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Streit über Rewilding: Ein Bärendienst für Luchse

Seitdem vier Luchse heimlich in den schottischen Highlands ausgesetzt wurden, streitet Großbritannien über Renaturierung. Wer darf über Land bestimmen? Und warum sticht die Schafzucht alles aus?
Ein Luchs steht im Schnee, umgeben von kahlen Ästen, in einem nächtlichen Wald. Der Luchs blickt in Richtung Kamera, während ein Lichtstrahl ihn beleuchtet. Die Szene vermittelt eine ruhige, winterliche Atmosphäre in der Wildnis.
Mit einem gewaltigen Aufgebot an Wildhütern und Polizisten wurde dieser Luchs aufgespürt und eingefangen. Hinter der illegalen Freilassung stehe wohl die Absicht, »ein Statement zu setzen«, sagen Experten.

Vorsichtig und sichtlich verstört stapft der Luchs durch den tiefen Schnee des Cairngorms-Nationalparks in den schottischen Highlands, bleibt genau im Lichtkegel einer Taschenlampe stehen, keine zwei Meter entfernt von den Zoologen, die ihm leise zureden. Ganz offensichtlich ist das Tier an Menschen gewöhnt. Als die Kamera erneut angeht, sitzt der Luchs bereits in einem Käfig auf der Ladefläche eines Pickups.

Das verwackelte Handyvideo stammt von der Royal Zoological Society of Scotland (RZSS) und ist Anfang Januar entstanden. Es dokumentiert das vorläufige Ende eines Vorfalls, der zurzeit wie kein anderer auf der Insel die Debatte um die Auswilderung großer Räuber aufheizt.

Mit Hilfe ihrer Kamerafallen war die RZSS einen Tag zuvor auf zwei augenscheinlich zahme Eurasische Luchse (Lynx lynx) aufmerksam geworden, die in der Nähe des Dorfs Drumguish die Randgebiete des Nationalparks durchstreiften. Die Raubkatzenart gilt in ganz Großbritannien seit etlichen Jahrhunderten als ausgestorben – ausgemerzt durch Jagd und Habitatsverlust. Mit einem massiven Aufgebot von Wildhütern und Polizei gelang es schließlich, auch das zweite Tier einzufangen.

Was war geschehen? Woher stammten diese Luchse? Ganz offensichtlich nicht aus einer wilden Population, denn die gibt es auf der Insel nicht mehr. Auch wären die Tiere dann nicht so vertraut mit Menschen gewesen. Und ausgebüxt waren sie ebenfalls nicht, denn kein Wildpark meldete sie als vermisst. Irgendjemand – bis heute ist unklar, wer – muss die zwei Tiere in die freie Wildbahn entlassen haben.

Drei von vier Luchsen überlebten

Noch bevor sich die Wogen glätten konnten, gab es die nächste Aufregung: Zwei weitere Luchse spazierten vor die Kameras der RZSS. Auch sie wurden bald eingefangen. Drei dieser insgesamt vier Luchse sind inzwischen an einen Zoo überführt worden, der vierte starb, vermutlich wegen einer Kombination aus Stress und Unterernährung.

Aufmerksamkeit und Kontroverse sind gemessen an dem eigentlichen Ereignis ungewöhnlich groß. Trotz geringer Gefahr erhält die Polizei Anrufe von verängstigten Anwohnern und gibt daraufhin Sicherheitshinweise heraus: Menschen sollten sich von den betroffenen Gebieten fernhalten. Die großen britischen Medien berichten ausführlich, die BBC sogar mit Liveschaltungen in die Highlands. Wildtierexperten wundern sich über diesen gewaltigen Aufwand, mit dem die relativ ungefährlichen Tiere in einem abgelegenen Gebiet verfolgt werden. Medien und Landwirte spekulieren über die Hintergründe der mysteriösen Nacht-und-Nebel-Aktion, die »Times« hat schnell illegal vorgehende Umweltaktivisten im Verdacht. Und immer wieder geht es im Streit weniger um die vier Luchse als um Grundsätzliches.

Eine positive Seite kann Ben Goldsmith dem Ganzen abgewinnen: »Für einen kurzen Moment beherrscht eine der symbolträchtigsten ausgestorbenen Arten Großbritanniens die nationale Debatte – und das kann nur eine gute Sache sein«, sagt der prominente Bankier, Autor und Umweltaktivist.

Goldsmith ist dafür bekannt, so genannte Rewilding-Projekte zu unterstützen und zu finanzieren. Bei diesen Vorhaben soll zerstörte Natur in einen gesunden Zustand zurückversetzt werden, auch dadurch, dass man ökologisch nützliche Tierarten ansiedelt, die einst dort heimisch waren. »Die Rückkehr von Luchsen könnte Schottlands überweidete Landschaft wieder herstellen und die Hirschpopulation auf natürliche Weise regulieren«, sagt Goldsmith. Als ehedem hochrangiger Berater im britischen Umweltministerium (DEFRA) hat Goldsmith allerdings auch den Widerstand kennen gelernt, den einflussreiche Interessengruppen gegen solche Renaturierungsvorhaben leisten: »Eine kleine, organisierte ländliche Kaste blockiert diese Vorhaben in jeder Form.«

Landwirte teilen gegen »Kriminelle« aus

Die angesprochenen Gruppen sehen das freilich ganz anders und fühlen sich massiv in ihren Interessen bedroht. In einer wütenden Reaktion auf die Entdeckung der Luchse fordert der Berufsverband schottischer Landwirte NFU Scotland »null Toleranz gegenüber Kriminellen«. Die eigenen Mitglieder hätten schon lange vorausgesehen, dass man es eines Tages mit »illegalem Rewilding« zu tun bekommen werde. Dabei sind bislang weder Täter noch Motiv bekannt. Trotzdem verkündet Schottlands Erster Minister John Swinney beim Jahrestreffen der NFU Scotland im Februar eine Absage an die Wiederansiedlung großer Beutegreifer: »Meine Regierung wird keine Luchse, oder irgendeine andere große Raubtierart, in Schottland wieder einführen.«

Frustriert und zu Unrecht verdächtigt zeigen sich jene Umweltinitiativen, die den Luchs legal und durch offenen Diskurs aller gesellschaftlichen Gruppen nach Schottland zurückbringen möchten. Die Vorfälle könnten ihren Plänen einen Bärendienst erwiesen haben. »Das war nicht Rewilding – das war einfach die illegale Aussetzung von Tieren«, sagt Steve Micklewright, dessen Umweltschutzgruppe Trees for Life der Luchs-Allianz Lynx to Scotland angehört.

Abgeholzt und abgeweidet | In prähistorischer Zeit war Schottland teils von dichten Wäldern bedeckt. Doch der Hunger nach Holz und die Schafzucht haben eine karge Landschaft geschaffen, mit oftmals nur kleinen Baumplantagen.

Für die heftige Reaktion in der Öffentlichkeit macht er eine Mischung aus Angst und Desinformation verantwortlich: »Die Menschen sind mit Luchsen nicht mehr vertraut. Da können Mythen und Missverständnisse wissenschaftliche Fakten verdrängen.« Das mache die wachsenden Auseinandersetzungen um eine Rückkehr des Luchses schwieriger, als sie sein müssten.

Rewilding polarisiert, denn es geht meist nicht nur um vier Luchse oder eine Herde Wisente, sondern um die Frage, wie eine Gesellschaft mit der Bedrohung ihrer Natur und Biodiversität umgehen möchte, welche Ängste damit verbunden sind und welche politischen und wirtschaftlichen Interessen davon berührt werden. Fachleute haben zwei Hauptströmungen im Rewilding-Diskurs identifiziert: Während einige Verfechter eine radikale Rückkehr zur Wildnis fordern, setzen andere auf pragmatische Lösungen, die mit bestehenden Landnutzungen vereinbar sind.

Einer der führenden britischen Experten für die Wiederansiedlungen von großen Beutegreifern ist David Hetherington, der für den Cairngorms-Nationalpark vernetzte Naturschutzkonzepte erarbeitet, die auch die Interessen der lokalen Bevölkerung berücksichtigen. Er beschreibt Rewilding als einen langwierigen Prozess der Veränderung – nicht allein der Natur, sondern auch der Menschen, die ihre Vorstellungen der natürlichen Umgebung und ihre Ängste überdenken müssten. »Für manche verheißt die Rückkehr großer Raubtiere, dass wir Fehler aus der Vergangenheit rückgängig machen; für andere, dass wir die alten Konflikte neu heraufbeschwören«, schreibt Hetherington in seinem Buch »The Lynx and Us« (»Der Luchs und wir«).

Der Luchs gilt als weniger kompliziert

Dabei gilt der Luchs noch als die vergleichsweise unkomplizierteste Art für die Wiederansiedlung. Im übrigen Europa zählt die Katze deswegen schon als Rewilding-Schlüsselart. Anders als Wölfe oder Bären stellt sie kaum eine Bedrohung für den Menschen dar, nur in extremen Ausnahmefällen attackiert ein Luchs einen Menschen. Und auch der Schaden, den die Räuber unter Nutztieren anrichten, ist überschaubar. Studien aus der Schweiz, Frankreich oder Schweden zeigen, dass Verluste durch Herdenschutzmaßnahmen minimiert werden können, zum Beispiel durch Elektrozäune oder Hirtenhunde. In der Schweiz und Frankreich reißt ein einzelner Luchs laut Statistiken pro Jahr nur zwischen 0,3 und 2,84 Schafe. Zum Vergleich: 2024 verendeten in der Schweiz insgesamt 56 838 Schafe ungewollt (Schlachtung ausgenommen) – die meisten durch Krankheiten, Parasiten, Unfälle, extreme Wetterbedingungen oder mangelnde Betreuung.

»Für manche verheißt die Rückkehr großer Raubtiere, dass wir Fehler aus der Vergangenheit rückgängig machen; für andere, dass wir die alten Konflikte neu heraufbeschwören«David Hetherington, Naturschutzbiologe

Dem gegenüber steht der ökologische Nutzen, den die Raubkatze bringt. In Schottland lassen rund eine Million Hirsche und Rehe dem Wald keine Chance auf natürliche Verjüngung, es ist die europaweit mit Abstand höchste Populationsdichte, daran konnten nicht einmal die Keulungsquoten von derzeit 100 000 Individuen pro Jahr etwas ändern. Der Luchs könnte, wie andernorts auch, einen gewissen Beitrag zur Bestandsregulation leisten – und damit zur Genesung des Waldes.

Schottland bietet zwei mögliche Lebensräume für den Luchs. Der kleinere erstreckt sich über den Süden bis zur Grenze Englands, der größere eröffnet den Tieren mehr als 15 000 Quadratkilometer zusammenhängende Waldfläche in den Highlands. Langfristig könnten hier bis zu 400 Luchse leben. Dies wäre die fünftgrößte Luchspopulation Europas.

Sollten künftige Regierungen doch noch eine geplante, legale Auswilderung zulassen, dann aber »schrittweise und sorgfältig überwacht, wobei man sicherstellen würde, dass alle Interessengruppen gehört werden«, betont Micklewright von Lynx to Scotland. Doch dieser Prozess ist nicht nur gründlich, sondern auch langsam. Das ruft Kritiker auf den Plan. Derek Gow, einer der bekanntesten Rewilding-Aktivisten Großbritanniens, hält wenig von bürokratischen Hürden und politischen Verzögerungen. »Wenn man immer nur die Regeln befolgt, wird sich nie etwas ändern«, sagt Gow. Der ehemalige Schafzüchter betreibt heute eine etwa 120 Hektar große Rewilding-Farm in Devon im Südwesten Englands, wo er sich auf die Wiederansiedlung von Schlüsselarten konzentriert. Dazu gehören Biber, Wildkatzen, Störche, Wasseramseln und so genannte Iron Age Pigs, Kreuzungen von Haus- und Wildschwein. In Anspielung auf die Vorfälle von Januar sagt der Aktivist: »Diese Freilassung der Luchse in Schottland ist das Symbol für ein vollkommen gescheitertes System – eines, in dem es keine politische Unterstützung gibt, in dem Naturschutzverbände schwach und unorganisiert sind und in dem eine entschlossene Opposition jede Veränderung blockiert.«

Die Naturschutz-Guerilla zündet die Biberbombe

Gow steht einer Bewegung nahe, die manche als »Guerilla Rewilding« bezeichnen: Dabei geht es um die illegale oder halblegale Freisetzung von Wildtieren oder auch Pflanzen in Regionen, in denen sie einst heimisch waren. Das bekannteste Beispiel ist das »Beaver Bombing«, bei dem Biber ohne offizielle Genehmigung ausgesetzt wurden – mittlerweile leben schätzungsweise rund 1800 der Tiere in Großbritannien, oft aus inoffiziellen Freisetzungen. Dort, wo sie gedeihen, hat sich die Natur nachweislich erholt. Wenn auch mitunter auf Kosten eines Farmers, seiner Weide oder eines Baumbestands, der vom Biber unter Wasser gesetzt wurde.

Auch für das Auftreten der vier prominent gewordenen Luchse werden solche Guerillakampagnen verantwortlich gemacht, trotz fehlender Beweise. Solche illegalen Freisetzungen kämen allerdings häufiger vor als gemeinhin angenommen, sagt Darragh Hare. Der schottische Wissenschaftler erforscht an der University of Oxford, wie Gesellschaften über Wildtierschutz und -management streiten. »Es gibt Menschen, die keine Geduld mehr haben. Sie glauben, dass offizielle Prozesse zu langsam, zu bürokratisch und zu risikoscheu sind – also handeln sie einfach.«

Legaler Biber | Nicht nur durch »Beaver Bombing«, auch dank offizieller Wiederansiedlungsbemühungen ist der Biber nach Schottland zurückgekehrt. Die Dämme der Nager verbessern unter anderem den Wasserhaushalt in der Landschaft.

Nur selten ist die Aufregung danach so groß wie im Fall der Luchse, meist nimmt die Öffentlichkeit kaum Notiz. »Es geht zum Beispiel um Pilze, Pflanzen, Insekten, kleine Säugetiere wie Baummarder oder Biber«, sagt Hare. Der Forscher glaubt auch nicht, dass es bei der Aussetzung der Luchse darum ging, die Grundlage für eine Population zu schaffen. »Meiner Meinung nach war die Absicht eher, ein Statement zu setzen.«

Wissenschaftliche Studien mahnen zu gründlicher Planung, wenn es um die Umsiedlung von Raubtieren geht. Seth Thomas von der University of Oxford analysierte mit seinen Kollegen 297 Wiederansiedlungen von Raubtieren in 22 Ländern und fand klare Muster: Konnten sich die Tiere vorher eingewöhnen, lag die Erfolgsrate bei 82 Prozent, andernfalls nur bei 60 Prozent. Junge oder in freier Wildbahn geborene Tiere überlebten deutlich besser als ältere oder in Gefangenschaft aufgewachsene – wie jene Luchse, die in Schottland ausgesetzt wurden.

Fehlende Akzeptanz führt zu Sabotage

Zwar sind mit der Erfahrung auch die Erfolgsquoten gewachsen, doch selbst heute scheitert laut der Untersuchung jedes dritte Wiederansiedlungsprojekt, oft weil soziale und ökologische Faktoren nicht berücksichtigt werden: »Wenn man etwas so Kontroverses unternimmt wie die Rückführung von Bibern, Luchsen oder Wölfen, dann muss das mit Zustimmung der Menschen geschehen, die am meisten davon betroffen sind«, bekräftigt auch Hare. Diese Akzeptanz sei nicht nur eine Frage des Respekts gegenüber ländlich geprägten Gemeinden, sondern auch entscheidend für den praktischen Erfolg. »Illegale oder nicht abgestimmte Maßnahmen sind weit weniger erfolgversprechend. Die Gefahr von Vergeltung ist hoch – sei es durch das Töten der wiederangesiedelten Tiere oder andere Maßnahmen, um das Projekt zu sabotieren«, erklärt der Schotte.

»Es herrscht im Allgemeinen große Unsicherheit darüber, was eine Wiederansiedlung tatsächlich bedeutet«, erklärt Jonny Hanson, Umweltsozialwissenschaftler an der Queen's University Belfast, der regelmäßig Informationsabende zum Thema Wiederansiedlung organisiert. »Viele Landwirte fragen: Was wird sich verändern? Wie viele Schafe werden wir verlieren? Wie zuverlässig ist die Entschädigung? Wer trifft die Entscheidungen?« Das Problem: Wissenschaftlich korrekte, ausgewogene Antworten auf diese Fragen zu geben, ist alles andere als einfach.

Hanson erinnert an die immer wieder gern erzählte Geschichte von den Wölfen im Yellowstone-Nationalpark. Dort soll die Wiederansiedlung des Raubtiers nachweislich alten Landschaftsformen zu einem Comeback verholfen haben, weil die Wölfe die Wildpopulation kleinhielten. »Die Geschichte klingt gut, aber sie ist eine Vereinfachung. In Wirklichkeit hängen die Auswirkungen davon ab, wie aktiv Menschen die Landschaft nutzen«, sagt Hanson. Die Wiederansiedlung von Luchsen könnte langfristig helfen, Hirschbestände zu regulieren und Ökosysteme zu stabilisieren, aber das kann dauern. Hinzu kommt die wirtschaftliche Unsicherheit. Es mag ja stimmen, dass Luchse nur sehr wenige Schafe pro Jahr reißen – doch was bedeutet das für einen einzelnen Betrieb? Besonders für einen, der nur eine kleine Herde hält?

Wilde Luchse in Deutschland | Rund zwei Dutzend Luchse leben in den Nationalparks Bayerischer Wald und Šumava auf tschechischer Seite. Ihre Rückkehr begann ebenfalls mit einer inoffiziellen Auswilderung in den 1970er Jahren. Damals wurden vermutlich fünf bis sieben Tiere frei gelassen.

Findet sich nicht auch ein (finanzieller) Vorteil?

Am Ende aber sind die nackten Zahlen oft gar nicht so wichtig. Landwirte fühlten sich bevormundet, sagt Hanson: »von Politikern, von Wissenschaftlern, von Stadtbewohnern, die die Realität auf dem Land nicht verstehen«. Der wahrgenommene Kontrollverlust sei das eigentliche Problem, nicht das Raubtier selbst – sondern das Gefühl, dass die Grundlage der eigenen Existenz und die angestammte Lebensweise bedroht wird.

Speziell seit dem Brexit kämpfen britische Landwirtinnen und Landwirte mit wirtschaftlicher Unsicherheit, veränderten Agrarsubventionen und neuen Handelsabkommen. Und nun auch noch mit dem Luchs.

In einer Studie hat Hanson mit Beispielen aus den USA, der Schweiz und den Niederlanden gezeigt, dass ein Konsens oder zumindest Akzeptanz möglich ist, wenn Landwirte in Entscheidungsprozesse eingebunden werden und finanzielle Anreize erhalten. Dabei sollten diese idealerweise nicht allein aus Entschädigungen bestehen, findet Darragh Hare. Der Luchs müsse von einer Belastung in einen wirtschaftlichen Vorteil verwandelt werden. Beispielsweise indem Bauern einen Aufpreis für luchsfreundliche Wolle oder luchsfreundliches Lammfleisch verlangen.

Rewilding auf Samtpfoten. Manch britischer Umweltschützer kann bei so viel Kompromissfreude nur den Kopf schütteln. Peter Cairns, dessen Rewilding-Organisation »Scotland: The Big Picture« ebenfalls Teil der Lynx-to-Scotland-Allianz ist, bringt den Grundkonflikt auf den Punkt: »Mein Problem mit der Schafzucht ist nicht, dass es sie gibt, sondern dass ihre Interessen jede noch so kleine Veränderung auszustechen scheinen«, schreibt Cairns auf dem sozialen Netzwerk LinkedIn, als sei die Biodiversitätskrise nur lästig und die Schafzucht das eigentlich schützenswerte Gut.

Mit Abstand höchste Populationsdichte | In Schottland leben heute mehr Rothirsche und Rehe, als der Natur guttut. Gründe dafür sind das Fehlen von Räubern, aber auch die Interessen der Jagdlobby.

Überweidung auf Kosten des Steuerzahlers

Zumal die Schäferei in Schottland in großem Stil die Umwelt geschädigt hat und sogar nach Aussage der eigenen Interessenverbände nur dank hoher Subventionen überlebensfähig ist, wie Kritiker gerne herausstellen. »Wenn sie weiter Schafe halten wollen, dann sollen sie das tun – aber sie sollten ihr eigenes Geld dafür ausgeben, nicht das der Steuerzahler«, sagt Rewilder Gow. Ein Bericht des britischen Parlaments belegt, dass Schafweiden in Hochlandgebieten zu Entwaldung, Wassererosion und Biodiversitätsverlust beitragen. Ohne natürliche Vegetation fehlt es an Wurzeln, die Wasser speichern, was das Risiko von Überschwemmungen erhöht. Und auch der Wald schafft es dank des Appetits von Schafen, Rehen und Hirschen nicht auf die Insel zurück. Während nach Angaben der schottischen Regierung 38 Prozent der Europäischen Union von Wald bedeckt sind, sind es in Schottland nur noch 18 Prozent, wobei wirkliche Altwälder dabei gerade einmal 2,5 Prozent ausmachen. »Wenn wir so weitermachen, werden wir am Ende auf einem Planeten voller Tauben und Hunde sitzen – auf der ausgetretenen Kruste unserer eigenen Exkremente«, klagt Gow.

Dennoch ist der Rückhalt für Landwirte in der Bevölkerung Schottlands nach wie vor groß. Eine Umfrage der schottischen Regierung ergab, dass 86 Prozent der Befragten Landwirtschaft für den Erfolg der schottischen Wirtschaft als unerlässlich sehen und 83 Prozent sie als einen wichtigen Dienst an der Allgemeinheit betrachten. Gleichzeitig findet aber auch Rewilding in Schottland Unterstützung. Mitte Februar 2025 veröffentlichte die Lynx-to-Scotland-Initiative eine neue Meinungsumfrage, in der man eine direkte Reaktion auf die Aussagen des schottischen Regierungschefs Swinney sehen kann. Die von Survation durchgeführte Erhebung zeigt, dass inzwischen 61 Prozent der Schotten die Wiederansiedlung des Luchses befürworten – ein Anstieg um 9 Prozentpunkte seit 2020. Die Ablehnung sank im gleichen Zeitraum von 19 auf 13 Prozent. Die Zahlen zeigen, dass es kein einfaches Schwarz-Weiß-Schema zwischen Landwirtschaft und Rewilding gibt. Forscher wie Darragh Hare und Jonny Hanson betonen, dass Zustimmung zur Schafzucht und Unterstützung für Rewilding sich nicht gegenseitig ausschließen müssen. Die Vorstellung, dass es zwei Lager gebe – Landwirte auf der einen, Naturschützer auf der anderen Seite –, sei viel zu simpel.

»Green Lairds« machen Umweltschutz zum Privatprojekt

Auf der Website »Who Owns Scotland« kann sich jeder durch eine Karte des Landes klicken und herausfinden, wer der Eigentümer eines Fleckchens Erde ist. Wem gehört also Schottland – und wer hat die Macht, über die Zukunft zu entscheiden? Laut der Datenbank besitzen nur 433 private Eigentümer rund die Hälfte aller ländlichen Gebiete, darunter Adelsfamilien, ausländische Investoren und wohlhabende Unternehmer. »Das ist eine enorme Konzentration von Besitz, nirgendwo sonst in Europa ist sie so hoch«, sagt Hare. Viele dieser Flächen wurden über Jahrhunderte für Jagd und Viehzucht genutzt, mit wenig Rücksicht auf ökologische Belange.

Rewilding verändert dieses Machtgefüge. »Green Lairds« – benannt nach dem alten schottischen Wort für Großgrundbesitzer – sind umweltbewusste Investoren, die durch eigenes Vorpreschen einen Wandel erreichen wollen. Sie kaufen Ländereien auf und verwirklichen dort ihre Vorstellung von Nachhaltigkeit und Renaturierung. Für Fans sind sie Helden, für Kritiker machen sie aus dem Rewilding-Gedanken ein Projekt reicher Eliten, das die Menschen vor Ort übergeht.

Aber wenn sie Biber aussetzen, die Hirschbestände reduzieren und tausende Bäume pflanzen, nutzen sie dann nicht einfach dieselbe Macht, die viele bisherige Großgrundbesitzer ebenfalls für sich in Anspruch genommen hatten, um ihr Land zu verändern – und das noch auf eine Weise, die sich heute in vielerlei Hinsicht als umweltschädlich und damit nachteilig für die Allgemeinheit erwiesen hat?

Die drei Luchse, die das Drama im Cairngorms-Nationalpark überlebten, haben im Edinburgh Zoo inzwischen eine neue Heimat gefunden. Ihre nur sehr kurze Rückkehr als Art in den schottischen Highlands hat gezeigt, wie tief Konflikte über Natur und Biodiversität in Großbritannien reichen. »Die Debatte über den Luchs ist nicht nur eine Debatte über den Luchs. Sie ist Teil viel größerer, viel älterer politischer Auseinandersetzungen: darüber, wer entscheidet, wer die Kontrolle darüber hat, was auf dem Land passiert, und wessen Stimme gehört wird«, sagt Darragh Hare. Und um die Vorstellungen darüber, was das Land sein soll – und für wen.

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