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Fukushima: Strahlendosen erstmals umfassend eingeschätzt

Zwei internationale Organisationen erkennen laut neuer Berichte nur minimale Gesundheitsgefahren infolge des Strahlungsaustritts. Sorgen bereitet eher die traumatische Belastung.

Nur wenige Menschen werden wegen des Reaktorunglücks in Fukushima an Krebs erkranken – und wer doch krank wird, kann den Unfall wahrscheinlich nie mit Sicherheit dafür verantwortlich machen. So lesen sich die Berichte zweier unabhängiger Institutionen, die jetzt im Detail untersucht haben, welchen Strahlendosen die japanische Bevölkerung und die tausenden Beschäftigten in den havarierten Kernkraftwerken ausgesetzt waren.

Den ersten Bericht – verfasst von einer Unterkommission des UNSCEAR (dem Wissenschaftlichen Ausschuss der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen der atomaren Strahlung) – konnte "Nature" bereits exklusiv einsehen. Darin befasst sich die in Wien ansässige Behörde mit einer Vielzahl von Aspekten des Reaktorunfalls. Der zweite Bericht stammt hingegen aus der Feder der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf und liegt "Nature" im Entwurfsstadium vor. Er bietet eine Abschätzung der Strahlendosen, mit denen die japanische Öffentlichkeit im ersten Jahr nach der Katastrophe konfrontiert worden ist. Beide Berichte stehen im Mittelpunkt des Jahrestreffens der UNSCEAR, das in dieser Woche in Wien stattfindet.

Wie die Analysen der UN-Strahlungsforschungsbehörde zeigen, wurden insgesamt 176 Kraftwerksmitarbeiter einer Strahlenbelastung ausgesetzt, die ihr Risiko einer Krebserkrankung leicht erhöht hat. Die restliche Bevölkerung wurde hingegen durch die zügige Evakuierung weitgehend vor Verstrahlung geschützt; wobei der WHO-Report allerdings bei einigen Bürgern Kontaminationsgrade entdeckte, die die Richtlinien der japanischen Regierung überschreiten.

In der Zone |

Die meisten Anwohner und Kraftwerksmitarbeiter in der Region um Fukushima erhielten nur geringe Strahlungsdosen durch den Reaktorunfall. Im April erleichterte die japanische Regierung den Zugang in Teile des Katastrophengebiets. Die Bewohner von Iitate und Namie könnten einer höheren Strahlenbelastung ausgesetzt worden sein.

"Wenn es ein Gesundheitsrisiko gibt, dann bei Kraftwerksangestellten, die der Radioaktivität stark ausgesetzt wurden", sagt UNSCEAR-Vorstand Wolfgang Weiss. Aber selbst in dieser Personengruppe wird man das Reaktorunglück wohl nie mit nie mit letzter Sicherheit für etwaige Krebserkrankungen verantwortlich machen können. Der Grund ist, dass die Anzahl Betroffener absolut gesehen nur sehr klein ist, während die allgemeine Krebsrate in entwickelten Ländern wie Japan sehr hoch ist.

Angst vor Kontamination stark gewachsen

Im Lauf des vergangenen Jahrs ist in der japanischen Bevölkerung die Angst vor einer radioaktiven Kontaminierung stark gewachsen. Mit ihrer unabhängigen Zusammenfassung der besten verfügbaren Datensätze hoffen die UNSCEAR-Wissenschaftler auch, diese Befürchtungen wenigstens teilweise zerstreuen zu können.

Außerdem halten sie fest, dass die japanische Regierung mit ihrer Abschätzung, wie viel Strahlung im Verlauf des Unglücks ausgetreten ist, nur um den Faktor zehn neben dem tatsächlichen Wert lag. Weitere Studien seien jedoch notwendig, um in vollem Umfang erfassen zu können, welche Auswirkungen der Unfall auf Pflanzen, Tiere und Meereslebewesen im Umfeld der Atommeiler hat. Die endgültige Version des Berichts dürfte eine nützliche Grundlage für derartige Untersuchungen bieten – sie soll im kommenden Jahr vom Hauptkomitee des UNSCEAR verabschiedet werden.

Die Havarie der Kernreaktoren in Fukushima begann am 11. März 2011, als ein Erdbeben der Stärke 9,0 einen Tsunami vor der Küste Japans auslöste. Die 14 Meter hohe Flutwelle traf daraufhin vier der sechs Reaktoren der Fukushima-Daiichi-Anlage und legte die Notfallkühlsysteme lahm. Kernschmelzen und Explosionen, bei denen radioaktives Material in die Luft und ins Meer geschleudert wurde, waren die Folge. Im Verlauf des vergangenen Jahrs konnten die verunglückten Meiler stabilisiert werden; die Emission strahlenden Materials wurde weitgehend unterbunden.

"Es könnte zu einer Erhöhung des Krebsrisikos kommen, die allerdings statistisch nicht nachweisbar sein wird."Kiyohiko Mabuchi

Seit letztem Herbst sichten nun UNSCEAR-Mitarbeiter sämtliche verfügbaren Daten über die Strahlenbelastung im Umfeld von Fukushima. Damit folgt die Behörde dem gleichen Prinzip wie 1986, als sie den maßgeblichen Bericht über die Auswirkungen des GAUs von Tschernobyl erarbeitete.

Im Detail durchforsten sie anonymisierte medizinische Gutachten von 20 115 Angestellten der Tokyo Electric Power Company, dem Betreiber der Kernkraftwerke, und deren Zulieferfirmen. Dabei kamen sie zu dem Schluss, dass 146 AKW-Angestellte und 21 Mitarbeiter anderer Firmen einer Dosis über 100 Millisievert (mSv) ausgesetzt wurden. Ab dieser Dosis besteht anerkanntermaßen ein leicht erhöhtes Risiko für Krebserkrankungen. Sechs Angestellte erhielten mehr als die 250 mSv, die das japanische Gesetz als Grenzwert für Notfalleinsatzkräfte vorsieht. Zwei Bediener in den Kontrollräumen der Reaktoren 3 und 4 wurden Dosen oberhalb von 600 mSv ausgesetzt, weil sie keine Kaliumiodidtabletten einnahmen, die die Anreicherung radioaktiven Iods-131 in ihrer Schilddrüse hätten verhindern können. Bislang scheint keiner der Bediener unter gesundheitlichen Folgen zu leiden.

Chaos mitverantwortlich für Verstrahlung

Die meisten der Angestellten, die hohe Dosen erhielten, wurden in den Anfangstagen der Krise kontaminiert. Während der ersten Stunden saßen sie dicht zusammengedrängt in verdunkelten Kontrollräumen, während kleine Teams immer wieder ins Innere der Reaktorgebäude vordrangen, um vor Ort Schäden begutachten oder Ausrüstungsteile per Hand bedienen zu können. Vielfach wussten sie nicht, wie stark ihre Umgebung verstrahlt war – laut dem Bericht funktionierte ein System zur automatischen Erfassung der Strahlendosis nicht korrekt. Bis Mitte April hatten die Betreiber dann grundlegende Kontroll- und Überwachungsmechanismen wiederhergestellt.

Dem einhelligen Urteil der Sachverständigen zufolge ist eine merkliche Erhöhung der Schilddrüsenkrebs- und Leukämieraten – also der beiden Krebsarten, die am ehesten durch Strahlenbelastung ausgelöst werden – durch den Unfall unwahrscheinlich. "Es könnte zu einer Erhöhung des Krebsrisikos kommen, die allerdings statistisch nicht nachweisbar sein wird", meint etwa Kiyohiko Mabuchi, der Chef des Instituts für Tschernobylstudien am National Cancer Institute in Rockville (US-Bundesstaat Maryland). In Tschernobyl, wo Aufräumarbeiter einer wesentlich höheren Strahlenbelastung ausgesetzt waren, entwickelte rund jeder Tausendste der 110 000 bislang untersuchten Betroffenen eine Leukämie, die jedoch nicht in jedem Fall durch den Unfall bedingt sein muss.

Wie viele Betroffene wurden welchen Dosen ausgesetzt? | Die Grafik gibt einen Überblick über das Ausmaß der Verstrahlung unter den Angestellten der havarierten Kernkraftwerke. Jeder Punkt steht für eine Gruppe von zehn Mitarbeitern.

In Japan dürfte das zusätzliche Krebsrisiko der rund 140 000 Zivilisten, die in einer Entfernung von mehreren zehn Kilometern um den Reaktor lebten, noch einmal geringer sein. Weil genaue Strahlungsmessungen zum Zeitpunkt des Unfalls nicht erhältlich waren, musste die WHO abschätzen, welche Dosen die Betroffenen durch Einatmen oder Verschlucken freigesetzter Partikel oder radioaktiven Fallout erhielten. Laut der Behörde lägen die Belastungen der meisten Anwohner im Bereich unter 10 mSv. Bei den Bewohnern der Ortschaften Namie und Iitate, die erst Monate nach der Reaktorhavarie evakuiert wurden, liege sie bei 10-50 mSv.

Die japanische Regierung plant ihre Maßnahmen darauf abzustimmen, dass die Strahlendosis in den kommenden Jahren auf unter 20 mSv pro Jahr beschränkt bleibt. Auf lange Sicht sollen jedoch die betroffenen Gebiete dekontaminiert werden, so dass die Anwohner nicht mehr als jährlich 1 mSv in Folge des Unfalls erhalten.

Lokale Studien kommen zu ähnlichem Ergebnis

Die Berechnungen der WHO decken sich mit mehreren medizinischen Studien japanischer Wissenschaftler, die ebenfalls Strahlendosen im Bereich von 1-15 mSv in der Bevölkerung beobachteten, selbst unter jenen, die in direkter Nähe zu den Anlagen wohnten. Sorgen bereiten allerdings die Kleinkinder aus Namie, deren Schilddrüse genügend Iod-131 aufgenommen haben könnten, um eine Schilddrüsendosis von 100-200 mSv zu erreichen, was ihr Schilddrüsenkrebsrisiko erhöhen würde. Untersuchungen an 1080 Kindern aus der Region offenbarten jedoch, dass keines von ihnen mehr als 50 mSv abbekommen hatte.

Auf Grund der großen Zahl Betroffener in der weiten Bevölkerung könne es sich am Ende sogar herausstellen, dass die absolute Zahl strahlungsbedingter Krebserkrankungen in diesem Personenkreis höher liegt als bei den unmittelbar betroffenen Kraftwerksmitarbeitern, auch wenn das Risiko für jeden Einzelnen winzig sei, erläutert der Radiologe David Brenner von der Columbia University in New York. Aber auch er zweifelt daran, dass sich jemals eine direkte statistische Verknüpfung zwischen Reaktorunfall und Erkrankung herstellen lassen werde. Unter normalen Umständen "bekommen 40 Prozent aller Leute Krebs", so der Forscher. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass man eine epidemiologische Studie machen kann, bei der dann ein durch die Strahlung erhöhtes Krebsrisiko herauskommt." Allerdings könnten solche Studien trotzdem sinnvoll sein, damit die Bevölkerung nicht den Eindruck bekomme, es solle etwas vertuscht werden.

Traumatische Störungen könnten verbreitet sein

Wesentlich schlimmere Folgen für die Gesundheit könnte jedoch der psychische Stress haben, den Erdbeben, Tsunami und Nuklearkatastrophe auslösten. Beim Reaktorunglück von Tschernobyl habe sich gezeigt, dass die Evakuierten häufiger an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) litten als der Rest der Bevölkerung, erläutert Evelyn Bromet von der State University of New York in Stony Brook.

In und um Fukushima könnte die Störung sogar noch viel verbreiteter auftreten. Ihr seien "noch nie solche Antworten auf PTBS-Fragebögen untergekommen" wie bei einer Umfrage der Medizinischen Universität von Fukushima, erzählt die Expertin für epidemiologische Psychiatrie. Die Menschen seien "zutiefst verängstigt und extrem wütend. Es gibt niemandem, dessen Informationen sie noch trauen würden."

Dabei vermitteln die beiden Berichte jedoch insgesamt den Eindruck, dass die japanische Regierung mit ihren Maßnahmen kurz nach dem Unglück richtig gelegen hat. Shunichi Yamashita von der Medizinischen Universität Fukushima, der eine der örtlichen Gesundheitsuntersuchungen leitet, hofft dementsprechend, dass die neuen Erkenntnisse dazu beitragen, den Stress unter den Opfern des Unfalls zu reduzieren.

Aber es ist fraglich, ob sie ausreichen, um der örtlichen Bevölkerung wieder Vertrauen in ihre Regierung zurückzugeben. Der Leiter des Radioisotopenzentrums der Universität Tokyo, Tatsuhiko Kodama – ein scharfer Kritiker der Regierung – zweifelt beispielsweise am Wert der Studien: "Ich finde, internationale Organisationen sollten damit aufhören, übereilt Berichte zu verfassen, nachdem sie eine Stippvisite in unser Land unternommen haben. Dadurch fehlt der Einblick in die Vorgänge direkt vor Ort."

Die 70 Wissenschaftler des UNSCEAR-Arbeitskomitees haben jedenfalls noch viel Arbeit vor sich, bis sie die Endfassung ihres Berichts zusammengestellt haben. Zunächst heißt es für sie, weiter unabhängig voneinander die verschiedenen Quellen auf ihre Zuverlässigkeit zu prüfen und an den Modellen zu feilen, mit denen sich die Ausbreitung der Radioisotope in der Umwelt simulieren lässt. Für die Helfer am Reaktor sei nun freilich "die persönliche medizinische Versorgung wichtiger als die mit Statistiken", sagt UNSCEAR-Leiter Weiss. "Die Leute wollen wissen, ob das was wir sagen, auch wahr ist."

Dieser Artikel erschien unter dem Titel "Fukushima's doses tallied" in Nature 485, S. 423-424, 2012.

Mehr zum Thema auf unserer Sonderseite "Erdbeben und Reaktorunglück in Japan"

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