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Neutrinos: Stelldichein steriler Geister

Wissenschaftler spekulieren über "sterile" Neutrinos. Sie könnten viele astronomische Rätsel erklären - und das Standardmodell der Teilchenphysik aus den Angeln heben.
Superkamiokande-Neutrinodetektor

Nicht ohne Grund lautet ihr Spitzname "Geisterteilchen": Obwohl jede Sekunde zig Milliarden Neutrinos unseren Körper durchdringen, spüren wir nichts von ihnen. Sie fliegen einfach durch uns hindurch. Dennoch haben Physiker bereits drei unterschiedliche Sorten dieser elektrisch neutralen Winzlinge ausgemacht. Sie sind drei der zwölf Grundbausteine des bewährten Standardmodells der Teilchenphysik und heißen nach ihren geladenen Pendants Elektron-, Myon- sowie Tau-Neutrino.

Das Standardmodell beschreibt mit hoher Präzision die Vorgänge im Mikrokosmos. Doch lässt es hinsichtlich der Neutrinos viele Fragen offen. So wurden erst vor wenigen Monaten am Nachweisgerät OPERA im Gran-Sasso-Laboratorium in Italien Neutrinos erfasst, die bei ihrer 700 Kilometer langen Reise vom CERN bei Genf die für unüberwindbar gehaltene Geschwindigkeitsobergrenze der Lichtgeschwindigkeit durchbrochen haben sollen. Noch ist völlig offen, ob diese Ergebnisse einer kritischen Überprüfung standhalten oder sich am Ende als Messfehler entpuppen.

Doch abgesehen von solchen nicht einmal ansatzweise verstandenen Rätseln sind selbst elementare Eigenschaften der Neutrinos noch immer ein Geheimnis – ihre Größe und Masse etwa. Und nun spekulieren Wissenschaftler sogar, dass es noch mehr Sorten dieser elementaren Sonderlinge gibt.

In einer Art Verzweiflungsakt hatte der deutsche Quantentheoretiker Wolfgang Pauli um das Jahr 1930 herum ihre Existenz postuliert. Er rettete damit den für Physiker nahezu heiligen Energieerhaltungssatz. Denn bei der Verschmelzung von Atomkernen – der Kernfusion – in der Sonne scheint Energie einfach zu verschwinden. Erklären lässt sich diese Einbuße nur durch die Annahme, dass es ein elektrisch neutrales Teilchen gibt, das – wenn überhaupt – nur eine extrem kleine Masse besitzt. Als "kleines Ungeladenes" bezeichnete daher der Physiker Enrico Fermi diese Teilchen; oder auf Italienisch eben "Neutrino".

Schwer zu finden

Fast 30 Jahre hat es gedauert, bis diese Leichtgewichte zum ersten Mal experimentell nachgewiesen werden konnten, wenngleich sie rund eine Milliarde Mal häufiger vorkommen als alle anderen Teilchen im Universum, wie Physiker heute vermuten. Neutrinos wechselwirken aber nur äußerst schwach mit dem Rest der Welt; selbst durch die Erde können sie einfach hindurchsausen, ohne Anstoß zu nehmen. Beikommen lässt sich den Exoten daher nur, wenn man ihnen massige Nachweisgeräte in den Weg stellt und dann so lange wartet, bis etwas geschieht.

Doch schon die ersten Messungen überraschten die Wissenschaftler. Bei Versuchen in den Vereinigten Staaten und in Japan, die Anzahl der Elektron-Neutrinos zu bestimmen, die in der Sonne entstehen und dann auf die Erde niederprasseln, registrierten die Experimentatoren nur rund ein Drittel der Teilchen, die sie erwartet hatten. An ihrem Modell der Vorgänge im Zentralgestirn konnte es nicht liegen – es funktioniert ansonsten vortrefflich.

Aufklärung brachten erst Experimente am kanadischen Sudbury Neutrino Observatory (SNO) im April 2002. Dort erweiterten die Forscher ihr System auf die drei oben genannten Vertreter dieser Teilchenklasse. Jetzt stimmte die Zahl der Neutrinos mit der theoretisch berechneten überein – allerdings nur, wenn man erlaubt, dass sich die Teilchen auf dem Weg von der Sonne zur Erde ineinander umwandeln: Lässt man ihnen genügend Zeit, wird aus einem Elektron-Neutrino also ein Myon-Neutrino und daraus ein Tau-Neutrino und so weiter. Fachleute sprechen in diesem Zusammenhang von Neutrino-Oszillationen. Deren Existenz wurde mittlerweile durch Experimente an Kernreaktoren, die ebenfalls Quellen vieler Neutrinos sind, sowie durch Beschleunigerexperimente untermauert. Dort stellten die Experimentatoren zugleich eine Verschiebung im Energiespektrum der Neutrinos fest, was für Neutrino-Oszillationen charakteristisch sein müsste.

Massive Probleme

War das Standardmodell der Teilchenphysik bislang davon ausgegangen, dass die Geister gar nichts wiegen, zeigten nun die Berechnungen der Theoretiker, dass dieses "Bäumchen-wechsel-dich-Spiel" nur funktioniert, wenn die Neutrinos eine Masse haben – und zwar jede Sorte eine spezifische. Für die Überlichtgeschwindigkeitsmessungen des Gran-Sasso-Laboratoriums stellt dies übrigens eine weitere Komplikation dar. Denn massiven Teilchen ist es eigentlich nicht einmal vergönnt, sich mit Lichtgeschwindigkeit fortzubewegen, geschweige denn schneller.

Aber damit nicht genug des Spuks: Obwohl die Wissenschaftler das absolute Gewicht der Neutrinos zwar noch nicht bestimmen können, gelingt es ihnen immerhin abzuschätzen, dass diese unterschiedliche Massen auf die Waage bringen. Denn die Physiker besitzen eine Näherungsformel, mit der sie den Umwandlungsprozess der Neutrinos beschreiben können: Die Wahrscheinlichkeit, mit dem sich einer dieser Sonderlinge in einen anderen verwandelt, ist demnach im Wesentlichen proportional zum Quadrat der Massenunterschiede.

Bei drei verschiedenen Neutrinosorten sollte es also zwei unabhängige Werte für die Massenunterschiede geben: ein Massenunterschied zwischen dem leichtesten und dem mittelschweren Neutrino sowie ein Massenunterschied zwischen dem mittelschweren und dem schwersten Neutrino. Daraus ergibt sich automatisch die Differenz zwischen dem leichtesten und dem schwersten Vertreter dieser Teilchen.

Aktuelle Messungen der Neutrino-Oszillationen kommen jedoch nicht auf zwei, sondern auf drei unterschiedliche Massendifferenzen: Untersuchungen des Neutrinoflusses von der Sonne sowie von entfernt liegenden Kernreaktoren ergaben einen Wert von 7x10-5 Elektronvolt zum Quadrat (in Elektronvolt messen Physiker die Massen subatomarer Teilchen); die Beobachtung von Neutrino-Umwandlungen in der Atmosphäre sowie mit Teilchenbeschleunigern führten zu einem gut 30-mal größeren Wert von 2x10-3 Elektronvolt zum Quadrat; und zu guter Letzt maßen Wissenschaftler bei Experimenten mit Beschleunigern und an Kernreaktoren, die sich in der Nähe der Nachweisgeräte befanden, einen Wert von gut einem Elektronvolt zum Quadrat.

Die Ergebnisse lassen sich nach Ansicht von Joachim Kopp vom amerikanischen Beschleunigerzentrum Fermilab und seinen Kollegen Michele Maltoni vom Institut für Theoretische Physik in Madrid sowie Thomas Schwetz vom Heidelberger Max-Planck-Institut für Kernphysik nicht mit der Vorstellung vereinbaren, es gäbe nur drei dieser Geisterteilchen.

Noch mehr Teilchen

In der Tat mehren sich die Hinweise darauf, dass es über die drei bekannten "aktiven" Neutrinos hinaus noch weitere "inaktive" oder – wie der Fachmann sagt – "sterile" Neutrinos gibt, die mit ihrer Umgebung ausschließlich über die Schwerkraft wechselwirken und sonst keine Kräfte spüren. Kopp und seine Kollegen nahmen sich nun alle verfügbaren Daten von Neutrino-Experimenten vor und passten sie an theoretische Modelle an. Dabei stellten sie fest, dass es nicht ausreicht, nur ein einziges steriles Neutrino zu postulieren. Die beste Übereinstimmung erhielten sie unter der Annahme, dass es noch ein zweites geben müsse – Nummer fünf in der Zählung.

Das Modell der Wissenschaftler lässt zugleich Unterschiede zwischen den Neutrino-Oszillationen der Teilchen und der ihrer Antimaterie zu. Dabei sollte im Grunde genommen jedes physikalische Gesetz gleich bleiben, wenn man alle Teilchen durch ihre Gegenstücke aus Antimaterie ersetzt und zugleich die Raumkoordinaten spiegelt. In Wirklichkeit kommt es wohl aber in der Welt der subatomaren Teilchen zu minimalen Unregelmäßigkeiten. Diese so genannte CP-Verletzung könnte auch darüber Aufschluss geben, warum der Urknall nicht Materie und Antimaterie zu gleichen Teilen produzierte, sondern einen Überschuss der Materie, aus der unsere Welt nun besteht.

Wenn sich die sterilen Neutrinos zudem als deutlich schwerer herausstellten als ihre aktiven Pendants, ließe sich mit ihnen sogar die so genannte Dunkle Materie erklären. Sie macht über drei Viertel der Masse des Universums aus; doch weiß bislang niemand, woraus sie besteht. Die Existenz steriler Neutrinos wird von einigen Physikern überdies als Hinweis darauf gedeutet, dass es zu unseren drei Raum- und einer Zeitdimension noch weitere Dimensionen geben müsse oder dass sogar die spezielle Relativitätstheorie verletzt sei. Eventuell lassen sich so die Daten am OPERA-Experiment deuten.

Pendants gesucht

Trotzdem gibt es viele Ungereimtheiten. Wegen der Flüchtigkeit der Geisterteilchen weisen die Experimente noch große Unsicherheiten auf. So macht es beispielsweise einen Unterschied, ob die Experimentatoren das Entstehen von Neutrinos einer Sorte messen oder das Verschwinden der ursprünglich vorhandenen. Auch gibt es nur wenig Übereinstimmung zwischen den Ergebnissen, die auf der Erde gewonnen wurden, und den kosmologisch gewonnenen Daten. Zudem reihten sich die drei klassischen Neutrinos perfekt in das Klassifikationssystem des Standardmodells ein, wo zu jeder Quark-Lepton-Generation stets ein Neutrino gehört. Nun müssen die Wissenschaftler ebenfalls erklären, warum es zu den sterilen Neutrinos keine entsprechenden Pendants gibt – zumindest existieren bislang keinerlei experimentelle Hinweise, dass es mehr als die bisher gefundenen Elementarteilchen gibt.

Es bleibt künftigen Experimenten vorbehalten, diese Ungereimtheiten aufzuklären. So soll beispielsweise das Karlsruher Tritium-Neutrino-Experiment Katrin, das nächstes Jahr in Betrieb gehen soll, die Masse des Elektron-Neutrinos erstmals auf 0,2 Elektronvolt genau bestimmen. Neue Erkenntnisse erwarten sich die Forscher überdies vom Hochenergie-Neutrino-Observatorium IceCube am Südpol. Dort messen über 5000 außerordentlich lichtempfindliche, etwa basketballgroße Sensoren, die Wissenschaftler in jahrelanger Arbeit im Eis versenkten, die schwachen Signale kosmischer Neutrinos. Vielleicht schaffen es diese Experimente ja, das Geheimnis um den mysteriösen Charakter der Geisterteilchen zu lüften.

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  • Quellen
Kopp, J. et al.: Are There Sterile Neutrinos at the eV Scale? In: Physical Review Letters 107, 091801, 2011
Dodelson, S. et al.: Is cosmology compatible with sterile neutrinos? In: Physical Review Letters 97, 041301, 2006

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