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Artenschwund: Sag mir, wo die Blumen geblieben sind

Alte Aufzeichnungen aus einem Schweizer Archiv zeigen, wie vielfältig die Natur einst war. Mit historischen Pflanzenlisten, Statistik und künstlicher Intelligenz rekonstruieren Biologen, wie Europas Wiesen ausgesehen haben könnten.
Ein roter quadratischer Rahmen liegt auf einer Wiese und umrahmt verschiedene grüne Pflanzen und gelbe Blüten. Der Rahmen hebt den Bereich hervor, um die Vegetation zu untersuchen. Die Szene zeigt eine natürliche Umgebung mit Gras und Wildblumen.
Ein Forschungsteam hat diesen roten Rahmen auf 277 Schweizer Wiesen gelegt und die Pflanzen darin gezählt – wie es vor 100 Jahren schon einmal gemacht worden ist. Durch den Vergleich lässt sich feststellen, ob sich die Artenzusammensetzung geändert hat und wie stark der Artenreichtum zurückgegangen ist.

Ein roter Metallrahmen, kaum größer als ein Frühstücksbrettchen, reicht Stefan Widmer, um eine Brücke von der Gegenwart in die Vergangenheit zu schlagen. Zwei Jahre lang streifte der Biologe mit seinem Team durch die Schweiz und legte den 30 mal 30 Zentimeter großen Rahmen ins Gras – auf Almwiesen und an Wegesrändern im Tal, an Flussufern und auf Hügeln. Jeden Halm, jede Blüte, jedes noch so kleine Pflänzchen darin notierte er akribisch, insgesamt an 277 Orten. Doch keinen davon wählte er zufällig aus: Auf genau denselben Wiesen hatten vor 100 Jahren schon einmal zwei Botaniker gestanden und die gleiche Zählung durchgeführt. Das zumindest legen vergilbte Aufzeichnungen nahe, die bereits 2003 überraschend entdeckt worden waren.

Der Vergleich zwischen damals und heute zeigt, dass sich die Landschaft im zurückliegenden Jahrhundert dramatisch verändert hat. Wo früher Magerwiesen blühten, rücken heute Traktoren aus. Bauern verteilen großflächig synthetischen Dünger und Pestizide auf den Feldern. Neue Hochleistungssorten verdrängten die alten Pflanzen. Die Agrarrevolution, die in den 1950er-Jahren begann, steigerte fortwährend die Erträge: Sie brachte volle Silos und stabile Ernten, doch sie ließ die Artenvielfalt verkümmern. Gut für die Versorgung der Menschen, schlecht für die Natur. Aber wie viele Arten verschwanden in diesem Zeitraum tatsächlich aus Europas Wiesen? Und: Lässt sich das überhaupt noch herausfinden?

»In größerem Umfang gibt es Erhebungen erst seit den 1970er Jahren, als die größten Verluste bereits eingetreten waren«, sagt Jürgen Dengler, Professor für Vegetationsökologie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaft in Wädenswil und Kollege von Stefan Widmer. Erst als Sachbücher wie »Der stumme Frühling«, in dem die Biologin Rachel Carson (1907–1964) vom stillen Verschwinden der Vögel und Insekten durch den Einsatz von Pestiziden erzählt, auf die Folgen aufmerksam machten, habe die Wissenschaft überhaupt begonnen, die verbliebenen Pflanzen zu zählen.

Fürstenalp-Aufstieg | Die beiden Botaniker Friedrich Stebler (1852–1935) und Carl Schroeter (1855–1939) haben Ende des 19. Jahrhunderts hunderte Wiesen durchschritten und akribisch Bodenproben genommen. Ihren Aufstieg auf die Fürstenalp haben sie gut dokumentiert.

Deshalb sind die vergilbten Aufzeichnungen, die in den Archiven von Agroscope, der landwirtschaftlichen Forschungseinrichtung der Schweiz, auftauchten, so wertvoll: Zwischen 1884 und 1931 hatten die beiden Botaniker Friedrich Stebler (1852–1935) und Carl Schroeter (1855–1939) Hunderte Wiesen durchschritten und akribisch Bodenproben genommen. Sie stachen 30 mal 30 Zentimeter große Stücke Erde aus, zwei bis drei Zentimeter tief, trugen sie ins Labor, wogen, analysierten und notierten alle Pflanzen, die sie darauf finden konnten. Dabei war ihr Ziel damals kein ökologisches, sondern ein praktisches: Sie wollten die Produktivität der Wiesen steigern. Doch was sie hierbei festhielten, wurde nun – ein Jahrhundert später – zum Glücksfall für die Forschung.

Einzigartiger und wertvoller Datensatz

Heute helfen die alten Listen zu verstehen, was seither durch die Intensivierung der Landwirtschaft verloren gegangen ist. Die Aufzeichnungen zeigen, wie drastisch sich die Vielfalt reduziert hat. Die Ergebnisse des Vergleichs zwischen damals und heute sind im Fachmagazin »Global Change Biology« erschienen. »Die Verluste sind massiv«, sagt Dengler. Landesweit sei die durchschnittliche Zahl der Pflanzenarten auf dem landwirtschaftlich genutzten Grasland um 26 Prozent gesunken. Im Mittelland, wo am intensivsten gewirtschaftet wird, betrage der Rückgang fast 40 Prozent. In den Alpen oberhalb von 2000 Metern hingegen hätten die Wiesen nur rund elf Prozent ihrer Arten verloren. Je stärker die Bewirtschaftung, desto karger die Zusammensetzung.

»Einen so detaillierten und großflächigen Datensatz gibt es aus der Zeit nicht noch einmal«Ute Jandt, Geobotanikerin

Von einem »einmaligen Datenschatz« und einem »Goldstück für die Wissenschaft« sprechen selbst Forschungskollegen, die nicht am Projekt beteiligt waren. »Einen so detaillierten und großflächigen Datensatz gibt es aus der Zeit nicht noch einmal«, betont etwa die Geobotanikerin Ute Jandt von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Nur selten tauchen derart alte Inventare auf, vergleichbar vielleicht mit Vegetationsaufnahmen aus schwedischen Mooren des 19. Jahrhunderts.

Jandt weiß, wovon sie spricht. Sie fahndet in ganz Europa nach solchen historischen Datensätzen – üblicherweise etwas jüngeren. »Früher haben unzählige Leute Flächen kartiert, oft im Auftrag von Behörden«, erzählt die Biologin. »Sie waren unglaublich fleißig, haben aber kaum etwas veröffentlicht. Vieles davon liegt vermutlich noch in irgendwelchen Kellern.« Ihre Forschungsgruppe interessiert sich besonders für Gebiete, die über Jahrzehnte hinweg immer wieder untersucht wurden. Denn nur dort lässt sich nachvollziehen, wie Pflanzenbestände sich verändern, einander verdrängen oder auf äußere Einflüsse wie Klima oder Düngung reagieren. 

Solche Daten liegen heute im European Vegetation Archive – einer digitalen Schatzkammer mit inzwischen rund 1,6 Millionen Vegetationsaufnahmen aus ganz Europa.

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Viele alte Pflanzeninventare sind allerdings für immer verloren. »An manchen Orten haben Bibliothekare ausgemistet – und was keine ISBN-Nummer hatte, flog raus«, sagt Ute Jandt. Manche Professoren hätten gar aus Frust nach ihrer Pensionierung ganze Archive vernichtet. Auch das Schweizer »Goldstück« wäre um ein Haar auf dem Müll gelandet: Die Unterlagen aus dem 19. Jahrhundert sollten bei Renovierungsarbeiten entsorgt werden.

Doch das Interesse an solchen Daten wächst. Die Europäische Union plant, ein systematisches Biodiversitätsmonitoring einzuführen, ähnlich wie in der Schweiz, wo seit bald 25 Jahren auf 500 zufällig ausgewählten Flächen die Pflanzenvielfalt erfasst wird. So ließe sich nicht nur nachvollziehen, wie sich die Natur und die Biodiversität verändern, sondern auch, welche politischen Maßnahmen tatsächlich wirken. Alte Landkarten und Pflanzeninventare werden dabei zu Zeitmaschinen: Sie zeigen, wo einst Wiesen, Wälder, Auen oder Moore lagen – und was dort einmal gewachsen sein könnte.

Datenlücken mit Satellitenbildern stopfen

An der Universität Halle-Wittenberg arbeiten Forschende derzeit daran, historische Pflanzeninventare mit Satellitenbildern aus dem All abzugleichen. Sie wollen abschätzen, wie groß die Habitate einst waren und wie sehr sie seither geschrumpft sind. Doch die Methode hat Grenzen: Die Pixel der frühen Satellitenbilder sind 50 mal 50 Meter groß, und die Aufnahmen reichen nicht weiter zurück als in die 1980er-Jahre. Mehr als grobe Annäherungen lassen sich daraus kaum gewinnen.

Einen anderen Weg, um die Datenlücken zu stopfen, wählte der Biologe Gabriele Midolo von der Tschechischen Agraruniversität in Prag. Er trainierte ein Machine-Learning-Modell mit Daten: 700 000 Vegetationsaufnahmen aus ganz Europa, gesammelt seit dem Jahr 1960. Standortdaten, Höhenangaben, Klimawerte, Lebensraumtypen und das Jahr der Erhebung flossen in die Berechnungen ein. »Es war nicht einfach, diese Daten nutzbar zu machen«, sagt Midolo. »Aber wir trafen eine Annahme, die sich bewahrheitet hat: Was sich zeitlich und räumlich nahe ist, ähnelt sich auch in seiner Vegetation.« So konnte das Modell für Orte, an denen nie jemand die Pflanzen gezählt hatte, berechnen, wie artenreich sie vermutlich einst gewesen waren – und das mit ausreichender Genauigkeit. Überprüft wurden die Ergebnisse auf Flächen, deren echte Werte bekannt sind. Die dazugehörige Studie ist im Fachmagazin »Ecology Letters« erschienen.

Midolos Analysen zeigen, wie sich die Pflanzenvielfalt in verschiedenen Lebensräumen Europas verändert hat – in Wäldern, auf Wiesen, im Buschland und in Feuchtgebieten. Das Ergebnis erstaunt: »Insgesamt gibt es nahezu keine Nettoveränderung der Artenvielfalt«, heißt es im Forschungsartikel. Doch hinter dieser trügerischen Beständigkeit verbirgt sich ein Mosaik aus gegenläufigen Trends: aus Verlusten und Gewinnen, die sich gegenseitig aufheben.

In den 1960er- und 1970er-Jahren nahm die Biodiversität in vielen Regionen Europas deutlich ab. Seit den 1980ern aber zeigt sich ein überraschendes Gegenbild: In manchen Gegenden kehrte die Vielfalt zurück. In Osteuropa etwa verwilderten nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und mit der Integration in die EU viele Ackerflächen, die nicht mehr bewirtschaftet werden. Ähnliches geschah im Alpenraum, wo die Landwirtschaft weniger stark subventioniert wurde. Selbst im stark genutzten Grasland Mitteleuropas zeigt sich inzwischen wieder ein leichter Aufwärtstrend.

»Ein Grund für den Rückgang dürfte die massive Ausweitung der Landwirtschaft nach 1945 gewesen sein, ein anderer der unregulierte Einsatz von Stickstoffdüngern«Gabriele Midolo, Biologe

»Die Beobachtungen waren anfangs schwer zu deuten«, sagt Midolo. »Ein Grund für den Rückgang dürfte die massive Ausweitung der Landwirtschaft nach 1945 gewesen sein, ein anderer der unregulierte Einsatz von Stickstoffdüngern.« Das machte viele Böden nährstoffreich, wodurch sich wenige, konkurrenzstarke Arten durchsetzen konnten. »Aber dieser Prozess ist teilweise reversibel«, erklärt Midolo. »Wenn der Stickstoffeintrag sinkt, kann die Biodiversität wieder zunehmen – und genau das scheint in den zurückliegenden Jahrzehnten passiert zu sein.«

Dieser Effekt lässt sich auch in der Schweiz beobachten: Dort, wo die Biologen um Jürgen Dengler und Stefan Widmer die einstmals dokumentierten Arten in ihrem 30 mal 30 Zentimeter großen Rahmen nicht finden konnten, erweiterten sie ihren Suchradius um 500 Meter und landeten oft in Schutzgebieten oder auf neu eingerichteten Biodiversitätsförderflächen. Landwirte bekommen dort Geld für spätes Mähen oder für den Erhalt bestimmter geschützter Spezies. Und diese politische Maßnahme scheint zu wirken: Die Forschenden fanden dort fast alle alten Arten wieder – allerdings nur noch auf vereinzelten Inseln, nicht mehr in der weiten Fläche.

Die historischen Daten sind also weit mehr als ein Kuriosum. Sie zeigen, welche Maßnahmen greifen und welche versagen. Helge Bruelheide, Professor für Geobotanik und Leiter der Hallenser Forschungsgruppe, zieht daraus ein klares Fazit: »Dank der Naturschutzgesetzgebung in Deutschland, aber auch in der EU, hat sich die Natur zumindest in den Schutzgebieten erstaunlich gut erhalten. Wäre das nicht passiert, mag ich mir gar nicht vorstellen, wie Europa heute aussähe.« Die vergilbten Aufzeichnungen sind also die Dokumentation einer Landschaft, die sich verändert hat – und vielleicht auch ein Versprechen für die Zukunft, dass Wandel nicht immer Verlust bedeuten muss.

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  • Quellen

Midolo, G. et al., Ecology Letters 10.1111/ele.70248, 2025

Widmer, S. et al., Global Change Biology 10.1111/gcb.70529, 2025

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