diesem Alter. Er war von seiner eigenen Geburtstagsfeier ausgebüxt, was ja auch eher selten ist in diesem Alter – weil der Mensch generell eher selten in dieses Alter kommt. (…)«
(Auszug aus: »Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand« von Jonas Jonasson, aus dem Schwedischen von Wibke Kuh, Penguin Verlag 2017)

Das Werk des schwedischen Autors ist eines der Bücher, die der Verlag Spaß am Lesen in so genannte Einfache Sprache übertragen herausbringt – unter anderem für Menschen mit Lese-Rechtschreib-Schwäche und Nichtmuttersprachler, deren Deutschkenntnisse noch nicht ausreichen, um die komplexere Originalversion oder Originalübersetzung zu erfassen. Shakespeares »Romeo und Julia« gehört ebenfalls dazu, aber auch »Tschick« von Wolfgang Herrndorf, »Schweigeminute« von Siegfried Lenz oder »Ein ganzes Leben« von Robert Seethaler.

Laut einer Studie der Universität Hamburg aus dem Jahr 2018 gelten rund 6,2 Millionen Deutsch sprechende Erwachsene im Alter zwischen 18 und 64 Jahren als so genannte funktionale Analphabeten, haben also Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben. Das sind 12,1 Prozent der Gesamtbevölkerung in diesem Alter. Zählt man die Menschen über 64 dazu, erhöht sich der Anteil noch.

Viele der Betroffenen leiden seit ihrer Kindheit an einer Lese-Rechtschreib-Schwäche (Legasthenie). Sie finden ihr Leben lang keinen oder kaum Zugang zu Büchern, können zwar Buchstaben, Wörter und einzelne Sätze lesen und schreiben, haben jedoch Mühe, einen längeren zusammenhängenden Text zu verstehen. »Es dennoch zu schaffen, ein komplettes Buch zu lesen, ist für Menschen mit Lese-Rechtschreib-Schwäche ein großes Erfolgserlebnis«, sagt Manfred Wälz, der seit 2017 für den Münsteraner Verlag arbeitet. Sein Sohn ist Legastheniker und fand über Einfache Sprache Zugang zu Büchern.

Das ganze Werk wird verdichtet und etwa um zwei Drittel gekürzt. Dennoch soll die Grundstimmung des Originals erhalten bleiben

Eine Übertragung in Einfache Sprache – nachdem der Verlag der Normalausgabe das Recht dazu erteilt hat – sei in etwa mit einer Übersetzung vergleichbar, sagt Wälz. Jedoch: Der Redakteur oder die Redakteurin verändert das Original dabei und überträgt es in eine klare, knappe Sprache ohne Schachtelsätze oder Fremdwörter, Gedankensprünge oder lange Handlungsstränge. »Das ganze Werk wird verdichtet und etwa um zwei Drittel gekürzt. Dennoch soll die Grundstimmung des Originals erhalten bleiben – eine anspruchsvolle Aufgabe«, erläutert Wälz.

Neben der Einfachen Sprache findet man vor allem auf Websites von Behörden, Ministerien und Firmen auch Texte in Leichter Sprache. Sie richtet sich an Menschen mit geistiger Behinderung oder solche, die gerade erst angefangen haben, Deutsch zu lernen. Die beiden Begriffe, Einfache und Leichte Sprache, die rechtlich übrigens nicht geschützt sind, werden zuweilen verwechselt. Tatsächlich sind die Übergänge oft fließend. Wie sehr, darüber streiten sich die Sprachexperten. Doch in einigem unterscheidet sich die Leichte Sprache deutlich von der Einfachen, wenn man sich an den Regelkatalog des Netzwerks Leichte Sprache von 2006 hält. Unter anderem legte das Netzwerk als Eckpunkte fest: Leichte Sprache sollte sich auf einfachstem Level bewegen, ohne etwa den Genitiv oder Passivformen zu verwenden. Auf lange Wörter und Nebensätze wird verzichtet. Auf jeden Satz folgt ein Absatz.

Die so verfassten Texte können weder textästhetische Überlegungen noch Gendergerechtigkeit berücksichtigen. Übrig bleiben Kernaussagen wie »Herr Meier hatte einen schweren Unfall. Jetzt lernt er einen anderen Beruf«, statt: »Herr Meier kann wegen eines schweren Unfalls seinen alten Beruf als Klempner nicht mehr ausüben. Deshalb nimmt er jetzt an einer beruflichen Rehabilitationsmaßnahme teil.« Das reduziert die Einsatzmöglichkeiten Leichter Sprache meist auf Sachtexte wie etwa Behördenformulare oder Informationsbroschüren und -blätter.

Laut »Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung« müssen auf den Websites von Behörden die Texte auch in Leichter Sprache hinterlegt sein

In Deutschland trat 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft. Sie bedeutet, zumindest auf dem Papier: mehr Teilhabe für Menschen mit Behinderungen im Alltag, auch in der Kommunikation, und mehr Inklusion in den Schulen. Seit 2002 gibt es in Deutschland bereits die BITV 2.0, die »Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung«, wie es in schönstem Beamtendeutsch heißt. Demnach müssen auf den Websites von Behörden die Texte auch in Leichter Sprache hinterlegt sein.

Engagierte Sprachexperten und Pädagogen indes haben auch Literatur in Leichter Sprache auf den Markt gebracht. Der Verlag Spaß am Lesen etwa bietet entsprechenden Lesestoff, der in den meisten Fällen eigens dafür geschrieben ist. »Bekannte Romane und Erzählungen in Leichte Sprache zu übertragen, funktioniert meistens nicht gut, weil zu wenig vom Original übrig bliebe«, sagt Manfred Wälz.

Auch das Büro für Leichte Sprache der Lebenshilfe Bremen bringt kurze Erzählungen heraus. 2015 startete dort ein Geschichtenprojekt. »Es fehlen Texte, die einfach aus Spaß gelesen werden können. Da hinkt Deutschland noch hinter anderen Ländern her«, begründet Marion Klanke, die Leiterin des Büros, das Engagement. »Man hört immer mal wieder von verschiedenen Seiten: Geistig behinderte Menschen könnten ja vorhandene Bilderbücher für Kinder im Kindergartenalter lesen. Aber so darf man aus meiner Sicht nicht argumentieren, wenn man Inklusion wirklich ernst nimmt und erwachsene Menschen adressieren möchte.«

Bücherprogramme in Leichter Sprache aufzulegen, kostet Zeit und Geld. In den USA, wo die »Easy-to-read«-Bewegung schon in den 1960er Jahren ihren Anfang nahm, und in den skandinavischen Ländern gebe es viel mehr jederzeit verfügbare Texte, sagt die studierte Literaturwissenschaftlerin. Sie hat an der Uni Hildesheim zusätzlich den Masterstudiengang Medientext und Medienübersetzung absolviert.

Tatsächlich ist es in Finnland Standard, dass Tageszeitungen immer auch eine kurze Zusammenfassung der Nachrichten zumindest in Einfacher Sprache abdrucken oder online stellen. Dort wie in Schweden sind einfache oder leichte Texte wohl deshalb verbreiteter, weil es in beiden Ländern eine starke Minderheit gibt, die Finnisch (in Schweden) beziehungsweise Schwedisch (in Finnland) spricht. »In Deutschland dagegen herrscht eher das Angebot-Nachfrage-Prinzip: Ähnlich wie Gebärdendolmetscher für Menschen mit Höreinschränkungen werden hier zu Lande Texte und Formulare in Leichter Sprache meist erst auf Antrag zur Verfügung gestellt – und nicht als selbstverständliches Angebot«, sagt Marion Klanke.

»Bei einer Übertragung in Leichte Sprache wird sehr deutlich, wenn ein Parteiprogramm in großen Teilen aus Worthülsen besteht«
Marion Klanke, Literaturwissenschaftlerin und Medienübersetzerin

Klankes Team bietet Schulungen in Leichter Sprache für diverse Institutionen an und übernimmt deutschlandweit vor allem Textaufträge für Behörden, Ministerien, Organisationen oder Unternehmen. Die Texte in Leichter Sprache zu schreiben, ist aufwändiger, als man vielleicht denkt, weil sie mehrere Feedback-Runden durchlaufen müssen: »In unserem Büro arbeiten auch Kollegen mit geistiger Behinderung. Ihnen legen wir alle unsere Texte zur Prüfung vor.«

Auch Parteiprogramme hat das Büro schon in Leichte Sprache übertragen, beispielsweise vor den Bremer Bürgerschaftswahlen, die Ende Mai 2019 stattfanden. Für die Parteien muss das Ergebnis dieser »Übersetzung« oft ernüchternd sein, denn, so Marion Klanke: »Bei einer Übertragung in Leichte Sprache wird sehr deutlich, wenn der Text eines Parteiprogramms in großen Teilen aus Worthülsen besteht.« Mit anderen Worten: Auf der Suche nach den Kernaussagen bleibt oft nicht viel übrig.

Während Deutschland in der gelebten Praxis mit Leichter Sprache noch etwas hinterherhinkt, hat es dafür in Sachen Forschung zumindest in Europa die Nase mit vorne. Die Leichte-Sprache-Forschung startete vor knapp zehn Jahren mit ersten Projekten, etwa zeitgleich mit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland. So verfasste die Linguistin Bettina Bock von der Universität zu Köln 2018 die Veröffentlichung »Leichte Sprache – Kein Regelwerk«. Es ist die erste empirische Studie zur Leichten Sprache und Teil des Projekts LeiSA (Leichte Sprache im Arbeitsleben) der Universität Leipzig, gefördert durch das Bundesarbeitsministerium. Ziel des gesamten Forschungsprojekts ist die Erstellung eines Qualifizierungsprogramms für Arbeitnehmer und Arbeitgeber, das unter anderem einen linguistisch abgesicherten Leitfaden zur Texterstellung und -überprüfung sowie konkrete didaktische Hinweise zum Einsatz von Leichter Sprache enthält.

»Entscheidend für die Verständlichkeit scheint nach unseren Untersuchungen unter anderem zu sein, wie häufig das Wort im Wortschatz vorkommt und wie oft die Probanden im Alltag damit konfrontiert werden«
Bettina Bock, Professorin für Linguistik an der Universität Köln

Bettina Bock und ihre Kollegen arbeiteten für die Studie als Kooperationspartner unter anderem mit verschiedenen Büros für Leichte Sprache zusammen und kamen zu Ergebnissen, die dem Regelwerk des Netzwerks Leichte Sprache zum Teil widersprechen. Sie legten 50 Probanden, davon 30 mit geistiger Behinderung und 20 funktionale Analphabeten, unter anderem Lückentexte vor, die diese mit einem von vier zur Wahl stehenden Wörtern ergänzen sollten.

»Wir fanden heraus, dass bestimmte Ausdrücke, die vom Regelkatalog des Netzwerks Leichte Sprache als nicht verwendbar eingestuft werden, von unseren Probanden sehr wohl verstanden wurden, etwa ›Arbeitgeber‹ oder ›Information‹«, sagt Bettina Bock. »Entscheidend für die Verständlichkeit scheint nach unseren Untersuchungen unter anderem zu sein, wie häufig das Wort im Wortschatz vorkommt und wie oft die Probanden im Alltag damit konfrontiert werden.« Es gebe vermeintlich schwierige Wörter, die auch von Menschen mit geringer Lesekompetenz verstanden werden.

Bock fügt hinzu: »Die Strategie des Netzwerks Leichte Sprache, wonach Texte am niedrigsten Lesekompetenzniveau anzusetzen haben, um alle zu erreichen, klingt erst einmal plausibel. Sie ist aber problematisch: Das niedrigste Kompetenzniveau haben Menschen, die gar nicht lesen können.« Für diese sei auch die Leichte Sprache nicht geeignet. Jene mit höheren Lesekompetenzen könnten sich hingegen unterschätzt fühlen. Die Heterogenität der Zielgruppe mache es schwer, Testverfahren zu entwickeln, die alle Probanden dort abholen, wo sie stehen. Deshalb will die Studie auch kein Regelwerk liefern, wie der Titel schon sagt.

Bock verfasste die kurzen Einführungen zu den Kapiteln in Einfacher Sprache und schrieb den übrigen Text so, dass er auch für Laien gut verständlich ist. Eine Art Experiment, wie sie sagt. Kolleginnen und Kollegen seien positiv überrascht gewesen, dass sich jemand die Mühe mache, eine Studie so aufzubereiten. »Ich gehe aber davon aus, dass manche die Sprache als nicht fachwissenschaftlich genug empfinden und ein bestimmter Habitus vermisst wird.«

In Deutschland gibt es derzeit mit der Universität Hildesheim nur eine Forschungsstelle, die sich seit 2014 auf das Thema Leichte Sprache spezialisiert hat. An anderen Hochschulstandorten wie Leipzig, Köln oder Mainz wird Leichte Sprache lediglich in Einzelprojekten innerhalb der allgemeinen Sprachwissenschaft oder Computerlinguistik untersucht. Die Forschungsstelle in Hildesheim ist zugleich auch Dienstleisterin für Behörden und Ministerien.

Begleitend überprüfen die Forscherinnen die Regeln des Netzwerks Leichte Sprache auf ihre Praxistauglichkeit. »Einige der Regeln tragen der Tatsache zu wenig Rechnung, dass Sprache ein Kontinuum ist, das sich permanent verändert«, sagt die Geschäftsführerin der Forschungsstelle, Isabel Rink. Ihr Team kooperiert unter anderem mit der Universität Mainz. »Wir arbeiten an den Grundlagen Leichter Sprache, die Mainzer übernehmen die empirische Forschung anhand größerer Probandengruppen im Labor.«

Als besondere Herausforderung hat die studierte Übersetzerin einen der ersten großen Aufträge in Erinnerung: für das niedersächsische Justizministerium. »Es ist fast unmöglich, in einem juristischen Text auf Verneinungen oder Möglichkeitsformen wie ›würde‹ zu verzichten«, sagt Isabel Rink. Das allerdings forderten die Regeln des Netzwerks, während Juristen – zu Recht – auf Genauigkeit in der Formulierung bestünden. »Wenn man Dinge wie Erbrecht oder Vorsorgevollmacht barrierefrei verständlich machen will, stoßen die bisherigen Regeln an ihre Grenzen.«

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