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Walstrandungen: Giganten auf Grund gelaufen

Flache Küstenzonen können zur tödlichen Falle für Wale werden. Oft dürften für solche Strandungen menschliche Einflüsse verantwortlich sein – darunter Fischerei, Lärm, Schiffsverkehr und Umweltgifte.
Eine Gruppe von gestrandeten Walen liegt an einem sandigen Strand unter einem bewölkten Himmel. Die Wale sind entlang der Küstenlinie verteilt, während im Hintergrund Dünen und das Meer zu sehen sind. Eine Person steht in der Ferne, was die Größe der Wale im Vergleich zur Umgebung verdeutlicht.
Massenstrandungen kommen fast nur bei Zahnwalen vor – wie hier im Februar 2025 an einem abgelegenen Strand in Tasmanien, Australien. Es liefen 157 Kleine Schwertwale (Pseudorca crassidens) auf Grund; schlechtes Wetter und die Abgeschiedenheit der Gegend behinderten die Rettungsbemühungen.

Der junge Buckelwal lebte noch, als Lauren Brandkamp an einem Novembertag 2020 am Strand eintraf. Das fast 14 Tonnen schwere Kalb war offensichtlich von seiner Mutter getrennt geworden und auf einer Sandbank an der US-Küste vor Chatham, Massachusetts, gestrandet. »Ich erinnere mich, wie ich an seinem Kopf vorbeiging und das eine Auge mich verfolgte. Der Wal sah uns zu, wie wir versuchten, die Lage einzuschätzen und Hilfe zu organisieren«, erzählt Brandkamp. »Er war sich darüber bewusst, was passiert. Und das war extrem motivierend für mich – es gab mir das Gefühl, dass es einen Grund gab, weshalb ich dort war.«

Brandkamp ist Ozeanografin und arbeitete damals beim »Marine Mammal Rescue & Research«-Team der IFAW (International Fund for Animal Welfare). Heute ist sie Koordinatorin für Strandungen bei der »Whale and Dolphin Conservation«, kurz WDC. Die Organisation wurde von der US-amerikanischen Ozean- und Atmosphärenbehörde zugelassen, um auf Strandungen von Meeressäugern zu reagieren. Das Einsatzgebiet des Teams von Brandkamp umfasst mehr als 300 Kilometer Küstenlinie von Boston bis Cape Cod. »Wir haben eine Hotline-Nummer, die die meisten Leute in der Gegend kennen«, erzählt sie. Auch im Video-Gespräch mit Spektrum hat sie das Notfalltelefon vor sich liegen. »Wir reagieren sofort. Oft schicken wir einen geschulten Freiwilligen, der die Situation für uns beurteilt. Bei Strandungen von großen Walen kommt unser Team aber immer so schnell wie möglich selbst.«

Ortswechsel: Nordseeinsel Sylt. Es ist der 4. Juni 2025 früh am Morgen. Lothar Koch macht sich von seinem Haus hinter den Dünen auf zu seinem morgendlichen Ritual: einem kurzen Bad im Meer. Seit 1988 lebt der Biologe auf Sylt, ursprünglich stammt er von der ostfriesischen Insel Juist. Biologie habe er auch deshalb studiert, weil er etwas zum Schutz der Nordsee beitragen wollte. Und das tat er: 15 Jahre lang leitete Koch die Sylter Informationszentren der Schutzstation Wattenmeer e. V. Weiterhin engagiert er sich im Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer und setzt sich für den Schutz der Schweinswale in der Nordsee ein.

Als Lothar Koch an jenem Junimorgen den Rantumer Strand erreicht, ist von der üblichen Ruhe nichts zu spüren. Stattdessen rangiert ein Arbeiter mit einem Radlader und lädt einen toten Zwergwal mit seiner Schaufel auf. »Die Haut des Kadavers war ganz rosa«, erinnert sich Koch, als er die Geschichte rund einen Monat später am Telefon erzählt. Später erfuhr er, dass der Wal bereits am Vorabend gestrandet war. »Der starke Wellengang hatte seine graue Oberhaut abgescheuert. Bei dem grobkörnigen Sand auf Sylt reicht schon eine Nacht, den Körper so zuzurichten«, sagt der Biologe, der in seinem Leben viele Walstrandungen miterlebt hat. Und noch ein anderes Detail erregte die Aufmerksamkeit des Naturschützers – doch dazu später.

Strandet ein Wal, dann wird an dem verendeten Tier in der Regel eine Obduktion durchgeführt, Tiermediziner sprechen meist von einer Nekropsie. In Schleswig-Holstein, und damit auch auf Sylt, ist dafür das Institut für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung, kurz ITAW, verantwortlich. Es hat zwei Standorte, einen in Büsum und einen in Hannover, und gehört zur Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover (TiHo). »In Schleswig-Holstein sind wir für jede Strandung der Ansprechpartner, in Niedersachsen und in Mecklenburg-Vorpommern können die Kollegen uns zur Unterstützung für Großwale dazuholen«, erklärt die Zoologin und Tierärztin Ursula Siebert. Sie ist die Direktorin des ITAW und hat schon unzählige Nekropsien von Walen durchgeführt.

Die einzige in der Nordsee heimische Art ist der Schweinswal. Er gehört zu den kleinsten Walarten und wird nur rund 1,5 Meter lang. »Schweinswalkadaver stranden fast täglich an den Küsten Schleswig-Holsteins«, sagt Siebert. Allein auf Sylt sind es jährlich um die 100 Exemplare. Alle Kadaver landen in Sieberts Institut in Büsum – entweder frisch oder tiefgefroren. Bei Großwalen hingegen werde zunächst gemeinsam mit Vertretern der zuständigen Behörden – in der Regel sind das Amtsveterinäre und der Landesbetrieb für Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz Schleswig-Holstein – entschieden, wie mit dem Körper weiterverfahren wird, wo er vermessen und untersucht werden kann.

Auch an der Ostküste der USA inspiziert man fast jeden gestrandeten Wal, erzählt Brandkamp. Ihr Team kümmert sich dabei um alle im zuständigen Gebiet verendeten Tiere. »Eine Nekropsie an einem großen Wal erfordert in der Regel 15 bis 20 Personen«, so die Ozeanografin. Deshalb arbeite man mit Netzwerkpartnern und freiwilligen Helfern zusammen, die entlang der Küste wohnen und durch die WDC ausgebildet wurden. »Diese Personen sind für uns sehr hilfreich, da sie oftmals schneller vor Ort sein können als unser Team«, sagt Brandkamp.

»Schweinswalkadaver stranden fast täglich an den Küsten Schleswig-Holsteins«Ursula Siebert, Zoologin und Tierärztin

Unterstützung kommt zusätzlich von Gemeindearbeitern, die teils mit schwerem Gerät anrücken, um die Meeressäuger zu bewegen. Es kann allerdings auch vorkommen, dass die Kadaver noch vor der Küste treiben. »Wir müssen dann ein Boot organisieren und das Tier an einen geeigneten Strand schleppen, an dem wir die Nekropsie durchführen können«, erklärt Brandkamp. Falls möglich, vergrabe man die Körper im Anschluss im Sand. Vor allem in den Sommermonaten müssen sie allerdings rasch weggeschafft werden, weil sie in der Hitze schnell verwesen und Touristen die Strände bevölkern. Dann besorgt das WDC-Team einen großen Muldenkipper, um den Kadaver zu einer Mülldeponie zu transportieren. Dort wird er zunächst obduziert und dann entsorgt. »Bei der Strandung eines großen Wals sind ziemlich viele Leute involviert«, sagt Brandkamp.

Häufig klärt auch eine Obduktion nicht, wieso ein Wal gestrandet beziehungsweise verendet ist. Das liegt unter anderem an der dicken Speckschicht der Meeressäuger. Sie hilft ihnen zu Lebzeiten, den Körper in kaltem Wasser warm zu halten. Sterben die Tiere, isoliert das Fett weiterhin, und sie beginnen im Inneren zu verwesen. »Wir versuchen daher so schnell wie möglich eine Nekropsie durchzuführen«, sagt Brandkamp. Aber in vielen Fällen seien die Tiere innerlich schon so stark zersetzt, dass Gewebeproben keine verwertbaren Informationen mehr liefern würden. »Das ist manchmal frustrierend«, sagt Brandkamp.

Dieser Verwesungsprozess ist auch dafür verantwortlich, dass tote Wale regelrecht explodieren können. Die dabei entstehenden Gase sammeln sich vor allem im Bauchraum. Wird der Druck zu groß, platzt der Leib auf. Im Jahr 2007 geschah genau das mit einem 17 Meter langen Pottwal, der in Taiwan* auf einem Lkw zur Obduktion abtransportiert wurde. Mitten in der Stadt Tainan explodierte das Tier und hinterließ riesige Massen an Eingeweiden auf der Straße, an Autos und Hauswänden.

Wenn seichtes Wasser zur Falle wird

Die Gründe dafür, dass jährlich im Schnitt mehrere tausend Wale an den Stränden weltweit angespült werden, sind vielfältig (siehe »Weshalb Wale stranden«). Häufig spielt dabei der Mensch eine Rolle, allerdings nicht zwangsläufig. »Die Gegend um Cape Cod ist ein globaler Hotspot für Strandungen«, sagt Brandkamp. Das liege zu einem großen Teil an der Geografie der Region, einer hakenförmigen Halbinsel namens Cape Cod (siehe »Verhängnisvolle Halbinsel«). Die Landzunge weist große Wattflächen und starke Gezeitenunterschiede und -strömungen auf; Nahrung ist reichlich vorhanden. Für Wale kann das zu einer Falle werden: Sie kommen mit der Flut zum Fressen, werden dann von der Ebbe überrascht und bleiben im flachen Wasser stecken.

Verhängnisvolle Halbinsel | Cape Cod im nordöstlichen US-Bundesstaat Massachusetts ist ein weltweiter Hotspot für Walstrandungen.

Gebiete, die den Meeressäugern aufgrund ihrer Geografie zum Verhängnis werden können, gibt es einige weitere. Eines davon ist die Farewell Spit, eine Landzunge in Neuseeland. Im Februar 2017 ereignete sich hier eine der schlimmsten Walstrandungen des 21. Jahrhunderts. Zwischen 600 und 700 Grindwale mit einer Länge von bis zu sieben Metern kämpften im seichten Wasser und am Strand um ihr Leben. »Es ist sehr schwer, einen gestrandeten Wal zu retten. Es gibt einige Methoden, wie zum Beispiel den Einsatz großer aufblasbarer Luftkissen, um ihn wieder beweglich zu machen. Oder man kann mit Booten versuchen, ihn in tieferes Wasser zu ziehen«, erklärt die Expertin Brandkamp. »In der Regel wartet man jedoch nur darauf, dass die Flut kommt und das Tier mit etwas Unterstützung ins offene Meer zurückschwimmen kann.«

Ähnlich versuchte man auch, das eingangs erwähnte Buckelwalkalb in den USA zu retten. Mit Leinen und Gurten zog ein 15-köpfiges Rettungsteam der IFAW, dem Brandkamp damals ebenfalls angehörte, das Jungtier bei einsetzender Flut in Richtung Meer. Doch selbst gegen Abend war es noch nicht geschafft – und dem Kalb ging es zunehmend schlechter.

In Neuseeland fanden sich damals für die Rettungsaktion rund 300 freiwillige Helfer ein, um in einer enormen Kraftanstrengung etlichen Grindwalen zu helfen. Dazu begossen sie die auch Pilotwale genannten Meeressäuger regelmäßig mit Wasser, um deren Haut feucht zu halten und vor Sonnenbrand zu schützen. Manche der Tiere wurden vorsichtig so positioniert, dass sie nicht auf der Seite lagen – damit sollten innere Verletzungen und Atemprobleme verhindert werden. Bei Flut versuchten die Helferinnen und Helfer dann, die Wale in tieferes Wasser zu geleiten, etwa durch Schieben oder durch Ziehen mittels Gurten und Leinen. Dann liefen Freiwillige neben den Tieren her, um sie in Richtung offenes Meer zu lotsen und zu verhindern, dass sie wieder umkehren. Letztlich überlebten mehr als die Hälfte der Wale, mindestens 100 durch Rettungsmaßnahmen und der Rest aus eigenen Kräften.

Bloß nicht austrocknen | Freiwillige versuchen, die im Jahr 2017 am Farewell Spit (Neuseeland) gestrandeten Pilotwale mithilfe von nassen Tüchern vor Sonnenbrand und Austrocknung zu bewahren.

Die Küste in dem Gebiet fällt über viele Kilometer nur sehr langsam ab. In flachem Wasser funktioniert das Echolot – das Orientierungssystem der Zahnwale (siehe »Mit Ultraschall durchs Meer«) – kaum, weil wenig Schall reflektiert wird. Unter solchen Bedingungen verlieren besonders Delfine (zu denen die Grindwale gehören) und Pottwale mitunter die Orientierung und verirren sich in zu seichtes Wasser. Bartenwale – darunter Blauwal, Buckelwal, Finnwal und Zwergwal – nutzen hingegen kein Echolot, um sich zu orientieren. Das könnte ein Grund sein, warum Massenstrandungen bei diesen Arten kaum auftreten.

Auch weitere geografische Besonderheiten wie Unterwasserhügel, Untiefen und Rinnen können den akustischen Orientierungssinn stören. Allerdings ist weiterhin unklar, inwiefern die flachen Küstenlinie und eine komplexe Meeresbodentopografie wirklich ursächlich sind.

Die Obduktionen von vier der verendeten Grindwale in Neuseeland ergaben jedenfalls keine Hinweise auf Erkrankungen, die als zusätzlicher Grund für die Strandung infrage kämen. Da die meisten Wale in engen Sozialverbänden leben, ist denkbar, dass die Gruppe einem kranken oder verletzten Tier ins seichte Wasser folgte. Entsprechend ist eine gängige Hypothese, dass dieses Sozialverhalten besonders bei Massenstrandungen von Grindwalen eine Rolle spielt. Allerdings fanden sich bislang keine stichhaltigen Beweise dafür. Eine Analyse der Verwandtschaftslinien bei zwölf Massenstrandungen von Grindwalen offenbarte sogar: Eng verwandte Tiere lagen häufig nicht nah beieinander am Strand. Und dies traf sogar für Mutterkühe und ihre Kälber zu. Strandungen könnten laut den Autoren also dadurch begünstigt werden, dass enge verwandtschaftliche Kontakte gestört werden. Das könnte beispielsweise passieren, wenn unterschiedliche soziale Gruppen während des Fressens oder der Paarung interagieren.

Auch an der Nordseeküste kommt es immer wieder zu Massenstrandungen. Lothar Koch erinnert sich an ein bedrückendes Erlebnis im Winter 1995/96, bei dem 25 Pottwale vor der dänischen Insel Rømø, vor Schottland und vor Norderney starben. »Einen Tag vorher habe ich noch sechs davon lebend vor Rantum gesichtet. Solche Großwale in der Nordsee bieten ein sehr seltenes Bild«, sagt Koch. Am nächsten Tag strandeten die Tiere auf Rømø, der Nachbarinsel von Sylt. »Ich bin dann übergesetzt und habe Fotos gemacht. Die Tiere lebten noch, das war ein wahres Trauerspiel. Wir konnten nichts machen«, erinnert sich der Biologe. Pottwale erreichen eine Länge von bis zu 20 Metern bei einem Gewicht von mehr als 50 Tonnen. »Man kann die nicht einfach mit einem Radlader an der Fluke packen und ins Wasser ziehen«, sagt Koch.

Mit Ultraschall durchs Meer

Zahnwale wie Delfine, Schweinswale, Schnabelwale oder Pottwale orientieren sich mit ihrem Echolot. Dazu geben sie über die Stirnregion – die »Melone« – Klicklaute ins Wasser ab. Treffen die hochfrequenten Schallwellen auf ein Objekt, werden sie als Echo zurückgeworfen. Dieses gelangt über den Unterkiefer, der wie eine Schallantenne wirkt, ins Innenohr. Aus den winzigen Zeitunterschieden und Klangmustern können die Tiere Größe, Form, Entfernung und sogar die Struktur eines Objekts erkennen – oft präziser, als es uns Menschen mit technischen Sonaren gelingt. Die Fähigkeit nutzen sie nicht nur, um sich zu orientieren, sondern auch, um Beute aufzuspüren.

Die jüngste Massenstrandung von Pottwalen an der Nordseeküste ereignete sich 2016. Insgesamt verendeten 30 Tiere, 16 davon an der deutschen Küste (drei in Niedersachsen und 13 in Schleswig-Holstein). Die Obduktionen der Kadaver in Schleswig-Holstein wurden damals von Ursula Siebert geleitet. »Unsere Analysen haben ergeben, dass es sich um eine Gruppe von jungen Bullen handelte, die an der Schwelle zur Geschlechtsreife standen«, berichtet die Tierärztin und fügt hinzu: »Sie waren alle gesund – der Gesundheitszustand war also nicht der Grund für die Strandungen.« Zwar habe man in manchen Mägen Plastikmüll gefunden, dies habe aber nicht unmittelbar zum Tod geführt, so Siebert. »Doch mit Sicherheit hätte das in ihrem weiteren Leben Probleme verursacht.«

Sehr wahrscheinlich haben sich die Jungbullen also verirrt. »Pottwale sind Tieftaucher. Wenn die ins flache Wattenmeer kommen, verlieren sie komplett ihre Orientierung, weil ihr Echolot nicht mehr funktioniert«, sagt Koch. »Man muss sich das so vorstellen, wie wenn wir uns in dichtem Nebel bewegen müssten.« Und sobald die Ebbe kommt, läuft das Wasser komplett ab, und die Meeressäuger liegen plötzlich auf dem Strand, wo sie von ihrem eigenen Gewicht erdrückt werden. »Die Organe werden geschädigt, die Atmung funktioniert nicht mehr richtig, die Temperatur staut sich«, erklärt Koch. Und am Ende sterben die Tiere.

Böses Ende eines Junggesellenausflugs

Weshalb Pottwale überhaupt ins Wattenmeer schwimmen, darüber lässt sich nur spekulieren: »Das sind unerfahrene, wahrscheinlich draufgängerische Jungbullen, die auf der Suche nach Nahrung ins Nordmeer schwimmen und im Winter und Frühjahr zu den Weibchen nahe den Azoren und in der Karibik zurückkommen«, sagt Koch. Daher vergleicht er ihre Reise auch mit einem Junggesellentrip – und bei einem solchen kann eben einiges schiefgehen. »Aus irgendwelchen Gründen biegen die Tiere bei Schottland falsch ab.« Vielleicht, weil sie ihrer Nahrung folgen, einer bestimmten Kalmar-Art. Heftige Stürme im Nordostatlantik könnten Wassermassen und damit auch die Tintenfische in die Nordsee getrieben haben. Die Walexpertin Siebert hält diese These für plausibel: »Wir vermuten, dass die Strandungsereignisse in der Nordsee mit besonderen Strömungs- und Wetterverhältnissen und mit einer Verlagerung der Beutetiere der Pottwale zusammenhängen können.«

Tod an der Nordseeküste | 2016 ereignete sich eine Massenstrandung von Pottwalen an der Nordseeküste. 30 Tiere verendeten. Hier zu sehen ist der Kadaver eines Pottwals auf der niederländischen Insel Texel.

Allerdings spielt womöglich auch der Mensch eine nicht unwesentliche Rolle – und zwar auf ganz unterschiedliche Weise: Es gibt etwa die Theorie, dass es bei Pottwalen eine Lernlücke gibt, weil man durch den Walfang im 20. Jahrhundert hunderttausende Tiere erlegte. »Es waren vielleicht nicht genügend Adulte da, die das Wissen über die Wanderrouten an die Nachkommen weitergeben konnten«, sagt Lothar Koch. Ebenso könnte es sein, dass der Klimawandel die Ökosysteme in den Meeren so verändert, dass die Wale in ihren üblichen Jagdgründen nicht mehr genügend Nahrung finden und daher andere Wege einschlagen. Noch dazu setzt den Tieren wohl die steigende Lärmbelastung zu: »In den schottischen und norwegischen Gewässern gibt es viele Ölbohrinseln und Gasförderanlagen. Es ist also sehr laut, was die Orientierung der Tiere durcheinanderbringen könnte«, vermutet Koch.

Und auch der Schiffsverkehr bringt eine teils erhebliche Lärmbelastung mit sich. Die Meeressäuger sind dadurch gestresster, was sich negativ auf ihren Gesundheitszustand auswirken kann. Hinzu kommen Umweltgifte von chemischen und pharmazeutischen Substanzen und deren Abbauprodukten sowie Mikroplastik: »Wir haben es in den Ozeanen nicht mit einem Schadstoff, sondern mit einer unvorstellbar hohen Anzahl zu tun«, sagt Tierärztin Siebert. Diese Stoffe lagern sich in den Meeressäugetieren ein und stören unter anderem deren Immun- und Hormonsysteme.

Bei den heimischen Schweinswalen lassen sich mögliche Folgen beobachten: »Die Populationen in der Nord- und Ostsee leiden im Vergleich zu anderen sehr unter Infektionen, die den Atmungsapparat betreffen«, sagt Siebert. Diese könnten sich im gesamten Körper ausbreiten, sodass die Meeressäuger daran sterben. Betroffen sind insbesondere Jungtiere. »Wir denken, dass zumindest ein Teil dieser Krankheitsbilder durch den hohen Druck menschlicher Aktivitäten verursacht wird.«

»Die Gegend um Cape Cod ist ein globaler Hotspot für Strandungen«Lauren Brandkamp, Ozeanografin

Vor allem die Fischerei sorgt für derartigen Druck auf die Tiere. Obwohl in der deutschen Nordsee verschiedene Schutzgebiete ausgewiesen sind, die den Schweinswalen als Rückzugsorte dienen sollen, verfangen sich jährlich Tausende von ihnen in kilometerlangen Stellnetzen und ertrinken. »Diese Netze können die Wale nicht orten«, erklärt Lothar Koch. Und Fischereigerät tötet auch größere Meeressäuger. Das zeigt etwa das eingangs beschriebene Beispiel des gestrandeten Zwergwals am Rantumer Strand. »Das Tier hatte eine Reusenleine um den Kopf gewickelt, an der noch ein Krebsfangkorb hing«, erzählt Koch.

Gefährliche Schiffe und Leinen

An der Ostküste der USA ist laut Brandkamp die Beweislage eindeutig: »Bei uns an der Küste sind die beiden häufigsten Todesursachen für große Wale versehentliches Verfangen in Fischereileinen und Schiffskollisionen.« 2024 habe man eine Rekordzahl an Strandungen registriert, innerhalb von etwa sechs Monaten drei Zwergwale und drei Buckelwale. »Normalerweise finden wir alle ein bis zwei Jahre einen großen Wal«, sagt sie. Bei einem 2024 gestrandeten Zwergwal stellte man stumpfe Gewalteinwirkungen am Schädel und am Kiefer fest. »So etwas deutet ziemlich eindeutig auf einen Schiffsaufprall hin.«

Anhand von Gewebeproben lässt sich sogar feststellen, ob eine solche Verletzung vor oder nach dem Tod passiert ist. »Für den Zwergwal war die wahrscheinlichste Todesursache die Kollision mit einem Schiff«, so Brandkamp. Im selben Zeitraum strandete ein Buckelwal mit einer Leine um seine Brustflosse. »Er wies eine Reihe wirklich ungewöhnlicher Abdrücke und Schnittwunden entlang seiner gesamten Flanke auf«, erinnert sich die Ozeanografin. »Wir gehen also auch hier davon aus, dass er wegen menschlichen Wirkens verstorben ist.« Allerdings sei die Art der Verletzungen bisher noch rätselhaft.

Hummer- und Krabbenfang ist an der US-Ostküste ebenfalls ein Problem. Die Fischer nutzen eine vertikale Leine, die eine Boje an der Oberfläche mit den Reusen am Grund verbindet. Immer wieder verfangen sich Wale und andere Meeressäuger darin. »Deshalb arbeiten wir an einer innovativen Fangmethode namens ›On-Demand-Fishing‹«, berichtet Brandkamp. Der Korb am Meeresboden hat keine Leinen mehr, sondern ist mit einem aufblasbaren Beutel ausgestattet. Die Fischer können den Aufblasvorgang auslösen, sodass der Korb an die Oberfläche steigt. Nun lassen sich Hummer oder Krabben einsammeln. »Diese Methode ist sehr erfolgreich und verringert nachweislich das Risiko für Meeressäuger«, sagt Brandkamp. Allerdings sind die nötigen Geräte teuer. »Daher arbeiten wir direkt mit Fischern zusammen und leihen ihnen die Ausrüstung.«

Die bewährteste Methode, um das Risiko von Verletzungen oder Todesfällen bei Walen zu reduzieren, ist jedoch, die Geschwindigkeit der Boote zu drosseln. Die WDC hat daher die Entwicklung von Regeln und Vorschriften für US-Gewässer unterstützt. Demnach dürfen Schiffe mit einer Länge von etwa 20 Metern oder mehr in Gebieten, die kritische Lebensräume für große Wale darstellen, nur zehn Knoten schnell fahren. Und werden die Meeressäuger in anderen Regionen gesichtet, wird zumindest eine Empfehlung ausgesprochen, die Geschwindigkeiten freiwillig zu drosseln.

»Weniger gestrandete Wale sind nicht zwangsläufig gute Nachrichten«Ursula Siebert, Zoologin und Tierärztin

Ob tatsächlich immer mehr Wale stranden – wie Brandkamp und Koch vermuten –, lässt sich kaum nachweisen. Zwar gibt es beispielsweise für die Nordseeküste schon seit Mitte des 13. Jahrhunderts erste gesicherte Berichte über Pottwalstrandungen. Gleichwohl sind die historischen Aufzeichnungen nicht unbedingt zuverlässig und zudem unvollständig. Hinzu kommt, dass die Zahl der auf Grund gelaufenen Tiere nichts über den Zustand einer Population aussagt. »Weniger gestrandete Wale sind nicht zwangsläufig gute Nachrichten. Es kann schlichtweg daran liegen, dass es deutlich weniger Tiere gibt«, erklärt Siebert. Entsprechend könnten mehr Walstrandungen bedeuten, dass die Population zunimmt.

Für die meisten Walarten trifft das aber nicht zu, wie Zählungen beweisen. Was den Schweinswal angeht, so konnten Fachleute des Centrums für Naturkunde der Universität Hamburg und der TiHo zeigen, dass die Population in der Deutschen Bucht von 2002 bis 2019 durchschnittlich um knapp zwei Prozent pro Jahr zurückgegangen ist. Demnach lebten am Ende des Untersuchungszeitraums in dem Gebiet nur noch rund 23 000 Individuen. Die Gründe hierfür sind erneut ungewiss und wahrscheinlich vielfältig. Kochs Bauchgefühl: »Intuitiv würde ich sagen, es liegt am Bau der Windkraftanlagen. Der hat in diesem Ökosystem in den letzten 20 Jahren massiv zugenommen.« Ein weiterer möglicher Faktor: »Durch die stetig steigende Wassertemperatur verändern sich allmählich ganze Ökosysteme, was sich letztlich auch auf das Wanderverhalten der Schweinswale auswirken könnte«, erklärt Koch.

Bei der Suche nach Antworten könnten die gestrandeten Wale helfen: »An den Kadavern lassen sich viele, unheimlich wichtige Daten erheben«, sagt Siebert. Sie liefern Informationen über Infektionen, über mögliche Parasiten, über Verletzungen und den allgemeinen Gesundheitszustand. Und daraus können dann Rückschlüsse darauf gezogen werden, was die Tiere stresst und wie sie sich besser schützen lassen. »Diese Erkenntnisse geben wir an die Politik weiter und beraten die Entscheidungsträger.«

So haben die Ergebnisse von Untersuchungen des Gehörs der Tiere etwa dazu geführt, dass beim Bau der Offshore-Windkraftanlagen bestimmte Regeln eingehalten werden müssen, um die Lärmbelastung zu reduzieren. Analysen zur Schadstoffbelastung dienen dazu, Maßnahmen durchzusetzen, die den Eintrag dieser Stoffe ins Meer reduzieren. Ursula Siebert findet es daher wichtig, dass die ausgiebigen Nekropsien der Kadaver Schule machen. »Wir unterstützen unsere Kolleginnen und Kollegen in anderen Regionen der Welt dabei, ihre Strandungsnetzwerke zu verbessern, damit auch dort mehr Daten gesammelt werden.« Denn nur mit eindeutigen Informationen, die die negativen Auswirkungen des menschlichen Einflusses auf die Tiere beweisen, lasse sich der Druck auf die Politik erhöhen, sagt Naturschützer Koch.

»Pottwale sind Tieftaucher. Wenn die ins flache Wattenmeer kommen, verlieren sie komplett ihre Orientierung«Lothar Koch, Biologe

Und genau deshalb wurde er bei dem oben erwähnten gestrandeten Zwergwal am Rantumer Strand auf ein kleines Detail aufmerksam. An dem am Tier hängenden Fangkorb war ein rotes Gummiband mit folgender Beschriftung angebracht: »MCBRIDE Fishing 0005816«. »Diese Bezeichnung ließ sich zu einem irischen Fischereiunternehmen zurückverfolgen«, erzählt Koch. Erst dachten er und seine Mitstreiter, dass der Wal von Irland bis in die Nordsee gedriftet war.

»Ein Kollege von mir hat aber weiter recherchiert und festgestellt, dass diese irische Firma tatsächlich vor Sylt direkt an der Zwölf-Seemeilen-Grenze nach Krebsen fischt.« Dort endet das Walschutzgebiet des Nationalparks Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer. Unmittelbar angrenzend liegt das Bundes-Meeresschutzgebiet Sylter Außenriff, wo vor einigen Jahren die Schleppnetzfischerei verboten wurde, weil sie den Meeresboden stark schädigt. »Die irischen Krebsfischer erkannten diese Lücke und begannen, in großem Umfang ihre Reusen aufzustellen – offenbar mit fatalen Folgen für Großwale«, sagt Koch.

»Der Tod des Sylter Zwergwals hat wahrscheinlich keine direkten rechtlichen Konsequenzen«, vermutet Koch. Solche Informationen würden allerdings den Druck auf die politischen Entscheidungsträger erhöhen. Naturschutzverbände fordern schon lange, dass Fischereimethoden, die Wale gefährden, verboten werden – insbesondere in der Nähe von Meeresschutzgebieten.

Und war auch das Buckelwalkalb in den USA durch menschliche Einwirkung gestrandet? Wahrscheinlich nicht. Mehrere Rettungsversuche blieben erfolglos, und der junge Wal starb in der Nacht. Am nächsten Tag wurde er zum Hafen geschleppt, dort mit einem Kran vorsichtig aus dem Wasser gehoben und auf einen Lkw verladen.⁠ Die Nekropsie ergab zwar Anzeichen für ein Trauma durch die Strandung, doch sonst schien das Tier gesund und in guter körperlicher Verfassung gewesen zu sein.⁠ Vermutlich hatte es schlichtweg seine Mutter verloren und sich an die Küste verirrt.

»Das war eine sehr intensive und traurige Erfahrung«, sagt Brandkamp. »Ich bin aber sehr dankbar dafür, dass wir vor Ort waren und dem Tier beim ›Übergang‹ beistehen konnten.« Das Buckelwalkalb war ihre erste Walstrandung – und sicher nicht die letzte. Wann auch immer der nächste Anruf kommt, sie ist bereit. Brandkamp nimmt ihr Notfalltelefon und verabschiedet sich.

*Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es »Japan«. Tainan liegt aber in Taiwan. Wir haben den Fehler korrigiert.

Weshalb Wale stranden – die wichtigsten Gründe:

Die Ursachen für Walstrandungen sind vielfältig – und oft lässt sich nicht eindeutig klären, warum ein Tier an Land gespült wird. In vielen Fällen spielen gleich mehrere Faktoren zusammen. Die folgenden Punkte zeigen die wichtigsten möglichen Gründe (abgesehen von Krankheit und Altersschwäche), auch wenn einige davon bislang nur Vermutungen sind.

Unterwassergeografie: Flache Küstenregionen mit langsam abfallendem Meeresboden, Wattflächen, Rinnen oder ungewöhnliche Unterwasserstrukturen stören die Echoortung von Zahnwalen. Insbesondere bei starken Gezeiten können sie so unbeabsichtigt in seichtes Wasser manövrieren – und gerade Tieftaucher wie Pottwale geraten dadurch schnell in lebensbedrohliche Situationen.

Sozialverhalten: Wale leben oft in engen Sozialverbänden. Wenn ein Tier krank, verletzt oder desorientiert ist, folgen ihm manchmal andere Artgenossen ins flache Wasser. Man vermutet, dass dieses Gruppenverhalten zu Massenstrandungen führen kann, gerade bei Grind- oder Pottwalen.

Lärmbelastung: Schiffe, Sonare, Ölbohrplattformen oder seismische Untersuchungen erzeugen Lärm, der die akustische Orientierung der Wale massiv stören kann. Sie verirren sich und können sogar in panikartiges Fluchtverhalten verfallen. In der Folge enden die Tiere mitunter in zu flachem Wasser.

Fischerei: Wale verfangen sich in Fischereileinen oder Stellnetzen. Besonders gefährlich sind vertikale Leinen etwa für den Hummer- oder Krabbenfang. Die Meeressäuger ertrinken oder erliegen ihren Verletzungen und werden tot an Land gespült.

Kollision mit Schiffen: Vor allem in vielbefahrenen Meeresregionen kommt es regelmäßig zu Kollisionen zwischen Walen und Schiffen. Die Tiere erleiden dabei häufig schwere innere Verletzungen oder Knochenbrüche. Etliche solcher Unfälle enden für die Tiere tödlich und führen zu Strandungen der Kadaver.

Giftstoffe: Chemische und pharmazeutische Giftstoffe reichern sich im Fettgewebe von Walen an. Das kann ihr Immun- und Hormonsystem beeinträchtigen und sie anfälliger für Krankheiten und Parasiten machen. Solche geschwächten Wale enden vermehrt an Land – tot oder noch lebendig.

Klimawandel und Nahrungsverlagerung: Infolge des Klimawandels verändern sich Wassertemperaturen und Strömungen. Das wirkt sich auch auf die Nahrungsverteilung im Meer aus. Wale könnten ungewohnte Routen einschlagen, um neue Jagdgründe zu erschließen, und sich dabei verirren.

Sonnenstürme: Sonnenaktivität, insbesondere Sonnenstürme, stören das Magnetfeld der Erde. Womöglich kann das die Orientierung der Meeressäuger ebenfalls beeinträchtigen. Zumindest fanden sich Hinweise darauf, dass eine erhöhte Sonnenaktivität mit einer höheren Wahrscheinlichkeit für Strandungen von Pottwalen korreliert.

Fehlender Wissenstransfer: Durch den industriellen Walfang im 20. Jahrhundert wurden viele ältere Tiere getötet. Möglicherweise fehlt es innerhalb der Gruppen seither an erfahrenen Individuen, die ihr Wissen weitergeben – beispielsweise Informationen über sichere Wanderrouten. Diese »Lernlücke« könnte zu Navigationsfehlern führen, vor allem bei jungen Bullen.

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  • Quellen

Desforges, J.-P. et al., Environmental International 10.1016/j.envint.2015.10.007, 2016

Nachtsheim, D. et al., Frontiers in Marine Science 10.3389/fmars.2020.606609, 2017

Ormeus, M. et al., Journal of Heredity 10.1093/jhered/est007, 2013

Perrin, W., Geraci, J., Encyclopedia of Marine Mammals 10.1016/B978–0-12–373553–9.00256-X, 2009

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