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Virenevolution: Spur zu alten Todgeweihten

Die Ahnen der Viren mussten lange üben und feilen, bevor ihre perfekte Piratentaktik zum Kapern fremder Zellen ausgereift war - und schleppten dabei im Laufe der Zeit immer mehr Spuren alter Entererfolge mit durch. Solche Reste verraten viel über das verworrene Geschick vom Pockenerreger und dessen Sippe.
<i>Echis ocellatus</i>
Es ist gelaufen wie immer: Am Anfang sind Chancen und Risiken, dann kommen für manche Wohlstand und Erfolg, und dann unausweichlich Neider und immer raffiniertere Mitesser – sie ist typisch, die gemeinsame Entwicklungsgeschichte des Lebens und der Viren. Letztere können sich nicht selbstständig vermehren und zählen deswegen nicht zu Ersterem. Für etwas demnach definitionsgemäß Totes haben sie aber reichlich Tricks auf Lager, um nie in Vergessenheit zu geraten: Keine Nische auf unserem Planeten ist vor ihnen sicher. Auch nicht die Nische "Virus" selbst, wie sich nun zeigt.

Geschickter "Schmarotzer"

Ein Virus ist im Prinzip nichts als ein geschickter Schmarotzer: Es vermehrt sich, indem es Erbgut-Kopien in Wirte schleust und dort replizieren und ausführen lässt. Auf Kosten eines fremden Maschinenparks entstehen dabei viele neue, infektionsbereite Nachkommen. Genau nach diesem Prinzip Virus arbeiten – allerdings auf der Ebene der Gene, nicht der Zellen – auch so genannte Retroposons: ohne Fremdhilfe aufgeschmissen, schmuggeln sie sich mit fremder Hilfe opportunistisch und selbsterhaltend von Erbgutabschnitt zu Erbgutabschnitt. Dabei können sie gelegentlich einmal in ein Virus geraten, das sich gerade selbst zufällig an die angesprungene Stelle in das Erbgut einer Wirtszelle integriert hatte.

Nach solchen "Viren"-in-Viren-Vorfällen haben nun Norihiro Okada vom Tokio-Institut für Technologie und Oliver Piskurek von der Universität von Arizona gesucht – am Bespiel der Pockenvirenverwandtschaft. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein springendes, vage virusanaloges DNA-Element auch einmal in ein echtes Virus rutscht, ist gar nicht so klein, wie man auf den ersten Blick annehmen könnte. Im menschlichen Erbgut zum Beispiel finden sich enorm viele solcher herumhüpfender, virusanaloger Retroposons: Immerhin 14 weit gestreute Prozent unseres gesamten Genoms gehören allein der Retroelement-Gruppe der von den beiden Forschern näher analysierten SINEs (short interspersed nuclear elements) an.

Tiere haben eigene Pockentypen

Nun leiden Menschen seit dem offiziell von der WHO verkündeten Ausrottungs-Datum im Mai 1980 nicht mehr an Pocken. Viele Tiere aber haben noch ihre ganz eigene, durch Viren der Orthopox-Gattung ausgelöste Pockenerkrankung sowie ihre eigenen SINE-Retroposons, die dann gelegentlich auch in die Viren hineinhüpfen können. Okada und Piskurek konzentrierten sich unter diesen auf das Taterapocken-Virus TATV, welches westafrikanischen Gerbilen oder Wüstenrennmäusen (Tatera kempi) die Pocken beschert. TATV ist nah verwandt mit dem Kamelpockenerreger, seinerseits der nächste noch existierende Verwandte des Menschenpockenvirus.

Tatsächlich sprang den Forscher beim peniblen Durchmustern des TATV-Erbguts eine 352 Basen lange, verdächtige Sequenz ins Auge – die "unseres Wissens nach erste je in einem Virusgenom entdeckte Retroposon-Insertion", so die Forscher ebenso stolz wie nebenbei. Denn ihre eigentlich Entdeckung öffnet viel spannenderen Spekulationen Tür und Tor: Die identifizierte SINE-Sequenz stammt offenbar gar nicht aus dem Erbgut der Wüstenrennmaus.

Sandrasselotter und Gerbil | Beute und Räuber: Eine Westafrikanische Augenfleck-Sandrasselotter (Echis ocellatus) macht sich über einen ebenfalls in Westafrika heimischen Kemp-Gerbil (Tatera kempi) her. Eine Sequenz-Analyse des Genoms des Gerbil-Pockenvirus enthüllte nun springende Genelemente – so genannte SINE-Retroposons –, die nicht aus dem Genom des Gerbils in das Virus gesprungen sind, sondern einst im Genom der Schlange integriert waren, bevor sie auf Wanderschaft gingen. Das Virus diente also als Fähre für einen horizontalen Gentransfer von Reptilien in Säuger.
SINE-Sequenzen sind charakteristisch für die Art, in deren Zellkernen sie herumhüpfen – und nach Computeranalysen und der Isolation verschiedener typischer SINEs unterschiedlicher Arten stand nach einiger Zeit fest, dass die Sequenz im Gerbil-Pockenvirus mit hoher Wahrscheinlichkeit einmal im Genom der hochgiftigen, Westafrikanischen Augenfleck-Sandrasselotter (Echis ocellatus) herumgetrieben hatte. Das Retroposon im Gerbilvirus gehörte also ursprünglich ins Erbgut einer Giftschlange.

Kommen die Pocken von den Reptilien?

Damit, so die Forscher, ist ein Beispiel für horizontalen Gentransfer per Retroelement gefunden. Die Giftschlangen, deren Verbreitungsgebiet mit dem der Gerbile überlappt, übertrugen offenbar irgendwie die springenden DNA-Sequenzen aus ihren Zellen in jene ihrer Beutetiere – und zwar über das Pockenvirus, denn ein direkter Kontakt zwischen Jäger und Beute endet ja für die Gerbile meist tragisch. Das Gerbil-Pockenvirus muss demnach auch Schlangen als Reservoir-Wirte befallen. Und dies sogar über einen evolutiv recht langen Zeitraum, da sonst das Hereinspringen des Schlangen-Retroposons in das Virus ein sehr außergewöhnlicher Glückstreffer gewesen sein müsste.

Und damit haben die Forscher genug Indizien für eine letzte Schlussfolgerung: Vielleicht, so spekulieren sie, stammen ursprünglich alle der heute existierenden Pockenviren von Ahnen ab, die einst auf kaltblütige Reptilien spezialisiert waren. Beweisen könnten dies weitere Untersuchungen verschiedener SINE-Sequenzen aus anderen Pockenviren. Mit etwas Glück finden sich in diesen Zellschmarotzern alte, sprunghafte DNA-Abschnitte, die sie auf ihrem Evolutionsweg hin zum Säugetier-Pathogen begleitet haben.

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