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Ornithologie: Stets auf Kurs

Fernsehtürme, Falken, Gewitterfronten: Für Zugvögel ist der Weg von Nord nach Süd und wieder zurück mit vielen Gefahren verbunden. Trotz der widrigen Umstände finden sie immer wieder ungerührt in ihr jeweiliges Revier zurück - selbst wenn sie Umwege von tausenden Kilometern fliegen müssen.
Wo geht die Reise hin?
Eine Nachtigall oder ein Trauerschnäpper, die von ihrem sommerlichen Brutplatz in Mecklenburg-Vorpommern ins warme Winterquartier in Afrika gelangen wollen, müssen auf ihrem Weg viele gefährliche Hürden überwinden. Entlang ihrer traditionellen Zugrouten ragen plötzlich hochhaushohe Hindernisse in die Flugbahn, weshalb alljährlich zig Vögel mit Fernseh- oder Bürotürmen kollidieren und ihr Leben aushauchen. Gelangen sie nach Frankreich oder Katalonien stellen ihnen Jäger mit Flinte, Schlagfallen und Leimruten nach, gleichzeitig lauern ihnen Abendsegler und Eleonorenfalken auf, die sich von den kleinen Reisenden ernähren.

Dachsammer im Profil | Dachsammern aus dem Norden Kanadas ziehen alljährlich im Herbst von ihren Brutgebieten über die Westküste der USA nach Mexiko, um dort den Winter zu überstehen.
Gelingt den Fernziehern der Sprung über das Mittelmeer, steht nach einer kurzen Rast die Transsahara-Querung an, in der nur wenige Oasen Wasser und Nahrung versprechen. Stets ist die Gefahr gegeben, durch frühe Herbst- oder Staubstürme vom Kurs abgetrieben zu werden und irgendwo im Wasser, Sand- oder Steinmeer zu verenden. Und doch überstehen Milliarden Zugvögeln alljährlich die gefährliche Reise zwischen den Kontinenten, weil ihre vielfältig ausgeprägten Sinnesorgane ihnen die richtige Richtung weisen.

Vielfältige Navigationssinne

Verläuft die Reise störungsfrei, navigieren die Tiere mit ihrem Magnetsinn, orientieren sich an den Gestirnen beziehungsweise dem Polarisationswinkel des einfallenden Sonnenlichts und – im Zielgebiet – an erlernten typischen Kennzeichen der Landschaft, sodass sie exakt wieder am Horst oder Nistkasten des Vorjahrens auftauchen. Selbst die Jungvögel vieler Arten gelangen auf ihrer ersten Reise ohne fremde Hilfe bis ins Überwinterungsbiotop: durch ihr angeborenes Zugprogramm. Wie verhalten sich Jung und Alt aber, wenn sie von einem starken Sturm über ein riesiges Gebiet getrieben wurden und sich am nächsten Morgen hunderte oder tausende Kilometer von ihrer eigentlichen Route entfernt neu orientieren müssen?

So selten tritt dies gar nicht auf, wie alljährlich Sichtungen von asiatischen Tien-Shan-Laubsängern auf Helgoland oder amerikanischen Kentucky-Waldsängern auf den englischen Scilly-Inseln belegen: Sie wurden zumeist von Tiefdrucksystemen in die falsche Richtung geblasen und landen an ihnen völlig fremden Orten. Wie es dann mit ihnen weitergeht, vermag die Wissenschaft noch nicht zu sagen. Viele der Vertriebenen sterben erschöpft oder werden leichte Beute ihnen fremder Fressfeinde. Frühere Experimente mit Staren haben jedoch schon gezeigt, dass mit dem Flugzeug von den Niederlanden in die Schweiz verfrachtete Individuen nahezu unbeirrt ihren Weg ins bevorzugte Winterquartier fortsetzen, ohne sich groß vom Ortswechsel beeindrucken zu lassen.

Sturnus vulgaris ist allerdings im Gegensatz zum Kentucky-Waldlaubsänger oder der Nachtigall ein ausgesprochener wie geselliger Kurzstreckenzieher – Neulinge können sich also an den Altvorderen orientieren – und die räumliche Entfernung von der Nordseeküste zu den Alpen nicht zu vergleichen mit einer Atlantikpassage. Verhaltensforscher und Ornithologen um Kasper Thorup von den Universitäten in Princeton und Kopenhagen wollten deshalb wissen, was passiert, wenn man fernreisende Zugvögel über einen gesamten Kontinent hinweg zwangsverfrachtet – Dachsammern (Zonotrichia leucophrys gambelii) zum Beispiel, die in den Nadelwäldern des nördlichen Kanadas brüten, individuell durch den Westen der USA wandern und in Mexiko der Winterkälte ausweichen.

Dachsammer mit Sender | Um herauszufinden wie Dachsammern fern der ihnen bekannten Zugrouten reagieren, bestückten die Forscher die Singvögel mit kleinen Sendern. Die gewonnen Daten belegen, dass die Tiere selbst bei großräumiger Verfrachtung wieder selbstständig an ihr ursprüngliches Ziel gelangen könnten.
Thorup und seine Kollegen packten jeweils 15 adulte und jugendliche Dachsammern in ein Flugzeug und reisten mit ihnen von Sunnyside im US-Bundesstaat Wahsington zum heimatlichen Campus in Princeton – über 3700 Kilometer fern des vertrauten Zugkorridors. An der Ostküste gelandet, schnallten die Forscher den Tieren winzig kleine Radiosender auf den Rücken, um per Fernüberwachung aus einer kleinen Propellermaschine das Schicksal der Vögel verfolgen zu können.

Altersweisheit hilft

Die Dachsammern zeigten sich von der völlig neuen Umgebung zuerst einmal unbeeindruckt: Innerhalb weniger Stunden nach dem Freilassen setzten sie ihren Zug ins Winterquartier fort – allerdings mit beträchtlichen Unterschieden der beiden Altersklassen. Denn die erfahrenen Erwachsenen, die sich mindestens einmal schon erfolgreich nach Mexiko und retour durchgeschlagen hatten, steuerten bald wieder überwiegend nach Südwesten, wo das richtige Ziel liegt. Oder sie visierten den Westen an, wo sie gefangengenommen worden waren, um von dort aus ihrer üblichen Route weiter zu folgen. Selbst als starke nordwestliche Winde eine der älteren Dachsammern weiter nach Südosten bliesen, ließ sich diese nicht beirren und wechselte gleich nach West, als die Böen abebbten.

Ganz anders verhielten sich die Jungtiere, die stur weiter nach Süden navigierten – eigentlich die richtige Richtung, doch nun führte sie geradewegs in den Atlantik und die Karibik. Ihnen fehlt schlicht das Wissen aus Vorjahren und damit die erlernte geistige Karte für den Zug, vermuten die Forscher. Stattdessen müssen sie sich allein auf ihren inneren, noch nicht geeichten Kompass verlassen, der ihnen nur die Grobrichtung vorgibt, während ihre Elterngeneration eine umfassende Navigationsfähigkeit besitzt. Die erfahrenen Alttiere realisieren folglich, ob sie sich östlich oder westlich ihrer angestammten Zugbahn bewegen und korrigieren Abweichungen so lange, bis sich der tatsächliche Wanderkorridor wieder mit dem im Gehirn gespeicherten deckt.

Wahrscheinlich, so Thorup, leitet ihr Magnetsinn diese Dachsammern zurück auf den Weg. Doch sind die Unterschiede im Magnetfeld zwischen der Ost- und der Westküste zu schwach, um als alleinige Leitlinie in Frage zu kommen. Zu Rate ziehen die Vögel folglich wohl auch den Stand der Sterne, den Schnittpunkt des bei Auf- und Untergang auftretenden polarisierten Lichts der Sonne mit dem Horizont und vielleicht sogar Duftnoten der Landschaft. Ob die Versuchstiere damit tatsächlich ihr angestammtes Überwinterungsgebiet erreicht haben und welches Schicksal den naiven Jungvögeln beschieden war, können die Forscher allerdings nicht sagen: Weder die Energie der Sender noch die Reichweite der Flugzeuge waren in diesem Experiment für Fernflüge ausgelegt.

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