Persönlichkeitswandel: Stress verändert den Charakter

Wer im Alltag häufig stark auf Belastungen reagiert, verändert über die Jahre hinweg seine Persönlichkeit. Das zeigt eine Untersuchung, die Mitte Juli 2025 im Fachblatt »Psychology and Aging« erschien. Betroffen sind die Eigenschaften Offenheit, Extraversion und Verträglichkeit – sie nehmen bei stressanfälligen Menschen im Lauf der Zeit messbar ab. Damit liefert die Langzeitstudie neue Hinweise darauf, dass unser tägliches Erleben langfristig unser Wesen formt.
Ein Team um den Psychologen William Chopik von der Michigan State University analysierte dafür vorhandene Daten von 2022 Menschen, die über fast 20 Jahre hinweg begleitet worden waren. In mehreren Erhebungsphasen war dokumentiert worden, wie stressig ihr Alltag war – und wie stark sie sich dadurch beeinträchtigt fühlten. Parallel dazu wurden in regelmäßigen Abständen ihre Persönlichkeitsmerkmale erfasst.
Das Ergebnis der neuen Analyse: Wer zunehmend empfindlich reagierte, also an stressigen Tagen immer häufiger negative Emotionen wie Gereiztheit, Nervosität oder Überforderung empfand, zeigte über die Jahre einen deutlichen Persönlichkeitswandel. Diese Menschen wurden im Schnitt zurückgezogener, weniger neugierig auf Neues und weniger sozial zugewandt. Umgekehrt zeigten jene, die bei Alltagsbelastungen gelassener blieben, kaum derartige Veränderungen.
Die Ergebnisse liefern damit einen Zusammenhang zwischen zunehmender Stressreaktivität und Persönlichkeitsveränderungen, doch sie erlauben keine sicheren Rückschlüsse darauf, was Ursache und was Folge ist. Denkbar wäre auch, dass sich die zwei Prozesse gegenseitig beeinflussen – oder dass ein dritter Faktor hinter beiden steckt. Allerdings veränderte sich das in diesem Zusammenhang naheliegendste Persönlichkeitsmerkmal, die emotionale Labilität, nicht mit der Stressreaktivität. Außerdem stützen Befunde aus anderen Studien die Annahme, dass sich wiederkehrende Alltagserfahrungen tatsächlich langfristig in die Persönlichkeit einschreiben.
Wenn das auch hier zutrifft, wäre Stress nicht nur eine vorübergehende Unannehmlichkeit – er könnte allmählich unsere Grundhaltung zum Leben verändern. Die gute Nachricht: Weil der Umgang mit Stress trainierbar ist, lassen sich solche Entwicklungen beeinflussen. Achtsamkeit, gesunde Routinen und gute Freunde können zum Beispiel helfen, Belastungen abzufedern. Wer sich heute gut um seine seelische Widerstandskraft kümmert, stärkt eventuell nicht nur sein aktuelles, sondern auch sein zukünftiges Ich.
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