Biotechnologie: »Spiegelbakterien bergen beispiellose Risiken«

Im Dezember 2024 haben zahlreiche Fachleute im Journal »Science« vor den Gefahren von Spiegelorganismen gewarnt – also von Lebewesen mit spiegelbildlicher Molekülsymmetrie. Würden solche Organismen künstlich erschaffen und freigesetzt, drohten katastrophale Folgen, schreibt das Team, das dazu einen rund 300-seitigen Forschungsbericht vorgelegt hat. Mitautor Sebastian Oehm erläutert im Gespräch mit »Spektrum«, was daran so gefährlich wäre.
Herr Oehm, gemeinsam mit 37 weiteren Fachleuten aus den Biowissenschaften und der Medizin, darunter zwei Nobelpreisträgern, warnen Sie vor künstlich erzeugten spiegelbildlichen Lebewesen. Warum und wieso gerade jetzt?
Spiegelbakterien sind eine neue Lebensform, die in der Natur nicht vorkommt, aber möglicherweise in 15 bis 30 Jahren im Labor erschaffen werden könnte. Wir haben uns damit auseinandergesetzt, welche Folgen das haben könnte. Laut unseren Analysen, die wir in einem detaillierten Bericht veröffentlicht haben, müssen wir davon ausgehen, dass Spiegelbakterien beispiellose Risiken für die Natur und den Menschen bergen. Wir möchten mit unserem Aufruf eine weltweite Debatte über das Thema anstoßen, an der sich nicht nur die Wissenschaft, sondern die Gesellschaft als Ganzes beteiligt. Es geht darum, rechtzeitig zu klären, wie wir diese Risiken vermeiden können. Noch haben wir die Zeit dafür, weil die Wissenschaft noch nicht so weit ist, spiegelbildliche Lebewesen zu erschaffen.
Was sind spiegelbildliche Lebewesen?
Alles Leben auf der Welt, von Bakterien über Pilze und Pflanzen bis zu Tieren, besteht auf der molekularen Ebene aus sehr ähnlichen Bausteinen. Das sind vor allem Proteine, Kohlenhydrate und Fette. Solche Moleküle können grundsätzlich in verschiedenen räumlichen Anordnungen existieren, die sich zueinander wie Spiegelbilder verhalten – so wie unsere linke und rechte Hand. Unsere Hände gleichen sich, sind bezogen aufeinander aber seitenverkehrt. Wenn man versucht, mit der linken Hand einen rechten Handschuh anzuziehen, funktioniert das nicht. Auch wenn spiegelbildliche Moleküle in Kontakt kommen, passen sie nicht zueinander. Interessanterweise nutzt jegliches natürliches Leben auf unserem Planeten die gleichen Spiegelformen. So bestehen Proteine aus linkshändigen Aminosäuren und Nukleinsäuren bestehen aus rechtshändigen Nukleotiden. Fachleute sagen dazu, diese Moleküle sind chiral. Egal welches natürliche Lebewesen wir uns anschauen: Wir finden überall dieselben molekularen Spiegelformen.
Gilt das ausnahmslos?
Es gibt hin und wieder Biomoleküle mit abweichender Spiegelform, die spezielle Funktionen übernehmen. In der Zellwand von Bakterien beispielsweise kommen ein paar seitenverkehrte Aminosäuren vor. Im Allgemeinen aber dominiert nur eine Form. Die Grundbausteine natürlicher Zellen – DNA, Proteine, Lipidmoleküle – weisen jeweils alle die gleiche Chiralität auf. Wissenschaftler im Labor könnten jedoch im Prinzip Moleküle der jeweils anderen Form herstellen, etwa Proteine aus rechtshändigen Aminosäuren, und daraus lebende Zellen zusammenbauen, zum Beispiel Bakterien. Die wären genauso lebendig und funktional wie ihre natürlichen Gegenstücke, aber sie hätten eine andere Molekülgeometrie.
Wieso glauben Sie, dass solche Lebewesen gefährlich sein könnten?
Wir haben verschiedene Fachleute zusammengebracht aus der synthetischen Biologie, Immunologie, Pflanzenphysiologie, Ökologie und Evolutionsbiologie. Die haben sich dann im Detail angeschaut: Was können wir anhand des derzeitigen Forschungsstands, also der existierenden Fachliteratur, darüber sagen, wie sich Spiegelbakterien verhalten würden? Es gibt keine Forschung an solchen Lebewesen, weil sie noch nicht existieren. Allerdings wissen wir schon heute viel darüber, wie unser Immunsystem arbeitet, wie Ökosysteme funktionieren und wie sie mit Spiegelbausteinen interagieren würden. Auf Basis der Forschungserkenntnisse, die wir bereits haben, können wir durchaus zu wichtigen Schlussfolgerungen kommen.
Sie sehen eine Gefahr darin, dass Spiegelbakterien die natürliche Immunabwehr überwinden und tödliche Infektionen bei Pflanzen und Tieren auslösen könnten. Warum?
Das Immunsystem hat sich über Jahrmillionen entwickelt und ist dafür perfektioniert, natürliche Krankheitserreger abzuwehren. Die bestehen aus Molekülen mit natürlichen Spiegelformen, und die Immunmechanismen sind darauf ausgelegt, solche Moleküle zu erkennen und zu verarbeiten. Viele dieser Prozesse würden im Fall eines Spiegelbakteriums versagen. Das Immunsystem hätte Schwierigkeiten, derartige Bakterien überhaupt als solche zu erkennen und festzustellen, dass eine Infektion vorliegt. Darüber hinaus hätte es Probleme damit, sie zu attackieren und zu zerstören, sprich eine Immunreaktion zu entfesseln.
Sind das nur Gedankenspiele oder gibt es empirische Hinweise darauf?
Studien haben gezeigt, dass sich Spiegelproteine dem Aufspalten in Peptide widersetzen. Denn die Enzyme der Immunabwehr können sie nicht oder nur eingeschränkt verarbeiten. Außerdem tun sich Immunzellen schwer damit, seitenverkehrte Peptide auf ihrer Oberfläche zu präsentieren. Das beeinträchtigt den Mechanismus, mit dem das Immunsystem die Krankheitserreger normalerweise als körperfremd erkennt. Spiegelproteine lösen darum keine oder nur eine sehr geringe Antikörperbildung aus. Die Abwehrreaktion ihnen gegenüber ist deutlich geschwächt, weshalb sie vom Organismus kaum bekämpft würden.
Hat das Immunsystem keine Möglichkeit, Krankheitserreger unabhängig von ihrer Chiralität zu bekämpfen?
Doch, es gibt Mechanismen dafür. Aber sie allein reichen wahrscheinlich nicht aus, Infektionen mit Spiegelbakterien zurückzudrängen. Aus der klinischen Erfahrung mit Patientinnen und Patienten wissen wir: Schon wenn die Immunfunktion nur wenig beeinträchtigt ist, steigt die Anfälligkeit für Infektionskrankheiten deutlich. Bei Spiegelbakterien würden zahlreiche Immunprozesse versagen und deshalb wären schwere Krankheitsverläufe denkbar.
»Bei Spiegelbakterien würden zahlreiche Immunprozesse versagen und deshalb wären schwere Krankheitsverläufe denkbar«
Sie und Ihre Kollegen äußern die Befürchtung, dass Spiegelbakterien resistent sein könnten gegen Viren, andere Mikroben und auch Antibiotika. Wieso?
Viren koppeln passgenau an die Oberflächenstrukturen ihrer Wirtszellen. Wenn diese Strukturen seitenverkehrt sind, funktioniert das nicht, und das Virus kann den Wirt nicht mehr infizieren. Andere Mikroben wiederum, die ein Spiegelbakterium fressen könnten, hätten das Problem, dass sie viele seiner Bestandteile nicht verdauen könnten oder es vielleicht von vornherein gar nicht als Beute erkennen würden. Antibiotika schließlich sind in ihrer Wirkung oft ebenfalls stark von chiralen Wechselwirkungen abhängig und würden deshalb gegen Spiegelbakterien in vielen Fällen nichts ausrichten.
Sie warnen außerdem davor, dass Spiegelbakterien in die Umwelt gelangen, sich dort vermehren und stabile Populationen bilden könnten.
Diese Organismen hätten in der Umwelt einen großen Fitnessvorteil, weil sie, wie beschrieben, weitgehend immun wären gegenüber Viren, anderen Mikroben und Molekülen mit antibiotischer Wirkung. Sie hätten allerdings auch einen Nachteil: Sie könnten weniger Nährstoffe verarbeiten, weil die Spiegelformen vieler natürlicher organischer Moleküle nicht zu ihren eigenen passen würden. Allerdings würden sie wohl immer noch genügend Nährstoffe finden, um sich dauerhaft zu etablieren. Unserer Analyse legt nahe, dass Spiegelbakterien in vielen Ökosystemen eine Überlebenschance hätten und dort letztlich wie eine invasive Spezies wirken könnten.
Welche Nährstoffe kommen für spiegelbildliche Organismen denn in Frage? Die meisten Biomoleküle wie Proteine, Zucker und Nukleinsäuren sind chiral.
In der Umwelt und im menschlichen Körper gibt es ausreichende Mengen an nicht chiralen Substanzen, die sich als Nährstoffe eignen. Das sind oft kleine Moleküle wie Alkohole, Essigsäure, die Aminosäure Glycin oder nicht chirale Fettsäuren. In unseren Analysen haben wir uns angeschaut, in welchen Mengen solche Nährstoffe in der Umwelt auftreten beziehungsweise in pflanzlichen oder tierischen Organismen. Und wir kommen zu dem Schluss, es ist durchaus denkbar, dass sich Spiegelbakterien in vielen Umgebungen vermehren können.
Sie sprechen sich dafür aus, dass solche Organismen nicht erzeugt werden sollten. Demzufolge gibt es ein Interesse daran, sie herzustellen. Weshalb sollte man das überhaupt tun?
Die Beobachtung, dass das Leben bestimmte Spiegelformen bevorzugt, ist schon für sich genommen faszinierend. Bereits der französische Chemiker Louis Pasteur hatte im 19. Jahrhundert spekuliert, wir könnten eines Tages möglicherweise Spiegellebewesen im Labor herstellen. Die Idee ist also sehr alt. Jetzt, 150 Jahre nach Pasteur, kommen wir langsam dahin, dass solche Gedanken nicht mehr nur Zukunftsfantasien sind, sondern zur realistischen Option werden. Noch gibt es nur wenige Wissenschaftler, die das wirklich ernsthaft verfolgen, und die sehen das meist eher als langfristiges Ziel an. Aber es gibt schon etliche Forschungsprojekte, die sich im weiteren Sinne mit spiegelbildlichen chiralen Biomolekülen beschäftigen. Viele Fachleute, die daran arbeiten, haben sich an unserem Aufruf beteiligt.
Wofür kann man spiegelbildliche Moleküle nutzen?
Zum Beispiel in der Medizin. Es gibt bereits ein Medikament, dessen wirksamer Bestandteil ein Spiegelpeptid ist, also gewissermaßen ein seitenverkehrtes Proteinfragment. Es interagiert mit der gewünschten Zielstruktur im Körper und entfaltet so seine pharmazeutische Wirkung. Wegen seiner umgekehrten Chiralität wird es nicht so schnell von körpereigenen Enzymen abgebaut und wirkt deshalb deutlich länger. Viele kleine Unternehmen arbeiten daran, neue Wirkstoffe auf Basis von chiralen Molekülen zu entwickeln. Die Hoffnung ist, dass man damit Krankheiten heilen kann, die bisher nicht gut behandelbar waren. Es gibt auch Ideen, mit Hilfe solcher Moleküle langfristig Informationen zu speichern oder neue Katalysemethoden für industrielle Anwendungen zu entwickeln.
Sie haben in Molekularbiologie promoviert und ein Biotech-Unternehmen mitbegründet. Hatten Sie selbst einmal das Ziel, Spiegellebewesen zu erschaffen?
Ich bin, glaube ich, ein typischer Fall unter den Wissenschaftlern, die mit diesem Thema zu tun haben. Mein Interesse ist nie gewesen, Spiegelbakterien herzustellen. Aber ich habe an Technologien gearbeitet, die in 10 oder 15 Jahren dazu führen könnten, dass es möglich wird, solche Organismen hervorzubringen. Ich habe erforscht, wie man auf biologischem Weg spiegelbildliche Moleküle erzeugen könnte, etwa indem man den Stoffwechsel normaler Zellen modifiziert. Das lässt sich beispielsweise nutzen, um neue Arzneimittel zu entwickeln. Zugleich ist es jedoch auch ein Schritt in Richtung Spiegelbakterien, obwohl deren Erschaffung gar nicht die Absicht ist. Es gibt nur wenige Forschungsgruppen, die wirklich spiegelbildliche Organismen herstellen wollen, aber viele, die an zugehörigen Technologien arbeiten und damit den Weg dorthin ebnen.
»Im Prinzip lässt sich jeder biologische Organismus spiegelbildlich konstruieren«
Sehr oft sprechen Sie von Spiegelbakterien. Sind nicht auch andere seitenverkehrte Organismen denkbar, etwa Spiegelviren?
Natürlich. Im Prinzip lässt sich jeder biologische Organismus spiegelbildlich konstruieren. Doch Spiegelpflanzen oder Spiegeltiere sind viel schwieriger zu erzeugen als entsprechende Bakterien, weil sie deutlich komplexer aufgebaut sind. Spiegelviren wiederum erscheinen nicht so bedrohlich, weil Viren immer davon abhängen, Wirtszellen zu infizieren. Hierfür müssen sie an die Zellen ankoppeln, was sehr empfindlich von molekularen Wechselwirkungen abhängt, bei denen die Chiralität eine Rolle spielt. Bei Spiegelviren würden die Oberflächenstrukturen nicht mehr zu denen des Wirts passen; sie könnten diesen daher nicht angreifen.
Ist die Möglichkeit, Spiegelbakterien zu erschaffen, nicht sehr hypothetisch? Selbst von der künstlichen Erzeugung »normalen« Lebens sind wir noch weit entfernt.
Sicher, das ist erst in 15 bis 30 Jahren zu erwarten, je nach investierten Ressourcen. Gleichzeitig haben wir aber in den letzten Jahren viele Fortschritte gemacht, sowohl was die Erschaffung synthetischen Lebens im Labor angeht, als auch was die Herstellung von Spiegelmolekülen betrifft. Wenn diese beiden Forschungsfelder sich weiterentwickeln über die nächsten 10, 20 Jahre, dann werden sie sich irgendwann an dem Punkt treffen, wo das Erzeugen von Spiegelbakterien möglich wird. Und dieser Punkt liegt nicht mehr in sehr ferner Zukunft.
»Das Erzeugen von Spiegelbakterien liegt nicht mehr in sehr ferner Zukunft«
Was sind die größten Hindernisse auf dem Weg dahin?
Zunächst einmal haben wir, wie bereits angesprochen, noch keine verlässliche Methode, um künstliche Zellen im Labor herzustellen, die alle Eigenschaften des Lebens haben. Wir können synthetische Zellen herstellen, die bestimmte Stoffwechselprozesse nachvollziehen oder in denen DNA repliziert wird, aber noch kein echtes Bakterium. Zweitens ist die Erzeugung von Spiegelmolekülen, die man braucht, um daraus Spiegelbakterien aufzubauen, sehr teuer – und man benötigt großen Mengen davon. Das ist aktuell vom Ressourcenaufwand her nicht machbar. Wenn allerdings die Kosten fallen, und davon müssen wir ausgehen, wird es immer realistischer, die Bestandteile für Spiegelbakterien in der erforderlichen Menge zu produzieren.
Sollten Spiegelbakterien einmal im Labor erschaffen werden – wie ließe sich verhindern, dass sie unkontrolliert freikommen?
Wir glauben nicht, dass das mit ausreichender Sicherheit möglich ist. Zum einen könnte man in Hochsicherheitslaboren arbeiten, mit allen begleitenden Schutzmaßnahmen. Allerdings gibt es viele dokumentierte Fälle, in denen gefährliche Krankheitserreger aus Hochsicherheitslaboren entkommen sind. Auch wenn das Risiko hierfür klein ist – gemessen an dem enormen Schadenspotenzial von Spiegelbakterien erscheint es zu hoch. Zum anderen könnte man den Stoffwechsel von Spiegelbakterien so programmieren, dass er von einem ungewöhnlichen chemischen Stoff abhängt, den wir der Nährlösung hinzugeben müssen, damit die Mikroben überleben. Hier lauert die Gefahr, dass die Bakterien diese Abhängigkeit durch Evolution überwinden. Und immer können Sicherheitsmechanismen natürlich infolge menschlicher Fehler oder gar bewusster Sabotage versagen. Insgesamt ist das aus unserer Sicht ein Risiko, das es sich nicht einzugehen lohnt.
Woher kommt es eigentlich, dass natürliche Lebewesen in der Chiralität ihrer molekularen Bestandteile so umfassend übereinstimmen?
Das ist eine spannende Frage. Die Antwort lautet wahrscheinlich, dass alles Leben auf der Erde, vom kleinsten Bakterium bis zu den größten Pflanzen und Tieren, von einem gemeinsamen Urahnen abstammt. Und dieser Vorfahr besaß bereits wesentliche Elemente des biochemischen Apparats, den wir in den heutigen Lebewesen finden. Die übereinstimmende Chiralität der Biomoleküle dürfte also auf unseren gemeinsamen evolutionären Ursprung zurückgehen.
Sie schreiben, die natürliche Evolution ist wahrscheinlich nicht dazu in der Lage, die Chiralität heutiger Biomoleküle umzukehren. Wieso nicht?
Evolution schreitet meist in kleinen Schritten voran und geht immer von dem aus, was schon da ist. Sie bringt keine grundstürzenden Innovationen aus dem Nichts hervor. Von den heutigen Lebewesen, die in Jahrmilliarden evolvierten, zu spiegelbildlichen Gegenstücken zu kommen, wäre ein radikaler Schritt. Ein viel zu großer Sprung, um im Rahmen der natürlichen Evolution denkbar zu sein.
Sie und Ihre Mitstreiter rufen zu einer breiten Debatte über die Risiken von Spiegellebewesen auf, an der sich Forschung, Politik, Industrie und Zivilgesellschaft beteiligen sollen. Was stellen Sie sich konkret vor?
Mit unserem Bericht und dem Aufruf in »Science« ist der erste Schritt getan, die Wissenschaft, die Politik und die Öffentlichkeit auf dieses Problem aufmerksam zu machen. Das ist eine Einladung, jetzt den globalen Dialog zu beginnen, wie mit solchen Risiken umgegangen werden kann. Wir möchten selbst einige Veranstaltungen organisieren und haben schon konkret für 2025 geplant, in Paris, Manchester und Singapur jeweils ein Forum auszurichten, wo Experten und Entscheidungsträger zusammenkommen, um die Debatte zu führen. Wir laden herzlich auch andere relevante Institutionen und Gruppen rund um den Globus ein, sich in die Diskussion einzubringen, um einen guten Weg für die Zukunft zu finden.
Forschungsarbeiten, die auf die Schaffung von Spiegelorganismen abzielen, sollten Ihrer Ansicht nach nicht erlaubt beziehungsweise möglichst stark behindert werden. Zumindest, bis die Risiken geklärt sind. Lässt sich das durchsetzen?
Ich bin da optimistisch. Einerseits haben wir das Problem relativ früh erkannt, und das gibt uns jetzt die Zeit, die Diskussion mit allen Beteiligten und Betroffenen zu führen, um zu einem breiten internationalen Konsens zu kommen. Andererseits gibt es für Spiegelbakterien zwar mögliche Anwendungen, doch die sind relativ begrenzt, und es existieren gute Alternativen dazu. Wir haben also die Situation, dass Spiegelbakterien nur sehr begrenzte Vorteile bieten, bei ihrer Nutzung aber schwer wiegende negative Konsequenzen drohen. Wir sind mit Wissenschaftlern in Dialog getreten, die in der Vergangenheit einmal geäußert hatten, es sei ihr langfristiges Ziel, Spiegelbakterien zu erschaffen. Soweit mir bekannt ist, haben alle von ihnen unseren Aufruf als sinnvoll erachtet und ihn unterstützt.
»Spiegelbakterien bieten nur sehr begrenzte Vorteile, bei ihrer Nutzung drohen aber schwer wiegende negative Konsequenzen«
Welche Möglichkeiten gäbe es, Forschungsarbeiten zu behindern, die auf die Schaffung von Spiegelbakterien abzielen?
Zunächst einmal ist wichtig, zu unterscheiden, ob es um spiegelbildliche Moleküle geht oder um Spiegellebewesen, die einen Stoffwechsel betreiben und sich vermehren können. Es gibt sehr viele Forschungsprojekte, die sich mit Ersteren befassen, und sie haben klare Anwendungen mit großem Potenzial und sind mit relativ wenigen Risiken behaftet. Spiegelbakterien aber, die sich selbst replizieren, haben eher begrenzte Anwendungen. Man könnte mit ihrer Hilfe beispielsweise Spiegelmoleküle für medizinische Anwendungen produzieren, doch man braucht sie dafür nicht – das ist auch auf anderem Weg möglich.
Wir müssen die Risiken erkennen und verstehen, die sich mit Spiegelorganismen verbinden. Ich bin überzeugt davon: Die meisten Wissenschaftler möchten mit ihren Arbeiten nicht dazu beitragen, dass Menschen oder die Umwelt zu Schaden kommen – auch wenn diese Arbeiten noch so spannend sind. Die Wissenschaftsgemeinschaft kann, denke ich, von selbst zu einem Konsens kommen, auf entsprechende Experimente zu verzichten. In einem zweiten Schritt könnte man darüber nachdenken, wie man das formalisiert und in Regeln gießt. Auf welche Weise das gehen könnte, gehört zu den Themen der von uns angeregten globalen Diskussion.
Welche Reaktionen haben Sie auf Ihren Aufruf bekommen?
Ich war positiv überrascht von dem großen Zuspruch. Alle möglichen Fachleute haben sich uns gegenüber in Zuschriften und Diskussionen geäußert, und ich glaube, viele haben erkannt: Was wir tun, ist sehr ungewöhnlich in der Wissenschaft. Häufig experimentiert man zuerst und denkt danach über die Konsequenzen nach – wir regen mit unserem Aufruf den umgekehrten Weg an. Gerade jene Forscher, die zuvor das Ziel hatten, Spiegelbakterien herzustellen, sind durch unsere Analysen vielfach zu dem Schluss gekommen, dass sie das jetzt nicht mehr tun wollen. Natürlich gibt es ebenso Kritik, beispielsweise Hinweise darauf, wo wir uns unklar ausgedrückt haben, welche Aspekte unseres Berichts noch mal überprüft werden sollten oder warum manche Risiken kleiner sein könnten als von uns dargestellt. Und das ist auch gut und richtig so; deshalb regen wir ja eine breite Debatte an. Wir müssen die Risiken von Spiegelorganismen managen, dürfen dabei aber nicht andere Wissenschaftsbereiche unnötig beschneiden.
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