Spazierengehen: Einfach mal raus!
Fitnessstudios geschlossen, Fußballtraining abgesagt, Tennisplätze gesperrt: Viele Möglichkeiten für sportliche Aktivitäten sind im Corona-Lockdown eingeschränkt. Dafür boomt eine Form der Bewegung: Spazierengehen. Und die ist viel mehr als nur eine Sonntagsbeschäftigung, betonen Experten. »Gehen ist eine wichtige und vielleicht die natürlichste körperliche Bewegungsform«, sagt Jens Kleinert, Professor für Sport- und Gesundheitspsychologie an der Deutschen Sporthochschule Köln. »Sie fordert den Gleichgewichtssinn und die Koordination der Muskeln.«
Schon der griechische Arzt Hippokrates (um 460–370 v. Chr.) meinte, Gehen sei des Menschen beste Medizin. Laut einer Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2015 lag er damit richtig. Britische Wissenschaftler werteten 42 Studien mit insgesamt mehr als 1800 Versuchspersonen aus, die regelmäßig über mindestens drei Wochen in Gruppen spazieren gingen. Eine Metaanalyse der Daten ergab, dass wiederholte Spaziergänge den Blutdruck und die Herzrate der Teilnehmenden positiv beeinflussten. Außerdem sanken ihre Blutfett- und Cholesterinwerte sowie der Body-Mass-Index (BMI) – die Probanden waren im Durchschnitt also schlanker geworden. Gehen habe weit reichende positive Auswirkungen auf die Gesundheit, und das praktisch ohne Nebenwirkungen, schreiben die Autoren.
Allerdings merken die Autoren an, dass die Mehrheit der Probanden der ausgewerteten Studien bereits gesundheitliche Probleme hatten – auf diesem Weg waren sie in die Gruppen gekommen. Daher könne die Metaanalyse keine Auskunft darüber geben, wie sich Spazierengehen auf das Befinden Gesunder auswirke.
Spazierengehen senkt das Sterberisiko
Häufiger spazieren zu gehen würde Menschen weltweit guttun, ist die Weltgesundheitsorganisation (WHO) überzeugt. Sie empfiehlt Erwachsenen mindestens 150 Minuten moderate Bewegung pro Woche und erwähnt das Gehen ausdrücklich als Möglichkeit, diesen Wert zu erreichen. In wohlhabenden Ländern seien 26 Prozent der Männer und 35 Prozent der Frauen nicht ausreichend körperlich aktiv – und haben der WHO zufolge dadurch ein um 20 bis 30 Prozent höheres Sterberisiko als bewegungsfreudige Menschen. Denn körperliche Aktivität verringert unter anderem die Wahrscheinlichkeit, sich Knochenbrüche zuzuziehen und an Herz-Kreislauf-Leiden, Diabetes oder Krebsarten wie Brust- und Dickdarmkrebs zu erkranken.
Wer sich für einen Spaziergang vom Sofa losreißt, könnte also seine Lebenserwartung positiv beeinflussen. Darauf weist auch eine Auswertung der Daten von rund 334 000 Europäern hin. Das Sterberisiko von mittelmäßig körperlich aktiven Menschen war um 16 bis 30 Prozent niedriger als das von jenen, die sich überhaupt nicht bewegten. Alle Teilnehmenden profitierten von einem Minimum an Aktivität, unabhängig davon, ob sie schlank oder übergewichtig waren.
»Bei rein kognitiver Belastung brauchen wir zur Erholung eine Aktivität mit möglichst viel Bewegung«
Jens Kleinert, Professor für Sport- und Gesundheitspsychologie
Regelmäßige leichte Bewegung wie Spazierengehen trägt außerdem dazu bei, dass wir uns besser entspannen können. Das ist besonders wichtig, wenn wir unter Stress stehen. Dann richtet sich der Körper automatisch auf große Anstrengung ein: Die Muskeln werden mobilisiert, das Herz schlägt schneller, die Bronchien weiten sich. Diese Anspannung bauen wir durch Bewegung wieder ab. »Bei rein kognitiver Belastung, wenn wir uns also wenig bewegen, brauchen wir zur Erholung eine Aktivität mit möglichst viel Bewegung«, sagt Jens Kleinert. »Spazierengehen reicht da schon aus.« Die Runde um den Block in der Mittagspause kann also erfrischend wirken.
Neben dem Körper profitiert die Psyche von einer Auszeit zu Fuß. Sportpsychologe Jens Kleinert führt das unter anderem auf die räumliche Trennung von unserem Zuhause oder Büro zurück: »Zur geistigen Erholung ist es wichtig, den Ort der Belastung zu verlassen.« Henning Allmer, emeritierter Professor für Gesundheitspsychologie der Deutschen Sporthochschule Köln, beschreibt in einem Buch mehrere Phasen des Erholungsprozesses nach einer Beanspruchung. An erster Stelle stehe, sich zu distanzieren, physisch wie psychisch. Räumlicher Abstand kann ihm zufolge helfen, sich auch emotional von der Belastung zu lösen.
Im besten Fall können wir demnach beim Gehen Ärger und Probleme Schritt für Schritt hinter uns lassen. Macht Spazierengehen also glücklich? Steigert es unser Wohlbefinden? Die wissenschaftliche Evidenz dafür sei viel versprechend, aber zu begrenzt, schrieben 2018 der britische Sportwissenschaftler Paul Kelly und sein Team nach einer Literaturrecherche. Sie hatten wesentlich weniger Studien zum Thema gefunden als erwartet. Im Jahr 2020 zeigte eine Untersuchung, dass vor allem ein Spaziergang an Orte, die Ehrfurcht erzeugen und Staunen auslösen, mit einem Anstieg an positiven Gefühlen verbunden sein kann. Ältere Personen zwischen 60 und 90 Jahren, die über acht Wochen auf kurzen, wöchentlichen Spaziergängen zum Beispiel große und weitläufige Plätze aufgesucht hatten, berichteten unter anderem von mehr Freude, Dankbarkeit und Mitgefühl als Probanden, die beim Gehen weniger ehrfürchtige Erfahrungen machten.
Es muss nicht Natur sein
Um sich nach einem Spaziergang besser zu fühlen, müssen wir aber weder besondere Orte noch schöne Plätze in der Natur aufsuchen – zumindest weisen darauf Experimente von Psychologen der Iowa State University hin. Spazieren zu gehen steigerte die Stimmung der Teilnehmenden einer Studie auch dann, wenn sie nur für zwölf Minuten auf dem Uni-Campus umherwanderten oder auf einem Laufband gingen. »Zweifellos fühlen sich viele Menschen in der Natur wohler, weil sie in der Stadt durch viele Eindrücke und Nebengeräusche leicht abgelenkt werden«, sagt Jens Kleinert. »Wenn ich einen Spaziergang zur Zerstreuung nutzen möchte, kann aber gerade diese Ablenkung erholsam sein. Und die Atmosphäre einer stillen Stadt in den Abendstunden, gerade im Corona-Lockdown, tut ebenfalls gut.«
Spaziergänge könnten zudem depressiver Stimmung vorbeugen. Darauf weist eine Langzeitstudie hin, die fast 34 000 norwegische Probanden über elf Jahre beobachtete. »Hätten sich alle Teilnehmer für wenigstens eine Stunde pro Woche Bewegung verschafft, hätten zwölf Prozent der später aufgetretenen Depressionen vermieden werden können«, schreiben die Autoren. Auf die Intensität der Bewegung kam es dabei nicht an.
Auch in der Therapie von Depressionen kommen Spaziergänge zum Einsatz. Eine Analyse von acht randomisiert-kontrollierten Studien ergab 2012, dass Gehen sogar sehr wirksam dabei ist, depressive Symptome zu lindern. Allerdings blieb unklar, wie genau ein optimales Spaziergehprogramm zur Behandlung gestaltet sein sollte. Außerdem fühlen sich depressive Patienten typischerweise antriebslos – ein Hindernis, wenn sie von einem Bewegungsprogramm profitieren sollen.
Warum körperliche Aktivität verschiedener Art bei Depressionen hilft, ist nicht abschließend geklärt. Eine Theorie führt den positiven Effekt auf einen Anstieg von verschiedenen Botenstoffen zurück, die die Neubildung von Nervenzellen im Gehirn und die neuronale Plastizität fördern. Darunter ist der Wachstumsfaktor BDNF (brain-derived neurotrophic factor), ein Protein, dessen Mangel mit verschiedenen Erkrankungen, unter anderem Depression, in Verbindung zu stehen scheint. Körperliche Aktivität dagegen führt zu einem Anstieg der BDNF-Konzentration im Blut.
Gehen hilft auch dem Gedächtnis
Über eine erhöhte BDNF-Ausschüttung könnte Gehen auch das Gedächtnis verbessern. Als 120 Bewegungsmuffel zwischen 55 und 80 Jahren für eine Studie über ein Jahr regelmäßig spazieren gingen, stieg die Konzentration des Wachstumsfaktors in ihrem Blut an, während gleichzeitig ihr Hippocampus größer wurde. Dieses für das Gedächtnis wichtige Hirnareal schrumpft eigentlich im Alter, was den kognitiven Abbau zum Teil erklärt. Durch das Gehen steigerte sich zudem die räumliche Merkfähigkeit der Probanden. Sie waren dreimal wöchentlich zunächst nur zehn Minuten am Stück gelaufen und hatten ihr Trainingspensum dann langsam auf 40 Minuten gesteigert.
Die verbesserte Denkfähigkeit scheint auch unseren Einfallsreichtum zu befeuern. In einer Studie von Marily Oppezzo und Daniel Schwartz von der Stanford University zeigten sich die Personen während oder nach einem kurzen Spaziergang über den Unigelände oder auf einem Laufband deutlich kreativer als im Sitzen. Die Wissenschaftler hatten sie unter anderem gebeten zu beschreiben, wozu verschiedene Gegenstände neben ihrer typischen Funktion noch nützlich sein könnten – ein klassischer Kreativitätstest. Ein Knopf zum Beispiel kann auch ein Auge einer Puppe oder ein kleines Sieb darstellen. Probanden, die zu Fuß unterwegs waren, hatten deutlich mehr und außergewöhnlichere Ideen.
»Besonders die Rhythmik der Schritte regt zu neuen Gedankengängen an«
Jens Kleinert, Sportpsychologe
»Beim Gehen können wir Dinge aus einer anderen Perspektive betrachten und neue Lösungswege finden«, sagt Sportpsychologe Jens Kleinert. »Besonders die Rhythmik der Schritte regt zu neuen Gedankengängen an.« Ähnlicher Meinung scheint bereits der griechische Philosoph Aristoteles im 4. Jahrhundert v. Chr. gewesen zu sein: Gespräche mit seinen Schülern führte er in der Regel in einem Wandelgang – im Gehen. Viele Generationen später schrieb auch der Philosoph Jean-Jacques Rousseau: »Sobald ich stehen bleibe, denke ich nicht mehr.« Auf einem Spaziergang dagegen ließ er seinen Gedanken freien Lauf.
»Man sollte nur spazieren gehen, wenn es einem dabei körperlich und emotional gut geht«, merkt Jens Kleinert an. Ohne Schmerzen oder andere Beschwerden beim Gehen biete sich jedoch die Chance, »einfach mal ein anderes Tempo auszuprobieren, einen anderen Weg, eine andere Umgebung oder andere Menschen, mit denen man zusammen geht«, empfiehlt der Sportpsychologe. »So kann jeder seine individuelle Art des Spazierengehens finden, die ihm persönlich angenehm ist.«
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