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Aerosole: Steckt das neue Coronavirus in schwebenden Tröpfchen?

Viel spricht dafür, dass winzige, in der Luft schwebende Tröpfchen das Coronavirus verbreiten. Das würde Innenräume, Sprechen, Singen riskant machen. Doch der Beweis fehlt.
In die Ellbeuge zu husten oder niesen, ist empfohlen.

Reden ist Silber, Singen ist Gold – jedenfalls anscheinend für Sars-CoV-2. Immer mehr deutet darauf hin, dass winzigste Tröpfchen, die sehr lange in der Luft schweben können, tatsächlich bedeutend dazu beitragen, das Virus zu verbreiten. Einige Fachleute hatten das bereits vermutet, konnten es aber bislang nicht belegen.

Doch je genauer sie Ansteckungsereignisse nachverfolgen, desto stärker werden die Indizien. Am 7. April erschien eine Analyse chinesischer Fachleute von 318 Ansteckungsereignissen, von denen 316 in Innenräumen stattfanden; zwei Wochen später berichtete ein anderes Team von mehreren Ansteckungen im Luftstrom einer Klimaanlage in einem Restaurant in Guangzhou. Beides deutet auf schwebende Aerosole als Ursache.

Als Aerosol bezeichnet man gemeinhin Tröpfchen mit weniger als etwa fünf bis zehn Mikrometer Durchmesser, die sich im Luftstrom mitbewegen. Anders als größere Tröpfchen, die sich schnell absetzen, können sich solche Aerosole in der Luft anreichern oder über weite Strecken transportiert werden. Die winzigen Speicheltröpfchen entstehen ganz besonders beim Sprechen oder Singen. Doch enthalten sie aktive Viren, mit denen man sich anstecken kann?

Ein schwer zu beweisender Verdacht

»Nach Ansicht der Wissenschaftler, die daran arbeiten, gibt es absolut keinen Zweifel darüber, dass sich das Virus über die Luft verbreitet«, sagte schon im März die Aerosolforscherin Lidia Morawska von der Queensland University of Technology in »Nature«. »Es ist offensichtlich.« Es nachzuweisen gestaltete sich jedoch äußerst schwierig.

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Virale RNA fanden Fachleute bereits häufiger in Aerosolen, zum Beispiel in der Luft von Isolierstationen, wie eine Arbeitsgruppe schon Anfang März zeigte. Krankenhäuser sind potenzielle Epizentren der Übertragung durch feinste Tröpfchen, denn diese entstehen bei medizinischen Prozeduren oft in großer Menge. Nicht zuletzt bei der Beatmung von Patienten mit Lungenentzündung.

Allerdings haben derartige Nachweise einen Schönheitsfehler: Die RT-PCR, das Verfahren, mit dem man Viren in einer Probe aufspürt, ist hochempfindlich und schlägt bereits an, wenn nur winzigste Mengen des Erbguts vorliegen. Infizierte produzieren und verstreuen Virus-RNA in enormen Mengen. Ob aber tatsächlich aktive Viren in der Probe sind – geschweige denn in ausreichender Menge für eine Infektion – kann man solchen Tests nicht entnehmen.

Wo man singt, da bleib lieber weg

Mit der »virushaltigen Krankenhausluft Zellkulturen zu infizieren – die einzige Möglichkeit, tatsächlich zu zeigen, dass eine Probe ansteckend ist –, misslang damals jedenfalls. Auch entsprechende Versuche, das Virus per Atemluft zwischen Frettchen zu übertragen, scheiterten – nach Angaben der Forscher kamen Infektionen nur zu Stande, wenn die Tiere länger Kontakt miteinander hatten.

Deswegen waren und sind Fachleute mit einer Antwort auf die Aerosol-Frage zurückhaltend. Dabei ist dieser Punkt von entscheidender Bedeutung. Mit Hilfe von Aerosolen könnte sich der Erreger nicht nur über weite Strecken verbreiten, sondern auch noch Menschen infizieren, wenn die erkrankte Person längst nicht mehr in der Nähe ist. Sprechen und besonders Singen produziert vermutlich große Mengen Aerosole – je lauter, desto mehr, wie bereits im Februar 2019 eine Arbeitsgruppe berichtete. Ein Mundschutz aus Stoff würde gegen diese Form der Übertragung zudem kaum schützen – oder nur dadurch, dass die Menschen Räume, in denen Masken vorgeschrieben sind, meiden – und dort weniger reden. Eine wirksame Barriere gegen das Einatmen und auch das Ausatmen von Aerosolen stellt ein improvisierter Mundschutz jedenfalls nicht dar.

Hinreichend viele Studien werden schließlich seine wahre Natur offenbaren
Julian Tang et. al: BMC Infectious Diseases

Gleichzeitig mehren sich die Indizien, dass die schwebenden Tröpfchen im Infektionsgeschehen eine Rolle spielen. Darauf deutet beispielsweise ein außergewöhnliches Übertragungsereignis hin: Am 18. März trafen sich im US-Bundesstaat Washington 61 Menschen zu einer Chorprobe – einer von ihnen war erkrankt. Nach der Probe hatten sich 33 weitere sicher und 20 andere wahrscheinlich angesteckt.

Mehr Fragen als Antworten

Doch selbst wenn sich herausstellt, dass das Coronavirus tatsächlich durch Aerosole übertragen werden kann, wirft diese Erkenntnis erst einmal mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Offen bleibt unter anderem, welche Bedeutung ein solcher Übertragungsweg für das Virus wirklich hat. Während zum Beispiel Viren wie Masern oder Windpocken hauptsächlich durch Aerosole übertragen werden, hängt das bei Influenza stark von den Umständen ab. In welche Kategorie Sars-CoV-2 fällt, ist völlig unklar.

Tatsächlich deckt der Begriff Aerosol ein sehr breites Spektrum ab. So umfasst er bei manchen Fachleuten auch größere Tröpfchen, solange sie in der Luftströmung mitgerissen werden. In Extremfällen können sogar Viren wie HIV als Aerosol übertragen werden – wenn nämlich bei medizinischen Eingriffen mit elektrischen Bohrern oder Knochensägen Blut und Gewebe fein versprüht werden. Für die Verbreitung dieser Viren haben solche Ausnahmen aber keine Bedeutung.

Allerdings machen sie Fachleute vorsichtig, wenn es um definitive Aussagen über Sars-CoV-2 geht. Wenn Studien zu einander widersprechenden Ergebnissen kommen, könnte der Grund dafür sein, dass in manchen Fällen eben der eine, in anderen Fällen ein anderer Übertragungsweg wichtiger sei, schrieb ein Team um Julian Tang von der University of Leicester 2019 in einem Übersichtsartikel. »Doch bei einem Erreger, der sich wirklich hauptsächlich durch die Luft verbreitet, werden hinreichend viele Studien schließlich seine wahre Natur offenbaren.«

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