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Sibirisches Neolithikum: Steinzeit-Fernhandel am Ende der Welt

Aus 1500 Kilometer Entfernung erreichte vor 8000 Jahren wertvoller Obsidian die Jäger und Sammler an der arktischen Küste Sibiriens.
Rentierherde in Russland

Wenn mitten im Juli bei hochsommerlichen Temperaturen von kaum drei Grad Celsius wieder einmal ein eisiger Wind zwischen Eishügeln durch sumpfige Senken über Grasstoppel, Moose und Flechten fegt, dann kann man sich nicht so recht vorstellen, dass hier auf der kleinen Schochow-Insel rund 600 Kilometer nördlich der sibirischen Küste einst auch einmal Menschen lebten. Selbst im Sommer ist die Ostsibirische See normalerweise von Eis bedeckt, nirgends findet man Holz, mit dem man ein wärmendes Feuer schüren könnte, um die Kälte ein wenig zu mildern. Zwischen Dezember und März pendelt die Temperatur normalerweise zwischen minus 25 und minus 32 Grad – und manchmal sinkt sie bis auf minus 48 Grad.

Da war die Witterung vor 8000 Jahren schon angenehmer. Damals waren die Winter auf der Schochow-Insel 1,3 bis 4,3 Grad wärmer: Auch im Juli lag die Temperatur drei oder vier Grad höher, zeigen Sauerstoff-18-Isotopen-Analysen von Eis, das im Untergrund aus jener Zeit überdauert hat. Und es fiel deutlich mehr Niederschlag als die kümmerlichen 478 Liter, die heutzutage in einem Jahr auf jedem Quadratmeter der Insel zusammenkommen. »Natürlich war das immer noch eisig kalt«, meint Wladimir Pitulko von der Russischen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg. Doch es war immerhin so warm, dass auf der Tundra Seggengräser, Zwergsträucher und Zwergbirken wuchsen. »Das allenfalls zwei Finger breite Holz taugte zwar nicht zum Bauen, war aber immerhin ein brauchbares Brennholz«, erklärt der Archäologe weiter. Die vielleicht 25 oder 30 Menschen, die damals in der kleinen Siedlung an der Küste der Ostsibirischen See lebten, dürften also genug Holz zum Kochen und Heizen gehabt haben. Und sie lebten hier, am Ende der Welt, allerdings keineswegs völlig isoliert: So verwendeten sie zum Beispiel einige wertvolle Klingen aus Obsidian. Der wurde jedoch am Krasnoje-See abgebaut, der in Luftlinie rund 1500 Kilometer südöstlich liegt.

Inselwelt im Ostsibirischen Meer | Die Karte zeigt die Neusibirischen Inseln, ein im südlichen Polarmeer vor Jakutien liegendes Archipel. Hier findet sich rund 600 Kilometer von der Küste entfernt auch das kleine Schochow oder Zhukhova-Inselchen. Vor 8000 Jahren lag es bei dem damals deutlich niedrigeren Meeresspiegel selbst gerade noch im Festland.

Wie aber ist dieser wertvolle Stein in die Siedlung gelangt, die damals am Ende der bewohnten Welt lag (und heute ein paar hundert Kilometer dahinter)? Das erfährt Wladimir Pitulko, wenn er die Reste ausgräbt, die von den Menschen dort zurückgelassen wurden. Seit 1989 haben er und seine Kollegen auf der Schochow-Insel eine Fläche von 571 Quadratmetern untersucht. Das ist gerade einmal ein Zehntel der einstigen Siedlung und entspricht in Mitteleuropa ungefähr dem Grundstück eines Einfamilienhauses. Reste von Häusern aber hat Wladimir Pitulko bisher aus einleuchtendem Grund auf der Schochow-Insel keine gefunden: »Der Boden dort ist bis in einige hundert Meter Tiefe gefroren, nur im Sommer tauen die obersten zehn bis 15 Zentimeter zu einer Art Schlammschicht auf«, sagt der Forscher. Feste Häuser lassen sich auf solchem Untergrund kaum bauen. Noch heute leben die Rentiernomaden im hohen Norden Russlands daher in Zelten, die den Tipis der Indianer Nordamerikas verblüffend gleichen. »Ähnlich werden es wohl auch die Steinzeitmenschen auf der Schochow-Insel gehalten haben«, vermutet Pitulko.

Archäologie im hohen Norden

Reste dieser Zelte haben die Forscher bisher zwar nicht entdeckt – dafür aber mehr als 19 000 von Menschenhand bearbeitete Steine, mehr als 54 000 Überreste von Tieren, mehr als 300 aus Geweihen, Mammutelfenbein und Knochen hergestellte Gegenstände und rund 1000 bearbeitete Holzstücke sowie wenige gewebte Textilien. Doch besonders interessant ist das, was die Forscher bislang kaum gefunden haben: kleinere Splitter, die typischerweise beim Anfertigen von Klingen und Schabern aus Stein entstehen. »Vermutlich haben die Steinzeitjäger also halbfertige Steinwerkzeuge in ihr Camp gebracht, die sie dort fertig bearbeitet haben«, erklärt Wladimir Pitulko. »Ganz ähnlich haben es ein paar hundert Jahre später die Steinzeitmenschen in Mitteleuropa gemacht«, bestätigt Alexander Binsteiner. Der heute freiberuflich tätige Geoarchäologe ist Spezialist für die Analyse von Feuersteinen und untersucht seit den 1990er Jahren intensiv den Handel mit solchem Silikatgestein, das in der Steinzeit zu Klingen, Sicheln, Schabern und viele weiteren Werkzeugen verarbeitet wurde.

Mammutjäger?

Solche Feuersteinwerkzeuge waren in der Zeit, bevor Metalle genutzt wurden, aus dem Alltag der Schochow-Insulaner nicht wegzudenken. Hier im hohen Norden war das Angebot an vegetarischer Kost auch damals ziemlich karg, und so lieferte die Jagd einen sehr großen Teil der Nahrung – wie noch vor einigen Jahrzehnten bei den Inuit. Normalerweise konzentrierten sich die Steinzeitmenschen dabei auf Tiere, die sie mit möglichst geringem Risiko erlegen konnten, die möglichst viel Fleisch lieferten und die möglichst in großer Zahl die Tundra durchstreiften.

Schlitten mit Hund | Die Rentiernomaden der Nenzen im Nordwesten Sibiriens nutzen noch heute ganz ähnliche Schlitten wie die Steinzeitmenschen vor 8000 Jahren auf der Schochow-Insel im Nordpolarmeer.

In der Eiszeit erlegten die Jäger daher gern Mammuts. Allerdings: »Diese Rüsseltiere lebten vor 8000 Jahren anscheinend nur noch auf der Wrangel-Insel im Nördlichen Eismeer und auf der Sankt-Paul-Insel im Beringmeer. Auf dem Festland sind sie ungefähr 2000 Jahre früher verschwunden«, erklärt Michael Hofreiter, der an der Universität Potsdam das Erbgut ausgestorbener Arten untersucht. »Auch auf den 180 Kilometer von der Schochow-Insel entfernten Neusibirischen Inseln dürften die Mammuts vor spätestens 9500 Jahren verschwunden gewesen sein«, ergänzt Wladimir Pitulko. Die Menschen auf der Insel haben später, vor rund 8000 Jahren, also Elfenbein von Mammuts genutzt, die einige Jahrtausende früher verendet waren und deren Stoßzähne im Dauerfrostboden erhalten blieben. »Solches Elfenbein finden wir heute noch«, so Wladimir Pitulko.

Rentierjagd und Alltag in der Arktis

Als Jäger konzentrierten sie sich im hohen Norden daher auf die Beute, die noch heute den Lebensunterhalt der letzten Nomaden im äußersten Norden Sibiriens sichert: Rentiere. Die Überreste von 245 Rentieren haben die Forscher um Wladimir Pitulko inzwischen bei ihren Ausgrabungen gefunden. Die Steinzeitjäger erlegten damals vor allem junge Tiere mit zartem Fleisch – und von dieser Delikatesse dürfte der Klan auf der Schochow-Insel rund 15 Tonnen verzehrt haben. Eines fällt allerdings auf: In den Sommermonaten grasten zwar höchstwahrscheinlich viele Rentiere in der Nähe des Camps, auffällig wenige davon wurden dann aber erlegt. Daraus schließen die Forscher, dass in der warmen Jahreszeit wohl nur Frauen mit kleinen Kindern und die älteren Menschen im Camp zurückblieben. Die erwachsenen Männer dürften in dieser Zeit dagegen in der weiteren Umgebung unterwegs gewesen sein. Dort könnten sie Fallen und Notunterkünfte für den kommenden Winter gebaut oder Schäden an denen aus der letzten Saison repariert haben. Gleichzeitig sammelten sie vermutlich auch nützliche Dinge für ihren Alltag, von Mammutstoßzähnen über Rentiergeweihe bis zu Feuersteinen.

Klanchef der Nenzen | Ähnlich wie die heutigen Nomaden schützten sich womöglich auch die Steinzeitmenschen mit Rentierleder vor den Bissen aggressiver Insekten im Sommer.

Sobald im September die Temperatur dauerhaft im Frostbereich blieb, griffen die Jäger häufiger zu den Speeren und jagten damit Rentiere, die damals noch völlig wild lebten. »Domestiziert wurden Rentiere wahrscheinlich erst vor höchstens 2000 Jahren«, sagt Pitulko. Die kalte Witterung des Spätsommers dezimierte auch die Insektenheerschar, die im Sommer über dem aufgetauten Boden summte – und damit hungrige Konkurrenz um das Fleisch der Jagdbeute, das die Männer mit ihren Feuersteinklingen von den Knochen schälten. Aus Rentiersteaks und -keulen wurde dann rasch Tiefkühlkost, die nur noch als Vorrat für den langen Winter zum Camp gebracht werden musste.

Wohl gegen Ende Oktober war der gesamte Klan wieder im Camp zurück. Die Tage waren dann ohnehin bereits extrem kurz, und die Polarnacht stand vor den Zeltöffnungen. Die meisten Rentiere waren nach Süden gewandert, um den Winter unter weniger harschen Bedingungen zu verbringen. Tauchten in der Nähe der Siedlung doch ein paar Rentiere auf, war das eine willkommene Gelegenheit, die Vorräte ein wenig aufzustocken. Im April waren die Tage schon wieder erheblich länger als die Nächte, und mit dem Licht kehrten die großen Rentierherden aus dem Süden zurück. Im Camp liefen jetzt die Vorbereitungen für die Sommermonate auf Hochtouren, in denen die Sonne auch in der Nacht nicht untergeht.

Eisbärenjagd im Winter

Das heißt jedoch nicht, dass die Jäger in der Polarnacht faulenzten. Ganz im Gegenteil stellten sie in dieser Zeit ihrer wichtigsten Beute nach, den größten Landtieren, die nach dem Verschwinden der Mammuts noch dort lebten: Eisbären. Allerdings waren die bis zu 500 Kilogramm schweren Männchen offensichtlich ein zu gefährlicher Gegner, die Steinzeitjäger hielten sich lieber an die Weibchen. Die sind mit höchstens 300 Kilogramm nicht nur deutlich leichter, sondern lassen sich auch mit geringerem Risiko jagen: Im Winter ziehen sie sich in eine Höhle im Schnee zurück, um dort zwischen Dezember und Februar den winzigen und völlig hilflosen Nachwuchs zur Welt zu bringen.

Diese Höhlen graben die Weibchen normalerweise hinter einem kleinen Kamm, über den der Wind den Schnee bläst. Im Windschatten häuft sich daher relativ lockerer Schnee, in dem die Bärin ihre Höhle gräbt und den Schnee von innen nach außen drückt. So entsteht eine stabile Wand, und für die Frischluftzufuhr sorgt ein Luftkanal in der oft rund 30 Zentimeter dicken Decke der Höhle. Vermutlich warfen die Steinzeitjäger Schnee in diesen Luftkanal: Eine so aufgeschreckte, in der Höhle ziemlich wehrlose und zunehmend panische Bärin brach dann häufig mit Kopf und Schultern erst einmal durch die Decke der Schneehöhle. Draußen warteten bereits die Jäger, die ihre Speere aus nächster Nähe gezielt in die Augen oder sogar durch den Schädelknochen stießen. Ähnlich gehen Verhaltensforscher auch heute noch vor – doch sie setzen Betäubungsgeschosse statt Speeren ein. Die mit einem Sender versehenen Eisbären werden anschließend unversehrt wieder frei gelassen.

Zelte sibirischer Nomaden | Auf der Schochow-Insel haben die Archäologen bisher keine Häuserreste entdeckt. Womöglich lebten die Menschen ähnlich wie die heutigen Nenzen in solchen Zelten, die auch den Tipis der Indianer Nordamerikas ähneln.

In der Steinzeit brachte eine so gejagte Bärin dem Klan im Durchschnitt 160 Kilogramm frisches, bald tiefgekühltes Fleisch. Ein Rentier stockte den Fleischvorrat dagegen nur um rund 50 oder 60 Kilogramm auf. Pitulko und seine Kollegen fanden die Überreste von mindestens 130 Eisbären auf der Schochow-Insel: zirka 23 Tonnen Fleisch und damit etwa 50 Prozent mehr, als die Rentierjagd eingebracht hatte. Das Leben des Klans hing also mehr von der Eisbären- als von der Rentierjagd ab.

Vom Festland zur Insel

Auf der Speisekarte der Steinzeitjäger spielte Geflügel dagegen kaum eine Rolle. Zwar fanden die Forscher einige Überreste von Gänsen, Enten und Schwänen, aber abgesehen von den Knochen einer einzigen Möwe keinerlei Seevögel. Dabei brüten heutzutage gerade einmal drei Kilometer von der Steinzeitsiedlung entfernt an der Südspitze der Schochow-Insel in einer sehr großen Kolonie auch etliche Trottellummen. Merkwürdig, findet Pitulko: »Die Eier dieser Vögel standen bei arktischen Steinzeitbewohnern hoch im Kurs und wurden als wertvolle Nahrung aus den Nestern geholt.« Allerdings haben die Forscher bei ihren Ausgrabungen keine einzige Eierschale in den Schichten gefunden, in denen die Überreste aus der Siedlung liegen. Offensichtlich bildete sich die Brutkolonie der Seevögel also erst, nachdem die Steinzeitmenschen ihre Siedlung verlassen hatten, in der sie vor bis vor 7800 Jahren rund zwei Jahrhunderte gelebt hatten.

Immerhin erklärt ein Blick auf das Brutverhalten von Seevögel rasch, weshalb sie damals offensichtlich nicht auf der Insel brüteten: Sie nisten nur dort, wo Eierdiebe wie Menschen, Marder und Füchse nicht hinkommen. Trottellummen etwa ziehen ihren Nachwuchs entweder auf schmalen Felsvorsprüngen in unzugänglichen Klippen oder auf kleinen Inseln fernab von gefräßigen Räubern groß. Steile Klippen aber gab es vor 8000 Jahren dort genauso wenig wie heute. Und vierbeinige Räuber wie Hermeline konnten die Insel damals trockenen Fußes erreichen, weil Schochow vor 8000 Jahren noch gar keine Insel, sondern Teil des Festlands war: In jener Zeit waren die Gletscher der Eiszeit noch nicht auf ihre heutige Masse geschmolzen. Das dort gebundene Wasser fehlte in den Ozeanen, und die Meeresspiegel lagen niedriger als heutzutage. Während heute zwischen der Schochow-Insel und der Küste Nordsibiriens 600 Kilometer seichtes, meist weniger als 20 Meter tiefes Wasser schwappt, das von Oktober bis Anfang Juli von zwei bis drei Meter dickem Eis bedeckt ist, erstreckte sich vor 8000 Jahren dort eine ebene Tundra, auf der im Sommer und Herbst die Rentiere grasten.

Die Steinzeitsiedlung auf der heutigen Schochow-Insel lag damals also an der Küste des Festlands. Zwar bedeckte die meiste Zeit des Jahres Packeis das Wasser, doch das brach zumindest in einigen Sommern Ende Juli auf. Im flachen Wasser konnten die Steinzeitmenschen dann Fische mit Speeren jagen. Viel wichtiger aber war das Treibholz, das die Flüsse Sibiriens wie zum Beispiel die Lena aus den weiten Wäldern im Süden in das Eismeer geschwemmt hatten und das im Sommer von dort an die eisfreie Küste getrieben wurde. »Das war die einzige Quelle von größerem Holz, aus dem die Menschen wichtige Dinge wie ihre Speere herstellten«, erklärt Wladimir Pitulko.

Schlitten – und ihre Zugtiere

Aus Holz fertigten die Menschen auf der Schochow-Insel nicht nur Waffen, sondern auch Gebrauchsgegenstände bis hin zu Schlitten. »Bei unseren Ausgrabungen haben wir die ältesten bisher bekannten Schlittenkufen gefunden«, berichtet Pitulko. Daneben tauchten weitere Teile aus Holz auf, die einst zu einem Schlitten gehört haben dürften. Auf diesem Fahrzeug dürften die Menschen vor 8000 Jahren Feuersteine und anderes bei den Ausgrabungen gefundenes Rohmaterial von der 180 Kilometer entfernten Insel Neusibirien und den benachbarten, ebenfalls sehr großen Inseln Faddejewski und Kotelny geholt haben, die damals genau wie die Schochow-Insel Teil des Festlands waren. »Diese Funde zeigen uns, wie weit die Menschen damals mindestens herumkamen«, so der Archäologe.

Ihre Schlitten zogen die Steinzeitmenschen nicht selbst; diese anstrengende Arbeit überließen sie ihren Hunden, von denen die Forscher bei ihren Ausgrabungen etliche Knochen entdeckt haben. Anscheinend gehörten diese Fossilien zu zwei sehr unterschiedlichen Gruppen von Hunden, von denen eine ungefähr doppelt so schwer war wie die andere. Mit einer genauen Analyse der ausgegrabenen Schädel bestätigten die Forscher diesen Befund: Offensichtlich hatten die Steinzeitmenschen bereits vor 8000 Jahren zwei unterschiedliche Rassen gezüchtet. So hatten sie vermutlich auffallend große Hunde so lange miteinander gepaart, bis sie am Ende sehr kräftige Tiere hatten, die gut 30 Kilogramm wogen. Die Rasse ähnelte dem Alaskan Malamute, der heute als Schlittenhund für das Ziehen besonders schwerer Lasten eingesetzt wird. Damals dürften diese Hunde die Jäger unterstützt haben, wenn sie Rentieren oder Eisbären nachstellten.

Für die zweite Rasse hatten die Steinzeitmenschen viel kleinere Hunde miteinander gepaart und am Ende Tiere gezüchtet, die mit einem Gewicht von 16 bis 25 Kilogramm und einer Schulterhöhe von etwa 55 Zentimetern die gleiche Statur wie ein moderner Sibirian Husky hatten. Und genau diese Rasse wird heute häufig für Rennen eingesetzt, da sie ideal für schnelle Hundeschlittenfahrten ist. Ihr Vorteil liegt auf der Hand: Größere Tiere bringen kaum höhere Geschwindigkeit, fressen jedoch erheblich mehr, während noch kleinere Rassen Schlitten deutlich langsamer ziehen. »Das ist eine tolle Untersuchung«, sagt Angela Perri, die an der Durham University und am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig die Evolutionsgeschichte der Hunde unter die Lupe nimmt.

Rentiere der Nenzen | Erst vor etwa 2000 Jahren wurden Rentiere domestiziert. Vorher machten die Steinzeitmenschen Jagd auf wilde Rentierherden.

Ohnehin gibt es sehr deutliche Hinweise darauf, dass die ersten Menschen und ihre Hunde vor vielleicht 15 000 Jahren aus Sibirien nach Nordamerika kamen. Damals lag der Meeresspiegel noch viel niedriger als vor 8000 Jahren, und die Beringstraße zwischen dem äußersten Osten Sibiriens und Alaska war trockengefallen. Erbgutuntersuchungen von menschlichen Fossilien in Nordamerika zeigen, dass die ersten Amerikaner aus diesem heute wieder untergegangenen Land kamen. »Das Erbgut aus Hundefossilien in Nordamerika legt nahe, dass diese Tiere eng verwandt mit den heutigen Hunden in der Arktis waren und dass die Vorfahren dieser Tiere vor rund 15 000 Jahren in Sibirien lebten«, fasst Angela Perri die jüngsten Untersuchungen zusammen.

Die Steinzeitmenschen hatten also genug Zeit, aus diesen Hunden verschiedene Rassen zu züchten, die Wladimir Pitulko und seine Kollegen dann für die Zeit vor 8000 Jahren auf der heutigen Schochow-Insel nachwiesen. Für die Menschen damals waren ihre Hunde äußerst wertvoll. Das zeigt der Schädel eines offensichtlich uralten Hundes, dessen Zähne völlig abgekaut waren. »Wer so alte Tiere weiterfüttert, hat bestimmt ein sehr gutes Verhältnis zu ihnen«, meint Pitulko.

Wie wichtig die Schlittenhunde waren, erfuhren Pitulko und Jaroslaw Kuzmin vom sibirischen Zweig der Russischen Akademie der Wissenschaften in Nowosibirsk und der Staatlichen Universität in Tomsk, als sie die Obsidianklingen mit Röntgenstrahlenfluoreszenz-Methoden genauer untersuchten. Der jeweilige Anteil von Rubidium und Strontium sowie von Mangan und Yttrium zeigte eindeutig, dass die vulkanischen Obsidiansteine aus dem Gebiet um den Krasnoje-See stammen, der in Luftlinie rund 1500 Kilometer südöstlich der Schochow-Insel liegt. Ernst Pernicka von der Universität Heidelberg ist Spezialist für solche Analysen und hält die Ergebnisse für zuverlässig.

Da man auf dem festen Land Flusstälern folgt und Gebirge auf möglichst einfachen Pässen überquert, die meist nicht gerade auf der direkten Verbindung zwischen zwei Orten liegen, könnten die Steinzeitmenschen also mit Hundeschlitten Obsidian über eine Entfernung von mehr als 2000 Kilometern zur Schochow-Insel gefahren haben. »Die beste Zeit für solche Reisen dürfte der April gewesen sein, wenn der Schnee noch fest war und die Tage bereits deutlich länger als die Nächte waren«, sagt Wladimir Pitulko.

Handelsnetze in Niederbayern und Sibirien

Der Spezialist für Steinzeithandel Alexander Binsteiner hält solche langen Handelsfahrten aus verschiedenen Gründen für wenig wahrscheinlich: »Obsidianklingen machen gerade einmal ein halbes Prozent der gefundenen Steinwerkzeuge aus«, erklärt der Geoarchäologe. »Für diese geringen Mengen aber lohnt sich ein direkter Transport über so große Entfernungen kaum.« Zwar war Obsidian sehr wertvoll und wurde zum Beispiel für feine Lederarbeiten an Kleidungsstücken verwendet. Noch heute bevorzugen Gesichtschirurgen in Nordamerika Obsidianklingen für ihre Operationen, weil die scharfen Kanten sehr glatte Schnitte ermöglichen, die nahezu ohne sichtbare Narben heilen. Aber auch sie holen ihre Klingen nicht direkt von den Kanarischen Inseln, auf denen Obsidian zum Beispiel vorkommt, sondern nutzen Handelsnetze.

Genau diese Art des Handels vermutet auch Alexander Binsteiner: »In Niederbayern handelten Steinzeitmenschen nur wenige hundert Jahre später die besonders wertvollen Feuersteine aus dem Steinzeitbergwerk in Arnhofen kaum weiter als 300 Kilometer.« Ähnliche Handelsverbindungen stellt sich Wladimir Pitulko in Sibirien vor. Vielleicht gab es dort ja ein Netz von Handelsplätzen, die jeweils einige hundert Kilometer auseinanderlagen. Solche Marktknoten sind aus geschichtlicher Zeit bekannt: So liegt in der Nähe der heutigen Küstenstadt Luleå in Schweden ein Gammelstad genanntes Kirchdorf, das von der UNESCO als Welterbe der Menschheit geführt wird. Dort lagen die Bauernhöfe im 14. Jahrhundert weit verstreut und oft mehr als eine Tagesreise voneinander entfernt. Einmal im Jahr verließen die Bauern ihre jeweilige Isolation und trafen sich an Ostern in Gammelstad. Jede Familie hatte dort eine Hütte, in der sie dann ein paar Tage verbrachte. Dort wurde nicht nur das Osterfest gefeiert, sondern auch ein großer Markt abgehalten, auf dem die Tauschgeschäfte für ein ganzes Jahr ausgehandelt wurden. Und der eine oder andere lernte dort sogar seinen Partner für den Rest des Lebens kennen – Gammelstad war also gleichzeitig eine Art Heiratsbörse.

Ähnliches kennt Wladimir Pitulko aus dem Mittelalter des hohen Nordens von Sibiriens – zum Beispiel Malyi Anuy. »Eine Schlittenreise von der Schochow-Insel dorthin hätte allerdings einfach rund zwei Wochen gedauert«, erklärt der Forscher. Das war vermutlich viel zu weit. Wahrscheinlich gab es auf dem Weg zwischen beiden Orten noch ein oder eher zwei weitere Märkte, auf denen sich die Menschen der jeweiligen Region einmal im April trafen, also genau dann, wenn heute das christliche Osterfest gefeiert wird. Und zwar nicht nur zu Zeremonien, sondern auch zum Handeln mit Fellen, Obsidian und anderen Dingen. Im Prinzip könnte es vor 8000 Jahren ein ähnliches Handelsnetz gegeben haben, dessen Knotenpunkte per Fahrt mit Schlittenhunden untereinander verbunden waren. Seither hat sich dort oben übrigens nicht alles geändert: Zwar übernehmen im Transportwesen heute gerne Helikopter den Part der Schlitten – ihre alte Rolle in den beliebten Schlittenhunderennen besteht aber unverändert fort.

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