Singularität: "Es gibt keine Schwarzen Löcher"
Die meisten Physiker würden vermutlich als Spinner abgetan, wenn sie in einer Publikation tollkühn behaupten: "Es gibt keine Schwarze Löcher" – zumindest nicht in der Form, wie wir sie uns für gewöhnlich vorstellen. Stammt so ein Entwurf für eine Neudefinition der Schwerkraftgiganten allerdings von Stephen Hawking, sieht die Sache schon anders aus, und man sollte einen Blick darauf werfen. In einem online veröffentlichten Aufsatz spricht sich der Physiker von der University of Cambridge in Großbritannien und einer der Schöpfer der modernen Theorie für Schwarze Löcher gegen die Vorstellung eines Ereignishorizonts aus. Hinter dieser unsichtbaren Grenze um jedes Schwarze Loch sollte nicht einmal Licht entweichen können.
Hawking schlägt stattdessen einen deutlich harmloseren "scheinbaren Horizont" vor, der Materie und Energie nur vorübergehend gefangen hält, bevor er sie – wenn auch in entstellter Form – schließlich wieder freigibt.
"In der klassischen Theorie gibt es kein Entrinnen aus einem Schwarzen Loch", sagte Hawking gegenüber der Zeitschrift Nature. Gemäß der Quantentheorie jedoch "können Energie und Informationen einem Schwarzen Loch entkommen". Wollte man diesen Vorgang vollständig beschreiben, räumt der Physiker ein, bräuchte man eine Theorie, welche die Gravitationskraft erfolgreich mit den anderen drei Grundkräften vereinigt. Seit fast einem Jahrhundert suchen Physiker nun schon nach einer solchen Theorie, bisher erfolglos. "Der richtige Ansatz", so Hawking, "bleibt ein Geheimnis."
Am 22. Januar veröffentlichte Hawking seine Studie mit dem skurrilen Titel "Informationserhaltung und Wettervorhersage für Schwarze Löcher" auf dem Preprint-Server arXiv – eine Begutachtung durch andere Wissenschaftler steht noch aus. Die Arbeit basiert auf einem Vortrag, den der Physiker im August 2013 via Skype auf einer Konferenz am Kavli Institute for Theoretical Physics in Santa Barbara gehalten hatte.
Feuerbekämpfung
In seinem neuen Werk versucht Hawking das so genannte Feuerwand-Paradoxon zu lösen, mit dem sich Physiker seit fast zwei Jahren herumärgern. Entdeckt hatten es der theoretische Physiker Joseph Polchinski vom Kavli Institute und seine Kollegen. In einem Gedankenexperiment waren die Forscher der Frage nachgegangen, was mit einem Astronauten passierte, wenn dieser in ein Schwarzes Loch stürzt.
Ereignishorizonte lassen sich aus der allgemeinen Relativitätstheorie ableiten, was erstmals dem deutschen Astronom Karl Schwarzschild gelang. Ende 1915 berichtete er Einstein darüber in einem Brief – weniger als einen Monat nachdem dieser seine Theorie veröffentlicht hatte. In diesem Verständnis nahmen Physiker lange Zeit an, ein Astronaut würde den Ereignishorizont unbemerkt passieren, ohne etwas von seinem bevorstehenden Unglück zu ahnen. Dann zöge es ihn immer weiter ins Innere hinein – wobei er wie eine Spagetti in die Länge gestreckt würde – und schließlich an der "Singularität" zerschmetterte, dem theoretisch unendlich dichten Kern eines Schwarzen Lochs.
Als Polchinski und sein Team diese Szene allerdings noch einmal ganz genau analysierten, kamen sie zu einer überraschenden Erkenntnis: Im Rahmen der Quantentheorie, die Teilchen im mikroskopischen und subatomaren Größenbereich beschreibt, stellt sich die Situation völlig anders dar. Den Gesetzen der Quantenmechanik zufolge müsste sich der Ereignishorizont in ein äußerst energiereiches Gebiet – eine 'Feuerwand' – verwandeln, in dem der Astronaut förmlich geröstet würde.
Das Ergebnis beunruhigte. Denn auch wenn die Feuerwand den Quantenregeln gehorchte, widersprach sie doch der allgemeinen Relativitätstheorie: Laut dieser Theorie sollten die Gesetze der Physik für einen Menschen im freien Fall überall im Universum die gleichen sein – egal ob er in ein Schwarzes Loch fällt oder im leeren intergalaktischen Raum umherschwebt. Aus diesem Grund müsste es sich beim Ereignishorizont eigentlich um einen recht unscheinbaren Ort handeln.
Jenseits des Horizonts
Hawking schlägt nun eine dritte und verlockend einfache Variante vor: Quantenmechanik und allgemeine Relativitätstheorie blieben beide unangetastet, wenn Schwarze Löcher schlicht keinen Ereignishorizont besitzen würden, der Feuer fängt. Diese These basiert auf der Annahme, dass Quanteneffekte um das Schwarze Loch zu heftigen Fluktuationen in der Raumzeit führen und infolgedessen keine scharfe Grenzfläche existieren kann.
An die Stelle eines Ereignishorizonts tritt bei Hawking ein "scheinbarer Horizont". Entlang dessen Fläche werden Lichtstrahlen, die dem Kern des Schwarzen Lochs entrinnen wollen, gewissermaßen angehalten. In der allgemeinen Relativitätstheorie fallen diese beiden Horizonte für ein statisches Schwarzes Loch zusammen. Denn versucht Licht aus dem Inneren eines Schwarzen Lochs zu entkommen, kann es nur bis zum Ereignishorizont vordringen und kommt dann nicht mehr voran – so als würde es gegen ein Laufband ankämpfen. Grundsätzlich lassen sich die beiden Horizonte aber unterscheiden. Verschluckt das Schwarze Loch weitere Materie, schwillt sein Ereignishorizont an und wächst über den scheinbaren Horizont hinaus.
Auf der anderen Seite zeigte Hawking in den 1970er Jahren, dass Schwarze Löcher auch langsam schrumpfen können, indem sie "Hawking-Strahlung" aussenden. In diesem Fall sollte der Ereignishorizont theoretisch kleiner werden als der scheinbare Horizont. Die eigentliche Grenze stellt aber der scheinbare Horizont dar, so Hawkings neue Idee. "Der Wegfall von Ereignishorizonten bedeutet, dass es keine Schwarzen Löcher gibt – im Sinn von Systemen, aus denen Licht nicht ins Unendliche entkommen kann", schreibt Hawking.
"Das von Hawking gezeichnete Bild hört sich plausibel an", sagt Don Page von der University of Alberta in Edmonton, Kanada. Der Physiker und Experte für Schwarze Löcher arbeitete in den 1970er Jahren mit Hawking zusammen. "Für manche mag die Annahme, dass es keinen Ereignishorizont gibt, vielleicht radikal klingen. Doch wir haben es hier mit extremen Quantenbedingungen zu tun – und man weiß noch nicht einmal genau, was Raumzeit überhaupt ist, geschweige denn, ob eine klar abgegrenzte Region existiert, die man als Ereignishorizont ansehen könnte."
Page stimmt zwar zu, dass es ein Schwarzes Loch ohne Ereignishorizont geben könnte. Doch bezweifelt er, ob das allein ausreicht, um das Feuerwand-Paradoxon zu überwinden. Selbst die Präsenz eines flüchtigen scheinbaren Horizonts, gibt er zu bedenken, könnte zu denselben Probleme führen wie ein Ereignishorizont.
Anders als der Ereignishorizont kann der scheinbare Horizont eines Tages verschwinden. Hawking ermöglicht damit ein Szenario, in dem "prinzipiell alles aus einem Schwarzen Loch entkommen kann", betont Page. In seiner Publikation geht Hawking allerdings nicht genauer darauf ein, wie sich ein scheinbarer Horizont verflüchtigen würde. Ist er auf eine gewisse Größe zusammengeschrumpft, spekuliert Page, vereinigen sich Quanten- und Gravitationseffekte und es scheint durchaus plausibel, dass sich der scheinbare Horizont dann auflösen könnte. In diesem Augenblick würde alles, was einst im Schwarzen Loch gefangen war, freigegeben (wenn auch in keinem guten Zustand).
Liegt Hawking richtig, gibt es möglicherweise noch nicht einmal eine Singularität im Kern des Schwarzen Lochs. Stattdessen würde Materie nur vorübergehend hinter dem scheinbaren Horizont festgehalten, sich dort auf Grund der Anziehungskraft des Schwarzen Lochs zwar allmählich nach innen bewegen, aber nie im Zentrum zerschmettert werden. Informationen über diese Materie würden somit nicht zerstört, wären aber dennoch ziemlich entstellt. Würden sie irgendwann durch Hawking-Strahlung wieder freigesetzt, lägen sie also in einer sehr zerhackten Form vor – und herauszufinden, worum es sich bei den verschluckten Objekten einst handelte, wäre so gut wie unmöglich.
"Es wäre einfacher, ein verbranntes Buch anhand seiner Asche zu rekonstruieren", erläutert Page. In seinem Paper vergleicht Hawking die Situation mit dem Versuch, das Wetter frühzeitig vorherzusagen: Theoretisch ist es möglich, doch in der Praxis ist es viel zu schwierig, als dass es mit hoher Genauigkeit gelingt.
Polchinski zweifelt daran, dass tatsächlich Schwarze Löcher ohne Ereignishorizont im Weltall existieren könnten. Denn die heftigen Fluktuationen, die den Horizont laut Hawking vernichten, würden zu selten im Universum auftreten. "In Einsteins Gravitationstheorie unterscheidet sich der Horizont eines Schwarzen Lochs nicht so sehr von jedem anderen Teil des Weltraums", so Polchinski. "In unserer eigenen Nachbarschaft lassen sich aber keine Raumzeitfluktuationen beobachten: Sie ereignen sich einfach zu selten auf großen Skalen."
Für Raphael Bousso von der University of California in Berkeley zeigt der neue Ansatz, wie "abscheulich" Physiker die mögliche Existenz von Feuerwänden finden. Der theoretische Physiker und ehemalige Student von Hawking gibt sich allerdings zurückhaltend, was die neue Lösung betrifft. "Dass es keine Punkte gibt, von denen man einem Schwarzes Loch nicht mehr entkommen kann – diese Idee ist in mancher Hinsicht noch radikaler und problematischer als die Existenz von Feuerwänden", meint Bousso. "Doch die Tatsache, dass wir auch 40 Jahre nach Hawkings erster Publikation über Schwarze Löcher und Informationen immer noch solche Fragen diskutieren, demonstriert ihre enorme Bedeutung."
Der Artikel ist unter "Stephen Hawking: 'There are no black holes'" auf Nature News erschienen.
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