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Meeresbiologie: Stille Wasser sind tief

Sie sind fünfmal kürzer als ein Menschenhaar dick ist, nahezu unfähig, sich aus eigener Kraft zu bewegen und gehören doch als Nahrungsgrundlage zu den wichtigsten Bewohnern der Ozeane. Bisher galten Kieselalgen dabei als wehrlose Opfer, die sich von anderen fressen lassen müssen – neue Erkenntnisse revidieren das Bild gewaltig.
Kieselalge
Auf den ersten Blick erinnern sie an kuriose Käseschachteln, jene winzigen Kieselalgen oder Diatomeen. Fast ohne jede Eigenbewegung treiben sie mit der Strömung dahin – ein wenig aufregendes Leben, wären da nicht die hartnäckigen Ruderfußkrebse, die den pflanzlichen Kleinstlebewesen zu Leibe rücken.

Kieselalgen | Mikroalgen-Ensemble: Die vier Fotos im Vordergrund zeigen Phytoplankton, vor allem Kieselalgen, unter dem Lichtmikroskop; die drei Detailaufnahmen von Diatomeen entstanden unter dem Rasterelektronenmikroskop.
Besonders reich ist der Tisch für die Krebse im Frühjahr gedeckt: Während der Kieselalgen-Blüte arbeiten die Pflanzen auf Hochtouren. Nährstoffe, die sich während der Wintermonate in tieferen Wasserschichten angesammelt haben, quellen in den Auftriebszonen an die Oberfläche und verhelfen den Diatomeen zu einer alljährlich wiederkehrenden Bevölkerungsexplosion. Sind die Nährstoffvorräte erschöpft, schalten auch die Algen ihren Stoffwechsel auf Sparflamme und sinken in tiefere Wasserschichten ab – zumindest diejenigen, die das Fressgelage der Ruderfußkrebse überlebt haben, und das ist ein großer Teil. Warum eigentlich, wenn sie ihren Feinden außer einem harten Silikatskelett und vielleicht noch ein paar stacheligen Auswüchsen wenig entgegenzusetzen haben?

Adrianna Ianora vom Zoologischen Institut in Neapel und ihre Kollegen gaben sich nicht zufrieden mit der Erklärung, die Krebse seien schlicht zu langsam und ermöglichten so einem großen Teil der Diatomeen, ungeschoren in tiefere Wasserschichten abzusinken. Schließlich gibt es genug Beispiele von Pflanzen, die sich ihren Feinden aktiv widersetzen, indem sie giftige Stoffe abgeben. Um zu testen, ob auch die vermeintlich harmlosen Diatomeen zu einem solch subtilen Mittel greifen, setzten die Wissenschaftler Ruderfußkrebse der Art Calanus helgolandicus auf Algen-Diät, um dann die Entwicklung ihrer Larven genauestens unter die Lupe zu nehmen.

Vierundzwanzig Stunden lang bekamen die Weibchen nur Dinoflagellaten der Art Prorocentrum minimum zu fressen, die zusammen mit den Kieselalgen den größten Teil des Phytoplanktons ausmachen. Einige der Krebse durften diese Kost anschließend beibehalten, andere mussten auf die Diatomeen Skeletonema costatum umsteigen. Nach drei, fünf und sieben Tagen entnahmen die Forscher den Weibchen Eier und fütterten die geschlüpften Nauplius-Larven entweder mit derselben Algenart wie zuvor das Muttertier oder aber sie schwenkten auf die jeweils andere Kost um.

Steckt in den Diatomeen doch mehr als bisher angenommen? Wie es scheint: ja. Keines der Jungtiere überlebte eine Kieselalgen-Diät, der sowohl Muttertier als auch Nachwuchs unterzogen worden waren. Die ungesunde Ernährung der Mütter verursachte Missbildungen beim Nachwuchs, und je länger das Weibchen Diatomeen fraß, desto weniger weit entwickelt waren ihre Abkömmlinge, als sie starben – vorausgesetzt, sie schlüpften überhaupt. Daran konnte auch eine den Nauplius-Larven verpasste Dinoflagellaten-Kur nichts ändern. Am sechsten Tag waren 45 bis 65 Prozent der ausgebrüteten Jungen verwachsen: Sie hatten asymmetrische Körper oder weniger Körperanhänge als gesunde Tiere, mit dem Erfolg, dass sie weder schwimmfähig waren noch in der Lage, ausreichend Nahrung aufzunehmen.

Ruderfußkrebse | Von einigen Kieselalgen produzierte kurzkettige, ungesättigte Aldehyde verursachen Missbildungen beim Nachwuchs von Ruderfußkrebsen. Nur die Bilder in der rechten Spalte zeigen normal entwickelte Nauplien.
Kein Wunder, denn ihr Muttertier schluckte während der Tragzeit eine chemische Keule: Sekunden, nachdem der Krebs die Alge zwischen seine Mandibeln bekommt, aktivieren beschädigte Zellen offenbar ungesättigte, kurzkettige Aldehyde, die sogar menschliche Krebszellen in den Selbstmord treiben können. Und tatsächlich scheinen es diese chemischen Substanzen zu sein, mit denen sich die Kieselalgen erfolgreich gegen Ruderfußkrebse zur Wehr setzen. Als Adrianna Ianora und ihre Kollegen der vorher harmlosen Dinoflagellaten-Kost das tückische Aldehyd untermischten, starben die Nauplien bereits im ersten Copepoditstadium, also gerade als sie anfingen, mit ihrem ersten Rumpfbeinpaar zu rudern.

Aber wie kommt es dann, dass die Diatomeen auch weiterhin auf dem Speiseplan der Ruderfußkrebse stehen? Es gibt sie tatsächlich, die Kieselalgen, die sich unbedenklich fressen lassen, nicht alle produzieren das giftige Aldehyd. Auch gibt es in der freien Wildbahn kaum einen Ruderfußkrebs, der nur Diatomeen frisst. Die meisten machen außerdem Jagd auf frei bewegliche Ciliaten und Dinoflagellaten – diese Mischkost schwächt die Wirkung des Diatomeen-Giftes deutlich ab. Dinoflagellaten erwiesen sich dabei im Versuch als die gesündeste Nahrung. Krebse, die ausschließlich Prorocentrum minimum zu fressen bekamen, brachten die meisten lebenstüchtigen Nachkommen hervor.

Den Kürzeren ziehen natürlich diejenigen, die trotz allem eine Vorliebe für giftige Diatomeen haben. Aber letztendlich dienen sie damit einem höheren Ziel: Weder Algen noch Ruderfußkrebse nehmen langfristig überhand.

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