Steinzeit in Anatolien: In Çatalhöyük waren die Frauen Chef

Was nur sahen die Menschen in den üppigen, geradezu adipösen, nackten Frauenkörpern, die sie vor etwa 8000 Jahren in Figurinen abbildeten? Solche »Matronenbilder« kamen zum Beispiel in der jungsteinzeitlichen Siedlung von Çatalhöyük im Süden der heutigen Türkei zum Vorschein. Archäologen deuten sie meist als Bildnisse einer Mutter- oder Fruchtbarkeitsgöttin. Sie könnten demnach auch Schwangere wiedergeben. Oder sind es vielleicht Darstellungen von Frauen, die in den frühesten Bauernkulturen eine gewisse Macht ausübten? Eine Genstudie, die nun im Fachblatt »Science« erschienen ist, stärkt letztere These – dass Frauen an der Spitze der Haushalte und womöglich der Gemeinschaft von Çatalhöyük standen.
Ein internationales Team um Eren Yüncü und Mehmet Somel von der Middle East Technical University in Ankara hat hunderte menschliche Überreste aus Çatalhöyük genetisch untersucht. Die Toten waren vor mehr als 9000 bis 8000 Jahren, wie damals üblich, unter den Fußböden der Lehmziegelhäuser bestattet worden. Am Ende konnten die Fachleute Erbgutdaten von 131 Individuen gewinnen sowie einen kleinen Teil davon aus früheren Studien zusammentragen. Zudem glichen sie ihre Ergebnisse mit dem archäologischen Fundkontext ab: Welche Beigaben hatten diese Toten erhalten, die sich auf 35 Häuser in Çatalhöyük verteilt fanden?
Wie sich im Ergebnis zeigte, waren die weiblichen Toten häufiger miteinander verwandt als die männlichen. In den Gräbern lagen demnach vor allem Verwandte mütterlicherseits. Ein seltenes Phänomen in vorgeschichtlichen Epochen, für die viel häufiger patrilineare Gesellschaften belegt sind als matrilineare. In Çatalhöyük blieben aber offenbar die Frauen an den Haushalt gebunden, nicht die Männer. Das weibliche Geschlecht wurde außerdem reicher fürs Jenseits beschenkt: In den Gräbern waren die Mädchen im Durchschnitt mit fünfmal mehr Beigaben ausgestattet als die männlichen Kinder. Generell waren aber ungefähr ebenso viele Tote weiblichen wie männlichen Geschlechts.
Im Haus leben und darunter begraben sein
Die Verstorbenen entstammten nicht nur der mütterlichen Linie, sie waren auch eng miteinander verwandt, waren Geschwister, Tanten und Nichten, Cousin und Cousine oder Mutter und Kind. Wie Isotopenanalysen an den Überresten belegten, hatten sich diese Menschen ähnlich ernährt. Sehr wahrscheinlich lebten sie also auch in einem gemeinsamen Haushalt. Dass die Lebenden die Angehörigen der Kern- und Großfamilie unter ihren Fußböden beisetzten, änderte sich allerdings im Lauf der Jahrhunderte.
Waren zu Anfang, ab 7100 v. Chr., zwei Drittel der Toten genetische Abkömmlinge, bettete man ab 6700 v. Chr. immer weniger eng Verwandte in die Erde, vor allem bei Kindern und Jugendlichen. Dennoch ergaben auch hier Isotopenanalysen: All diese Menschen hatten einen ähnlichen Speiseplan. Offensichtlich, so schreiben Yüncü, Somel und ihre Kollegen, hatte sich das Zusammenleben in den Häusern grundlegend geändert. Vielleicht lebten Gemeinschaften von nicht verwandten Müttern mit ihrem Nachwuchs in einem Haushalt zusammen. Bereits zuvor haben Fachleute festgestellt, dass man in Çatalhöyük einst Adoptiv- oder Pflegekinder in die Haushalte aufgenommen hat.
Wer einem Haushalt vorstand, führte aber nicht unbedingt die ganze Gemeinschaft an. Ob die gesamte Siedlung von Çatalhöyük in den Händen weiblicher Führungskräfte lag, gilt nach den Studienautoren um Yüncü und Somel als noch nicht erwiesen. Der Archäologe Benjamin Arbuckle von der University of North Carolina at Chapel Hill fordert hingegen in einem Kommentar zur »Science«-Studie eine klare Interpretation des Befunds. »Wären die Geschlechterverhältnisse … umgekehrt, würde man wahrscheinlich, ohne zu zögern, zu dem Schluss kommen, dass patriarchalische Machtstrukturen im Spiel waren.«
Wer an der Spitze von Çatalhöyük stand und ob diese Position überhaupt vergeben war, ist unklar. Keines der Häuser, die Wand an Wand errichtet wurden, sticht in Größe und Ausstattung hervor. Demnach scheint es in der frühbäuerlichen Siedlung weder Tempel noch Paläste gegeben zu haben – und gemäß den meisten Fachleuten folglich auch keine Anführer oder eine Aristokratie. Ob diese Lehrmeinung weiter Bestand hat, wird sich zeigen. Laut Arbuckle müssten sich die Forscherinnen und Forscher aber zunächst von alten Gewissheiten verabschieden. Denn viele Wissenschaftler hätten Schwierigkeiten damit, »sich eine Welt vorzustellen, die durch eine beträchtliche weibliche Macht gekennzeichnet ist, obwohl es zahlreiche archäologische, historische und ethnografische Beweise dafür gibt, dass matriarchalische Machtbereiche weit verbreitet waren und sind«.
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