Rituelle Gewalt oder Verschwörungstheorie: Kindesmissbrauch durch satanistische Sekten?

Gespaltene Persönlichkeit und rituelle Gewalt
Hinter der Diagnose »dissoziative Identitätsstörung«, früher »multiple Persönlichkeitsstörung«, stehen oft Menschen, die von extremer Gewalt in der Kindheit berichten – auffallend viele sprechen von Misshandlungen durch satanistische Geheimbünde. Während einige Psychotherapeuten darin den Grund für die innere Spaltung sehen, zweifeln andere Fachleute die Geschichten an und warnen vor falschen Erinnerungen. Spektrum.de widmet der Debatte ein zweiteiliges Dossier:
Multiple Persönlichkeit: Die wichtigsten Fakten zur dissoziativen Identitätsstörung
Zwei Frauen sitzen sich gegenüber, und das ist schon ein kleines Wunder. Mary Knight, eine US-amerikanische Sozialarbeiterin, veröffentlichte 2022 einen Dokumentarfilm mit dem Titel »Am I crazy? My journey to determine if my memories are true« (deutsch: Bin ich verrückt? Meine Reise, um zu bestimmen, ob meine Erinnerungen wahr sind). Die Person auf der anderen Seite ist Elizabeth Loftus, Psychologin und eine der bekanntesten Gedächtnisforscherinnen unserer Zeit. In Knight waren, als sie mit 37 Jahren eine Hypnotherapie machte, grauenhafte Bilder der Vergangenheit aufgestiegen: von jahrelangem satanistisch-rituellem sexuellem Missbrauch durch ihre Eltern und Mitglieder ihrer Kirchengemeinde. Loftus wiederum forscht seit Jahrzehnten zum Phänomen »falsche Erinnerungen« und warnt davor, solche angeblichen Gedächtnisfunde vorschnell als wahr zu werten.
Dass Menschen mit wiederentdeckten Erinnerungen mit ihr sprechen wollen – das sei neu für sie, sagt Loftus zu Beginn des Gesprächs. Eine neue Erfahrung für uns beide, ergänzt Knight daraufhin. So viel sei vorweggenommen: Die beiden werden sich bei ihrer Begegnung nicht einig in der Frage, ob Knights Visionen historische Wahrheit oder Hirngespinste sind.
Trotzdem ist der sachliche Austausch der beiden Frauen beachtlich. Warum? Weil die Fronten beim Thema rituelle sexualisierte Gewalt seit Jahrzehnten verhärtet sind – und die Debatte entsprechend aufgeheizt. Auf der einen Seite stehen die Schilderungen von Menschen, die von schwerem körperlichem, sexuellem und psychischem Missbrauch durch weitverzweigte Netzwerke berichten. Dabei ist auch die Rede von brutalen Kindstötungen – dem Mord an Babys, deren Mütter angeblich allein zu diesem Zweck zur Schwangerschaft gezwungen wurden. All das soll im Rahmen okkulter, oft als »satanistisch« bezeichneter Rituale stattgefunden haben – mit sexuellen Übergriffen auf meist junge Opfer, mit Trinken von Blut, Urin oder Sperma, mit Gewaltexzessen und der Verstümmelung von Tieren und Menschen. Oft, so berichten Betroffene, würden die Taten gefilmt und als kinderpornografisches Material verkauft. Teilweise seien ganze Familien in die Grausamkeiten verstrickt, und das über Generationen hinweg. Die Täter, so heißt es, seien bis in höchste gesellschaftliche Kreise hinein vernetzt. Betroffene würden durch Manipulation und Erpressung zum Schweigen gebracht. Es gebe ausgeklügelte Kontrollmechanismen, mit denen Täter ihre Opfer gefügig machten – darunter Drogen, Hypnose und vor allem psychologische Konditionierung.
Schwere Gewalterfahrungen im Kindesalter, so heißt es in vielen Berichten, könnten zu einer Aufspaltung der Persönlichkeit führen – mit »programmierten« täterloyalen Anteilen und fehlenden Erinnerungen an das Erlebte. Öffentliches Interesse an solchen Erzählungen kam erstmals in den USA der 1980er Jahre auf, rund ein Jahrzehnt später griff die Debatte auch auf Europa und schließlich auf Deutschland über. Aufseiten der mutmaßlich Betroffenen positionieren sich einige Traumatherapeutinnen und -therapeuten, etwa die Deutsche Michaela Huber oder die Kanadierin Alison Miller. Beide haben zahlreiche Bücher zur therapeutischen Arbeit mit Opfern ritueller Gewalt verfasst, die heute als Standardwerke gelten. In Deutschland engagieren sich zudem Vereine und Organisationen für Aufklärung und Forschung zu dem Thema. Die Bundesregierung hat 2010 das Amt der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs eingerichtet, aus dem später auch die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hervorging. Beide Institutionen befassen sich mit ritueller Gewalt – unter anderem durch das Sammeln anonymer Betroffenenberichte über ein Onlineportal. Bücher wie »Lukas – Vier Jahre Hölle und zurück« und Berichte in etablierten Medien wie Deutschlandfunk, ARD oder »taz« beleuchten das Thema aus Perspektive der Opfer und schildern deren Schicksale.
Auf der anderen Seite stehen von Beginn an auch kritische Stimmen, deren Zweifel bis hin zur Einordnung als Verschwörungstheorie reichen. Der Grund: Immer wieder blieben umfangreiche staatliche Ermittlungen in verschiedenen Ländern ohne Beweise – man fand keine Hinweise auf Täter, geschweige denn belastendes Videomaterial. In den USA sorgte etwa der McMartin-Vorschul-Prozess in den 1980er Jahren für Aufsehen: Das Personal einer kalifornischen Kindertagesstätte war beschuldigt worden, seine Schützlinge in einem unterirdischen Tunnelsystem rituell missbraucht zu haben. Nach einer der längsten und teuersten Ermittlungen in der US-Geschichte wurden 1990 alle Angeklagten freigesprochen. Der Fall markiert den Höhepunkt der sogenannten »satanic panic«, einer moralischen Massenhysterie, die Ende des 20. Jahrhunderts vor allem die USA erfasste. Kritiker sehen in der »satanic panic« ein gesellschaftliches Klima der Angst, das durch religiösen Fundamentalismus, Medienberichte und suggestive Psychotherapiemethoden befeuert wurde.
In den 1990er Jahren beauftragte das FBI den Sonderermittler Kenneth Lanning damit, die bisherige Evidenz zu ritueller Gewalt systematisch zu prüfen. Sein Fazit: Trotz ausführlicher Analyse jedes einzelnen Falls ließen sich keine Belege für die geschilderten Taten finden. Auch die Vorwürfe aus dem deutschen Dokumentarfilm »Höllenleben« führten zu umfangreichen polizeilichen Nachforschungen – ohne Ergebnis. Zwei Journalistinnen recherchierten daraufhin noch drei Jahre weiter an dem Fall, ebenfalls ohne Erfolg.
Bilder von Satanskulten haben sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt
Das Ausbleiben kriminologischer Evidenz führte zumindest in den USA zu einer neuen Einordnung der Betroffenenberichte. Kulturwissenschaftliche Theorien sehen Anschuldigungen über satanistische Ritualmorde als Folge einer Stimmungsmache politisch aktiver konservativer Christen, die in den 1980er Jahren versucht hätten, die Gegenkultur der Jugend als teufelsanbeterisch zu verunglimpfen. Filme wie »Rosemary's Baby«, »Das Omen« oder »Der Exorzist« hätten demnach Bilder von Satanskulten und schwarzen Messen erzeugt, die sich in das kulturelle Gedächtnis einbrannten. Auch die sogenannte Ritualmord-Legende wird in diesem Zusammenhang angeführt. Dabei handelt es sich um eine alte antisemitische Verschwörungstheorie, nach der Juden Kinder von Christen für rituelle Zwecke hinrichten würden.
Manche Fachleute vermuten, dass viele Betroffene tatsächlich ein frühes Trauma erlitten haben – allerdings ein anderes. Und dieses könnte im Rückblick mit Bildern und Geschichten über satanistische Rituale überformt worden sein. Der individuelle Schrecken wäre demnach mit der kollektiven Idee des absolut Bösen verschmolzen. Experten, die an der Existenz ritueller Gewalt zweifeln, verweisen auf die umfangreiche wissenschaftliche Literatur zu Scheinerinnerungen, die unter anderem auf Elizabeth Loftus zurückgeht, und machen (unbeabsichtigte) Suggestion für die Entstehung der Betroffenenberichte verantwortlich.
Häufig wird in diesem Zusammenhang das Buch »Michelle Remembers« genannt, das als Ausgangspunkt der »satanic panic« in den USA gilt. Es schildert den realen Fall einer Patientin namens Michelle beim kanadischen Psychiater Lawrence Pazder, in deren Verlauf sich Michelle angeblich an satanistischen Missbrauch erinnert. Pazder avancierte rasch zur Koryphäe auf dem Gebiet, später heirateten die beiden. In den folgenden Jahren wurden jedoch immer mehr Widersprüche in Michelles Darstellung bekannt – etwa in den geschilderten Tathergängen. Skeptische Stimmen vermuteten zudem, dass Pazder, der häufig nach Afrika reiste und zahlreiche Andenken daran in seinem Behandlungszimmer aufbewahrte, Michelle ungewollt beeinflusst haben könnte. Er habe ihr begeistert von »afrikanischen Ritualen« erzählt – woraufhin sie möglicherweise zu fantasieren begann, um ihm zu gefallen.
Die psychologische Forschung zu Scheinerinnerungen und zur Beeinflussbarkeit von Patienten in Therapien hatte vor allem in den USA weitreichende Folgen. Mehrfach kam es zu erfolgreichen Schadensersatzklagen gegen Therapeuten, denen vorgeworfen wurde, falsche Erinnerungen erzeugt zu haben. Auch in Europa stehen sich die Lager zunehmend unversöhnlich gegenüber. In Deutschland sorgte der Eklat um eine »ZDF Magazin Royale«-Sendung mit Jan Böhmermann im September 2023 für Aufsehen. Die Ausgabe zum Thema rituelle Gewalt führte zu einer Programmbeschwerde – mit der Folge, dass der Fernsehrat mit knapper Mehrheit entschied, die Sendung aus der Mediathek zu entfernen. Sie sei zu polemisch und berichte über Gewaltopfer in »(pseudo-)lustiger Weise«, so die Begründung. Eine geplante Nachfolgesendung wurde im November 2024 von der ZDF-Programmdirektorin gestoppt. Ein Antrag mehrerer Fernsehratsmitglieder, die ursprüngliche Beschwerde erneut zu prüfen, blieb erfolglos. Für weitere Debatten sorgte die »Spiegel«-Reihe »Im Wahn der Therapeuten«, nach deren Veröffentlichung die Beratungsstelle für organisierte und rituelle Gewalt des Bistums Münster schließen musste. Daraufhin warnten mehrere psychotherapeutische Fachverbände davor, Traumatherapeuten pauschal zu diskreditieren.
In der Schweiz führten zwischen 2021 und 2023 drei kritische Reportagen des SRF über rituelle Gewalt zu staatlichen Untersuchungen in einer Klinik für Traumatherapie. Externe Gutachter prüften Patientenakten und Behandlungsverläufe – mit weitreichenden Folgen: Disziplinarverfahren, Strafanzeigen, Bußgelder und in einem Fall sogar dem Entzug der Berufsausübungsbewilligung. Die Gutachten stellten fest, dass es vielen Patienten nach der Therapie schlechter ging als zuvor. Zudem seien freiheitsbeschränkende Maßnahmen wie Isolation und Fixierung angewendet worden – um die Patienten vor »mind control« zu schützen, einer Art psychologischer Fernsteuerung durch die angeblichen Täter. Polizeiliche Observierungen konnten jedoch keinen Täterkontakt belegen; in einigen Fällen erwies sich dieser sogar als fiktiv. In Deutschland haben weder die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs noch die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs bislang öffentlich auf die Gutachten reagiert.
Bei solch einem aufgeheizten Diskurs lohnt sich das Durchatmen. Treten wir also einen Schritt zurück und schauen wir uns an, was Fachleute eigentlich genau unter ritueller Gewalt verstehen. Und zwar mit der gebotenen Ernsthaftigkeit, die dem Thema Missbrauch und Gewalt zusteht, aber auch mit der Besonnenheit, die es benötigt, kontroverse Befunde ausgewogen zu prüfen. Es geht schließlich um viel: um Fragen nach der Glaubhaftigkeit von Aussagen, um adäquate psychotherapeutische Behandlung, aber auch um die Gefahren von Falschurteilen und Suggestion.
Organisiertes Verbrechen gegen Kinder existiert zweifelsfrei
Dafür zurück zu Mary Knight. Sie berichtet von sexuellem Missbrauch durch beide Eltern und Mitglieder der Kirchengemeinde über ihre gesamte Kindheit hinweg. So sei sie etwa nach dem Tod ihrer herzkranken Schwester gezwungen worden, deren Unterwäsche zu tragen und sich mit in den Sarg zu legen. Zudem hätten die Eltern das Mädchen dazu gebracht, mit einem Messer auf den Leichnam einzustechen. Sie sei sich außerdem sicher, dass ihr Vater Aufnahmen des sexuellen Missbrauchs verkauft habe. Über Jahrzehnte habe sie keinerlei Erinnerung an diese Gewalttaten gehabt – bis Verwandte ähnliche Erlebnisse schilderten. Knight beschreibt einige, aber nicht alle Merkmale, die in heutigen Definitionen ritueller Gewalt aufgeführt werden.
Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs bezieht sich in ihrem Bilanzbericht von 2019 auf eine Definition, die rituelle Gewalt als spezielle Form organisierter Gewalt einordnet. Diese unterscheide sich dadurch von anderen Gewaltformen, dass sie eine »(schein-)ideologische oder religiös geprägte Rechtfertigung oder Sinngebung« nutze – etwa sogenannte satanistische oder faschistische Ideologien. Besonders kritisch diskutiert wird in der Fachwelt jedoch der nachfolgende Teil der Definition. Dort ist von »verschiedenen Formen der Bewusstseinsmanipulation« die Rede: »Sie [die Betroffenen] schildern, dass über extreme Gewaltanwendungen in der Kindheit und Jugend ihre sich entwickelnde Persönlichkeit in verschiedene Anteile aufgespalten wurde. Die so entstandenen Persönlichkeitsanteile seien von den Tätern und Täterinnen gezielt für ihre Zwecke, insbesondere für die Duldung sexueller Handlungen durch Personen aus der Gruppe oder Dritte, trainiert und ausgenutzt worden. Als eine häufige Folge solcher Gewalterfahrungen wird von Betroffenen sowie von Therapeutinnen und Therapeuten die Dissoziative Identitätsstörung (DIS) genannt.«
Während in vorherigen Definitionen von ritueller Gewalt, auch von der Kommission, die »Bewusstseinsmanipulation« noch »mind control« genannt wird, taucht dieser Begriff in aktuellen Publikationen nicht mehr auf. Ähnlich verhält es sich mit dem Wort »satanistisch«. Der langjährige Verlust der Erinnerung, wie Mary Knight ihn beschreibt, ist wiederum oft fester Bestandteil der Definitionen. So auch in einer Publikation des Fachkreises »Sexualisierte Gewalt in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen« des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vom April 2018. Dort heißt es: »Ziel dieser systematischen Abrichtung ist eine innere Struktur, die durch die Täter_innen jederzeit steuerbar ist und für die das Kind und später der Erwachsene im Alltag keine bewusste Erinnerung hat.«
Was genau daran wird nun zunehmend von wissenschaftlicher Seite infrage gestellt? Zum einen bereits die Definition ritueller Gewalt als Unterform organisierter Gewalt. Forensisch-psychiatrische Stimmen kritisieren, dass dabei übersehen werde, dass nicht Ideologien die Hauptmotivation für solche Taten seien – sondern Machtinteressen sowie sexuelle und finanzielle Motive.
In kritischen Fachpublikationen zur rituellen Gewalt wird stets betont: Niemand bezweifle, dass es schwerste, teils sadistisch wirkende Straftaten an Kindern gebe. Darknet-Plattformen für Kinderpornografie wie Boystown oder Elysium und Fälle wie der des festgenommenen Hamburgers aus dem Netzwerk »764«, der junge Menschen online systematisch kontaktiert haben soll, um sie in den Suizid zu treiben, belegen das Ausmaß organisierter Gewalt gegen Minderjährige.
Umstritten bleibt jedoch, ob es tatsächlich jene spezifische Form der Gewalt gibt, die aus rein ideologischen Gründen verübt wird – samt der beschriebenen »Bewusstseinsmanipulation« und »Aufspaltung« der Persönlichkeit.
Streit um deutsche Studie
Ein Team von Rechtpsychologen um Andreas Mokros von der Fernuniversität Hagen hat sich bemüht, die Anlässe für Zweifel an Schilderungen ritueller Gewalt übersichtlich zusammenzufassen. Im Kern geht es dabei um zwei große Streitpunkte: die Funktionsweise unseres Gedächtnisses – und die Frage, wie plausibel eine angebliche »Programmierung« von Persönlichkeitsanteilen tatsächlich ist. In ihrem Fachartikel in der »Psychologischen Rundschau« beschäftigen die Fachleute sich kritisch mit einer von der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs geförderten Studie der Psychologin Susanne Nick und weiteren Forschenden vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Diese hatten mit einer Onlineumfrage Daten von Personen erhoben, die sich selbst als Betroffene ritueller Gewalt bezeichnen. Es ging dabei um eine Vielzahl von Fragen, etwa zur Ideologie der Täter und deren Methoden.
In der Online-Befragung gaben rund 92 Prozent an, infolge der erlebten Gewalt eine multiple Persönlichkeit entwickelt zu haben. Zirka 85 Prozent führten dies auf eine gezielte Spaltung durch die Täter zurück – die das Ziel gehabt hätten, einzelne Persönlichkeitsanteile für ihre Zwecke zu trainieren.
Mokros und sein Team monieren, die Forschenden um Susanne Nick hätten diese Aussagen nicht ausreichend kritisch hinterfragt. Wer sich mit der Fachliteratur zu Bewusstseinsmanipulation und sogenannter »mind control« befasse, erkenne schnell: Die dahinterstehenden Theorien seien pseudowissenschaftlich und spekulativ. Tatsächlich existiere weder ein schlüssiges theoretisches Modell noch ein belastbarer Beleg dafür, dass Täter gezielt eine dissoziative Identitätsstörung – eine anerkannte Diagnose, die früher »multiple Persönlichkeitsstörung« hieß – hervorrufen und ihre Opfer damit kontrollieren könnten.
Lässt sich ein Mensch abrichten?
Unklar bleibt auch, welche konkreten Mittel Täter dafür einsetzen müssten und wie das psychologisch funktionieren soll. Häufig wird auf den Lernprozess der Konditionierung verwiesen – mit der Vorstellung, dass sich komplexe Verhaltensmuster durch externe Reize präzise auslösen und genau steuern ließen – auch gegen den Willen des Betroffenen. Doch so weitreichende Annahmen unterstützt die moderne Lerntheorie gar nicht. Selbst die CIA versuchte im Kalten Krieg im Rahmen des Projekts »MK-ULTRA«, Persönlichkeiten gezielt aufzuspalten und kontrollierbar zu machen – und scheiterte daran.
Die Psychologin Maggie Schauer von der Universität Konstanz befasst sich wissenschaftlich und therapeutisch schon lange mit Schwersttraumatisierten. Sie ist gegenüber der Vorstellung einer derartigen Gehirnwäsche äußerst skeptisch: »Ich wüsste bei aller geballten Wissenschaft nicht, wie man einen Menschen vollkommen abrichten und für die eigenen Zwecke instrumentalisieren sollte. Man kann jemanden durch Deprivation oder Folter zwar psychisch brechen, aber damit erzeugt man eine schwere Traumafolgestörung. Und eine solche Pathologie lässt sich nicht nutzen, um jemanden zuverlässig zu kontrollieren.«
2024 reagierte das Team der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf in der Fachzeitschrift »Trauma & Gewalt« auf die Kritik der Rechtspsychologen. Es verteidigt darin sein Vorgehen mit dem Argument, es sei hochproblematisch, Betroffene zunächst um ihre Mithilfe zu bitten, um dann all ihre Aussagen infrage zu stellen. Mokros zeigt grundsätzlich Verständnis, hält jedoch entgegen: »Nach den gängigen ethischen Forschungsstandards ist man auch gehalten, eine balancierte Sicht der Sachlage darzustellen.« Das Hamburger Team räumt in seinem Artikel ein, die Ergebnisse und deren Implikationen hätten vorsichtiger formuliert werden sollen – auch den Begriff »mind control« würden die Forscher heute nicht mehr verwenden.
Andreas Mokros und seine Kollegen kritisieren allerdings noch einen weiteren Aspekt der Studie: dass viele Aussagen der Betroffenen nicht mit gängigen gedächtnispsychologischen Befunden vereinbar seien. So liege der Median für das Alter, ab dem die rituelle Gewalt eingesetzt habe, bei zwei Jahren – eine Phase, aus der laut Forschung normalerweise keine abrufbaren Erinnerungen existieren. Mindestens für die ersten ein bis zwei Lebensjahre herrscht die sogenannte infantile Amnesie, bedingt durch die noch unreifen Gedächtnisstrukturen, die fehlende Sprachentwicklung und ein nicht ausgebildetes Selbstkonzept. Unklar bleibt in der Studie jedoch, ob sich die Angaben auf eigene Erinnerungen oder auf Erzählungen anderer stützen.
Ein weiterer kritischer Punkt: Das durchschnittliche Alter, in dem sich die Befragten erstmals an die Taten erinnerten, lag bei 28,5 Jahren. Auch Mary Knight beschreibt eine späte Erinnerung. Solche langen Erinnerungslücken widersprächen jedoch der Forschung, so Mokros – traumatische Erlebnisse würden in der Regel dauerhaft erinnert und oft als belastende Intrusionen erlebt. Eine vollständige Amnesie sei zwar möglich, allerdings die Ausnahme, nicht die Regel.
Tatsächlich war die Frage nach der Existenz verdrängter Erinnerungen schon Gegenstand der sogenannten »Memory Wars« der 1990er Jahre gewesen (siehe »Wahr oder eingebildet?«). Damals stritten Forscher: Können Menschen traumatische Kindheitserlebnisse – insbesondere sexuellen Missbrauch – über längere Zeit vollständig vergessen und die Erinnerungen später wieder zurückerlangen? Verfechter dieser Theorie argumentieren, dass extreme Gewalterfahrungen in der Kindheit psychisch so überfordernd seien, dass sie unbewusst verdrängt würden – bis sich Betroffene sicher genug fühlten, sie wieder zuzulassen, etwa wenn die Täter verstorben sind. Andererseits konnte Elizabeth Loftus nachweisen, dass Menschen teils glauben, sich an Ereignisse zu erinnern, die nie stattgefunden haben. Loftus schloss daraus, dass »wiederentdeckte Erinnerungen«, etwa in Therapien, nicht zwangsläufig authentisch sind – sie können konstruiert oder suggeriert worden sein. Darauf machte sie auch als Gutachterin in zahlreichen Gerichtsverfahren aufmerksam.
Wahr oder eingebildet?
Wie verlässlich sind Erinnerungen an sexuellen Missbrauch, die erst Jahre oder Jahrzehnte später wieder auftauchen? Diese Frage steht im Zentrum eines langjährigen wissenschaftlichen Streits – und ist bis heute nicht abschließend geklärt. In den sogenannten »Memory Wars« prallten zwei Forschungslinien aufeinander: Auf der einen Seite standen Anhänger der Psychologin Elizabeth Loftus, auf der anderen Wissenschaftler um die Soziologin Linda M. Williams.
Williams veröffentlichte in den 1990er Jahren die Ergebnisse einer Befragung an 129 Frauen, die in ihrer Kindheit eindeutig sexuell missbraucht worden waren. Als objektiver Beweis dienten medizinische Dokumente. 38 Prozent der Frauen nannten das Ereignis im Interview nicht – ein möglicher Hinweis auf das Fehlen der Erinnerung. Weitere 16 Prozent berichteten, den Missbrauch zwischenzeitlich vergessen, die Erinnerung aber später wiedererlangt zu haben, etwa durch einen erneuten Übergriff oder eine Fernsehsendung zum Thema. Die wiederentdeckten Erinnerungen unterschieden sich inhaltlich nicht von denen der Frauen, die keine Jahre des Vergessens gehabt hatten, sie waren also nicht etwa wirrer oder chaotischer. Williams warnte deshalb davor, scheinbar neu zutage getretene Erinnerungen vorschnell als unwahr zu diskreditieren. Kritische Stimmen betonten jedoch, dass es sich formal nur um das Nichterwähnen des Missbrauchs im Interview handelte – und nicht zwingend um echtes Vergessen oder Verdrängen. Scham, Misstrauen oder bewusste Vermeidung könnten ebenfalls eine Rolle gespielt haben.
Einen Kontrapunkt setzte Elizabeth Loftus mit ihrer berühmten »Lost in the Mall«-Studie. Darin zeigte sie, dass sich Probanden die feste Überzeugung einpflanzen lässt, sie seien als Kind einmal in einem Einkaufszentrum verlorengegangen – obwohl dies nie passiert war. Teile der Befragten glaubten nicht nur daran, sondern beschrieben Details, ja verteidigten ihre »Erinnerung« sogar, als man sie mit der Wahrheit konfrontierte.
Loftus' Forschung führte zu einem Paradigmenwechsel: Laut zahlreichen Experimenten und Metaanalysen ist es möglich, komplexe autobiografische Scheinerinnerungen zu erzeugen – bei etwa 30 Prozent aller Probanden vollständig, bei rund 50 Prozent zumindest in Teilen. Der Effekt tritt unabhängig vom Alter oder der emotionalen Färbung des Ereignisses auf. Besonders effektiv ist die Methode, eine erfundene Erinnerung in ein tatsächlich erlebtes Ereignis einzubetten. Auch sogenannte Imaginationstechniken – also das lebhafte, detaillierte Durchspielen eines Szenarios – erhöhen die Suggestionskraft. Allerdings gibt es auch Zweifel an der Leichtigkeit, mit der die Gedächtnismanipulation gelingt: Eine 2024 veröffentlichte Analyse von Bernice Andrews von der Royal Holloway University of London und Chris Brewin vom University College London zeigt, dass viele vermeintlich eingepflanzte Erinnerungen in Lost-in-the-Mall-Studien womöglich doch Fragmente realer Erlebnisse enthalten. Die Schlussfolgerung vieler Fachleute: Wiederentdeckte Erinnerungen können echt sein, müssen es aber nicht. Ihre Authentizität lässt sich im Einzelfall schwer prüfen. Umso wichtiger ist es, insbesondere im therapeutischen und forensischen Kontext Suggestion zu vermeiden. Denn das Risiko, unbeabsichtigt Erinnerungen zu formen, ist nachgewiesen – und hoch.
Traumata berühren die Menschenrechte
Auch Maggie Schauer betont: »Unser Gedächtnis ist nicht für den Wahrheitsabruf gebaut, sondern um uns zu helfen, in der Zukunft besser zurechtzukommen.« Besonders anfällig sei das Traumagedächtnis: Wenn belastende Erinnerungen wieder ins Bewusstsein drängen, ist dies häufig mit starker Angst verbunden – und kann zu Verzerrungen oder Vermeidung führen. Trotzdem ist es laut der Psychologin möglich, mit Methoden wie der Narrativen Expositionstherapie das Erlebte kleinschrittig zu rekonstruieren. Obwohl also die Wahrnehmung eines Traumas im Moment des Schreckens subjektiv ist – wobei auch die psychische Entwicklungsgeschichte und vorherige Ereignisse eine Rolle spielen –, gebe es dadurch eine Möglichkeit, an vergangene Traumata heranzukommen. Dennoch, resümiert Schauer, sei auch die Erinnerung eines Menschen letztlich subjektiv. Diese Tatsache dürfe jedoch niemals als Argument dienen, pauschal die Glaubwürdigkeit von Opfern anzugreifen. Traumatisierung sei nicht nur ein klinisches Phänomen, sondern habe immer auch eine Menschenrechtsdimension.
Wenn die Studienlage einerseits nahelegt, wiederentdeckte Erinnerungen an Missbrauch nicht pauschal zu verwerfen, es aber andererseits klare Belege für Verzerrungen, Suggestion und Scheinerinnerungen gibt – wie lässt sich dann, wie Mary Knight es versucht, feststellen, ob eine bestimmte Erinnerung tatsächlich stimmt? Die Antwort ist ernüchternd: Ein sicheres Unterscheidungskriterium gibt es bislang nicht. Wie in guter wissenschaftlicher Praxis bleibt nur, Hinweise darauf zu sammeln, was plausibler erscheint – und Suggestion zu vermeiden, vor allem in der Psychotherapie. So warnt eine aktuelle Publikation um den Psychologen Philipp Herzog im »Psychotherapeutenjournal« eindringlich vor imaginativen Techniken, die darauf abzielen, vermeintlich verdrängte Erinnerungen zutage zu fördern. Die Gefahr, damit Scheinerinnerungen zu erzeugen, sei zu groß.
Auch der Beginn des Films von Mary Knight lässt sich kritisch deuten: In einem Mitschnitt aus einer Hypnosesitzung beschreibt Knight, sie sehe eine männliche Hand vor ihrem inneren Auge. Die Therapeutin fordert sie auf, die Hand hochzuwandern und sich das T-Shirt vorzustellen. Als Knight weinend sagt, die Hand gehöre ihrem Vater, bleibt offen, inwieweit hier Erinnerung oder Suggestion wirksam ist.
Nichtexistenz lässt sich nicht beweisen
Vieles ist noch ungeklärt. Mokros und sein Team regen an, systematisch zu untersuchen, wie Trauma-Erzählungen entstehen. Er betont zugleich: »Aus erkenntnistheoretischer Sicht müssen wir festhalten: Man kann die Nichtexistenz einer Sache nicht beweisen. Es kann ja immer sein, dass man irgendwo etwas übersehen hat.« Doch bei der Vorstellung, jemand sei durch rituelle Gewalt bewusst gespalten und abgerichtet worden, hätte all das lange Zeit vergessen und erinnere sich plötzlich wieder, sei zu bedenken: »Das ist wie ein Kochrezept mit den allerseltensten Zutaten. Man hat einen Baustein, der superunwahrscheinlich ist, einen zweiten, der mindestens ebenso fernliegt, und noch einen dritten und vierten dieser Art. Dass die alle gemeinsam auftreten, ist noch viel unwahrscheinlicher.«
Zudem sei offen, ob bisherige Therapien – etwa bei der Diagnose dissoziative Identitätsstörung – wirksam sind oder womöglich sogar schaden. Systematische Forschung dazu fehlt bislang. Entscheidend bleibt die Haltung im Umgang mit Menschen, die von Unvorstellbarem berichten. Der Theologe Kai Funkschmidt schreibt in seiner Analyse zur rituellen Gewalt: »Man muss Ratsuchende ernst nehmen. Das ist aber nicht dasselbe wie: Man muss ihnen alles glauben.« Dem kann man sich nur anschließen. Ein kritischer Blick aus professioneller Distanz widerspricht einer empathischen Haltung nicht – im Gegenteil. Er macht sie erst möglich.
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