Direkt zum Inhalt

Schweigen: Was die Stille in uns auslöst

Schon eine kurze Gesprächspause kann unangenehm sein. Aber wie fühlt es sich an, tagelang kein Wort sagen? Die Geschichte einer Reise ins Innere.
Eine Frau meditiert auf einem Gipfel mit Blick über die Berge
Wenn der Lärm der Welt verstummt, werden die inneren Stimmen lauter. (Symbolbild)

Für Elisabeth Inhester war Stille stets etwas, was sie lieber vermeiden wollte. Doch in den kommenden zehn Tagen will die 25-Jährige lernen, damit umzugehen. Sie hat sich zu einem Vipassana-Kurs angemeldet. Jeden Tag wird sie zehn Stunden nach indischer Tradition meditieren. Und das bedeutet auch: Sie muss rund um die Uhr schweigen, zehn Tage lang.

Um vier Uhr morgens wird sie aufstehen, mit der Gruppe essen und trinken. Doch sie wird kein Wort, keine Geste und keinen Blick an die anderen richten. Die 60 Kursteilnehmenden sollen für sich bleiben, um den Blick nach innen zu wenden, um die Dinge so sehen zu können, »wie sie wirklich sind«. Um den Geist mit Liebe und Mitgefühl zu füllen.

So steht es zumindest auf der Webseite zur Vipassana-Meditation. Und so erzählt es Elisabeth in einer Videokonferenz, mittlerweile 30 Jahre alt, kurze braune Haare und orangefarbener Pulli. Als sie vor rund fünf Jahren zum Kurs aufbrach, absolvierte sie gerade in München eine Ausbildung zur OP-Schwester, arbeitete ständig unter höchstem Zeitdruck, war genervt von Arbeitsbedingungen wie unbesetzten Stellen und der Klinikhierarchie.

Die verschiedenen Arten des Schweigens

Der Wunsch, einmal zehn Tage lang zu schweigen, entspringt laut der Sprachwissenschaftlerin Sina Lautenschläger vor allem unserer »Redekultur«: Nur wenn zu viel von etwas da sei, könne man darauf verzichten. Die Germanistin von der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg untersucht seit Jahren, was Schweigen eigentlich bedeutet. Ein schwieriges Feld. »Materiell gesehen ist Schweigen weder Schrift noch Schall«, erklärt sie. »Aber wir alle wissen, dass Schweigen etwas mit uns macht.«

Lautenschläger unterscheidet verschiedene Formen des Schweigens. Schmollendes Schweigen etwa sei ein Mittel, um Macht zu erlangen. Darin stecke die Botschaft: Du hast mir Unrecht getan, sieh zu, dass du das wieder in Ordnung bringst. Schweigen könne aber auch ein Zeichen der Ohnmacht oder Unterdrückung sein. »Um Dinge in unserer Gesellschaft zu verändern, muss man gehört werden«, sagt Lautenschläger. »Und wenn einem das verweigert wird, etwa durch patriarchale Strukturen, wird man zum Schweigen gebracht.«

Man kann auch »implizit« schweigen, etwa mit einer ausweichenden Äußerung. Ein Beispiel wäre, wenn ein Kind seinem Vater ein selbst gemaltes Bild zeigt und dieser plötzlich von etwas anderem spricht, sozusagen »sprechend« schweigt. Ganz anders das Schweigen auf einer Beerdigung oder in einer Bibliothek: Hier handelt es sich um angemessenes Verhalten. Zu diesem »konventionellen Schweigen« zählt auch das Schweigen bei der Meditation.

Stille kehrt ein

Der erste Abend. Die Hinfahrt ist der Moment, in dem Elisabeth aus ihren Strukturen ausbricht. Als sie sich auf den verschneiten Straßen des Vogtlandes ihrem Ziel nähert, sieht sie schon von Weitem die Lichter des alten Hauses. Dann taucht eine steinerne Mauer auf, ein Häuschen und ein Hof mit einem riesigen Kastanienbaum.

Elisabeth Inhester | Die heute 30-Jährige nahm an einem Meditationskurs teil, bei dem sie zehn Tage lang nicht sprechen durfte. »Ich schaffe das nie«, dachte sie in den ersten Tagen.

Elisabeth wird auf ihr Zimmer geführt. Zusammen mit vier anderen jungen Frauen wird sie hier die nächsten Tage schlafen. Der muffige Geruch und die kahlen Wände stören sie nicht. Alle fangen sofort an zu reden: Hast du schon Meditationserfahrungen? Warum bist du hier? Was machst du sonst im Leben?

Die Frauen werden zur Meditationshalle gerufen, treffen auf die anderen Teilnehmenden. Beim Warten vor der Halle werden die 60 Menschen immer stiller. In der Halle verstummen sie schließlich ganz. Jetzt dürfen sie nicht einmal mehr nonverbal kommunizieren. Falls sie ein Pflaster brauchen, Fragen zur Unterkunft oder ein Problem mit einer Übung haben, dürfen sie sich zu zwei festgelegten Zeiten pro Tag an einen Kursleiter wenden. Die Anleitungen zu den Übungen hören sie größtenteils aus Lautsprechern.

»In Redekulturen gilt man als unhöflich, wenn man ins Wort fällt. In Schweigekulturen sollte man nicht ins Schweigen fallen – also nicht zu früh wieder anfangen zu sprechen«Sina Lautenschläger, Sprachwissenschaftlerin an der Universität Magdeburg

Laut der Sprachwissenschaftlerin Lautenschläger werde Schweigen in »Redekulturen« wie Deutschland, Frankreich oder den USA recht wenig toleriert. Vor allem, wenn es länger als anderthalb Sekunden dauert: Dann stellen viele Menschen eine Frage noch einmal oder überlegen, ob das Gegenüber sie auch wirklich verstanden hat. Eine Studie des Dartmouth College zeigte 2021, dass sich zwei Menschen umso verbundener fühlen, je schneller sie aufeinander antworten.

In Schweigekulturen wie Finnland, China oder Japan werden längere Pausen geduldet. »In Redekulturen gilt man als unhöflich, wenn man ins Wort fällt«, sagt Lautenschläger. »In Schweigekulturen sollte man sozusagen nicht ins Schweigen fallen – also nicht zu früh wieder anfangen zu sprechen.«

Auf der inneren Achterbahn

Tag zwei bis vier. Am Anfang merkt Elisabeth noch, wie andere sprechen wollen, wie sie »danke« oder »bitte« mit einer Geste andeuten. Schaut sie selbst versehentlich jemanden an, blickt sie schnell wieder in eine andere Richtung. Trotzdem fühlt sich das Schweigen für sie von Anfang an recht natürlich an. Wenn alle schweigen, wird eher das Sprechen schwierig.

Im Meditationsraum herrscht vollkommene Ruhe. Elisabeth betritt ihn jeden Morgen, setzt sich auf eines der dünnen Kissen, wickelt sich in eine Decke und schließt die Augen. In den ersten Tagen soll sie auf ihren Atem achten. Wie er die Nase verlässt, sie ihn wieder einzieht und er in die Lungen strömt. Doch im Inneren ist es wie eine Achterbahn – sie schwankt zwischen Euphorie und tiefer Bedrückung. Ihr fällt auf, wie schnell sich die Gefühle über den Tag wandeln. »Ich schaffe das nie«, ist ein Gedanke, der ihr häufig in den Sinn kommt.

Wie kommen wir mit Schweigen klar? Damit beschäftigt sich die Psychologin Britta Hölzel. Die in den USA ausgebildete Achtsamkeitstrainerin untersuchte an der Harvard University, wie sich Achtsamkeitsmeditation auf das Gehirn auswirkt. Heute ist sie selbstständig, beteiligt sich aber an Forschungsprojekten der TU München.

Laut Hölzel sind wir viel mit dem eigenen Handeln und den Reaktionen darauf beschäftigt, gleichen unsere Erwartungen und Wünsche immer mit dem Außen ab. Wenn die äußeren Gespräche wegfallen, dann träten die »inneren Dialoge« deutlicher hervor. Deswegen gehe es bei Achtsamkeitsübungen darum, »Wege zu finden, wie man mit diesem inneren Geplapper umgehen kann«, sagt die Psychologin. Dabei könne man etwa lernen, seine Gedanken ziehen zu lassen. Schon nach ungefähr zwei Wochen ließen sich so zum Beispiel bei Menschen mit Depressionen Effekte erzielen.

Meditation im Park | Achtsamkeitsübungen sollen helfen, sich bewusst auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. (Symbolbild)
Stichwort: Achtsamkeit

Unter Achtsamkeit versteht man das bewusste Erleben im Hier und Jetzt. Das Ziel der meditativen Übungen ist, die eigenen Gedanken und Gefühle so wahrzunehmen und zu akzeptieren, wie sie sind – ohne sie zu bewerten oder zu steuern. Zahlreiche Studien, darunter auch von Britta Hölzel, haben nachgewiesen, dass Achtsamkeitsübungen körperliche und psychische Leiden wie Schmerzen, Ängste und Depressionen lindern. Es gibt aber auch kritischere Stimmen. Demnach könnten die Übungen mit der Zeit nicht nur negative, sondern auch positive Emotionen abschwächen.

Das Schweigen wird Alltag

Tag fünf bis neun. Am Abend treffen sich alle wieder in der Meditationshalle und setzen sich auf Kissen, die in Reihen auf dem Boden liegen. Mittlerweile soll Elisabeth statt auf ihren Atem auf die Empfindungen ihres Körpers achten. Sie merkt, wie sie konzentrierter geworden ist, wie sie sich an die Sitzposition gewöhnt hat, wie das Schweigen Alltag geworden ist. Die Ruhe hilft ihr, über ihre Probleme nachzudenken.

Aber manchmal hat Elisabeth das Gefühl, dass die Zeit schleicht. Vor allem in Meditationen mit unangenehmen Gedanken scheint sie stillzustehen. Sie wird sich dessen bewusst, denkt darüber nach, kämpft mit der inneren Ungeduld: »Ich muss aus dieser Erfahrung unbedingt etwas mitnehmen.« Noch vier Tage. Die Zeit vergeht nicht. Noch drei Tage.

»Für Anfänger zieht sich die Zeit eher in die Länge – für die Erfahreneren vergeht sie schneller«Psychologe Marc Wittmann, Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene in Freiburg

Wie wir Zeit empfinden, ist das Forschungsgebiet von Marc Wittmann vom Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene in Freiburg. Der Psychologe und Philosoph analysierte dazu verschiedene Arten von Schweigen anhand von drei Situationen: beim Warten, beim Hören von Entspannungsmusik oder wenn die Gedanken schweifen. Meist hatte es positive Effekte, führte beispielsweise zu einem stärkeren Erleben im Hier und Jetzt.

Wittmann zufolge verändert stilles Meditieren außerdem unser Zeitempfinden. Das beobachteten er und seine Kollegen in mehreren Studien mit erfahrenen und unerfahrenen Meditierenden. Für die Anfänger zog sich die Zeit eher in die Länge – für die Erfahreneren verging sie jedoch schneller, berichtet er.

Beim Zeitempfinden spielt laut Wittmann auch das Miteinander eine große Rolle. Im Beisein von anderen läuft die Zeit schneller; wir fühlen uns eher wohl, sind abgelenkt. Bei der Stille käme es darauf an: In schönen Momenten scheint sie zu rasen. In unangenehmen Situationen, etwa beim Warten, vergeht sie langsamer. Ungeduldigen Menschen empfiehlt er vor allem eines: üben, mit der Ungeduld zu leben. Zum Beispiel, sich im Supermarkt bewusst an die längste Schlange zu stellen.

»Wie viel Überflüssiges man eigentlich sagt. Wie wenig von den eigenen Worten eigentlich Relevanz hat«Elisabeth Inhester, Schweige-Erfahrene

Der Morgen des neunten Tags: Elisabeth weiß, dass es bald vorbei sein wird. Sie fängt an zu weinen, setzt sich auf eine Bank vor der Meditationshalle in die Sonne. »Ich kann das nicht«, denkt sie, »ich kann noch nicht abfahren.« Sie hat das Gefühl, noch nicht so weit zu sein. Sie möchte weiter schweigen, weiter meditieren, inneren Frieden finden.

Im Lauf des Tages verschwinden Elisabeths negative Gedanken. Sie akzeptiert die Gefühle, kann loslassen. Am Abend, als alle wieder sprechen dürfen, geht es ihr besser. Sie erinnert sich, dass sie in den ersten Momenten sehr viel lachte. »Es war total flashig, die eigene Stimme zu hören«, erzählt sie.

Am zehnten Tag geht es nach Hause. Fünf Jahre ist das her, erinnert sich Elisabeth Inhester im Videogespräch. Was sie mitgenommen habe? »Wie viel Überflüssiges man eigentlich sagt. Wie wenig von den eigenen Worten eigentlich Relevanz hat.«

In den vergangenen Jahren hat sie an weiteren Kursen teilgenommen, hat immer mehr zu innerer Ruhe gefunden. Mittlerweile arbeitet sie als Projektmanagerin für ein Software-Start-up. Gerade sei sie wieder sehr gestresst – »Zeit, mal wieder einen Vipassana-Kurs zu machen«. Für sie ist Schweigen zu einer Sehnsucht geworden.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.