Große Halligflut: Wie man eine historische Katastrophe enträtselt

In der Nacht des 3. Februar 1825 kamen alle Zutaten für eine Katastrophe zusammen. Immer wieder hatten heftige Nordwestwinde in den Monaten zuvor die Nordsee gegen die Deiche an den Mündungen von Elbe und Weser und auf den vorgelagerten Inseln gepeitscht. Deiche, die in den Wirren der napoleonischen Kriege und der folgenden Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten vernachlässigt worden waren. Nach einem weiteren, zwei Tage währenden Wintersturm brachen sie schließlich. Große Teile der deutschen Nordseeküste standen teils metertief unter Wasser, rund 800 Menschen starben. Die Sturmflut vom Februar 1825 gilt als eine der schwersten, die jemals die Region um die Elbmündung trafen.
Doch warum war die Sturmflut so verheerend? Waren es vor allem zu schwache Schutzbauwerke, die die Februarflut zur Katastrophe werden ließen, oder stieg das Wasser womöglich so hoch, dass ein vergleichbares Ereignis auch heute noch dramatische Zerstörungen anrichten würde? Um zu bestimmen, wie schwer eine historische Sturmflut wirklich war, reichen die historischen Aufzeichnungen nicht aus. Regelmäßige Pegelmessungen, die einen direkten Vergleich mit heutigen Wasserständen ermöglichen würden, begannen an der Nordseeküste erst Jahrzehnte später.
Mit Hilfe moderner Simulationsverfahren gelang es einem Team vom Helmholtz-Zentrum Hereon im Jahr 2023, die Rätsel der Februarflut zu entschlüsseln. Entscheidend ist dafür die genaue Wetterlage in den ersten Februartagen des Jahres 1825, die hohe Wasserstände erzeugte. Aus dem Windfeld und dem Luftdruck kann man dann mit einem hydrodynamischen Modell errechnen, wie hoch das Wasser tatsächlich stieg. Vor 200 Jahren gab es allerdings noch kein dichtes Netz von Wetterstationen, keine belastbaren Daten über Wind, Regen, Temperatur. Lediglich wenige Stationen maßen 1825 den Luftdruck weltweit.
Das Wetter vor 200 Jahren vorhersagen
Um aus den dürren Daten eine Art Wettervorhersage für den Zeitraum um den 3. und 4. Februar 1825 zu generieren, griff das Team auf das 20th Century Reanalysis Project der National Oceanic and Atmospheric Administration in den USA zurück. Dieses nutzt ein Computermodell zur Wettervorhersage, um aus historischen Wetterdaten mögliche Zustände der gesamten Atmosphäre zu einer bestimmten Zeit zu berechnen. »Die wenigen Daten, die man hat, werden dabei in das Modell eingefügt«, erklärt Ralf Weisse, Abteilungsleiter für Küstenklima und regionale Meeresspiegelveränderungen am Helmholtz-Zentrum Hereon in Geesthacht. »Und dann rechnet das Modell, wie sich die Wetterlage entsprechend den Daten entwickelt.«
Sind neue Daten verfügbar, vergleicht das Modell die Computerdaten mit den gemessenen Werten und korrigiert die Simulation entsprechend. »Das Modell wird quasi wie an einem Gummiseil an den Daten entlanggeführt«, so Weisse. Ob das funktionieren würde, war keineswegs klar. Tatsächlich sei das Ziel gewesen, herauszufinden, »ob es überhaupt möglich ist, so weit zurückzurechnen und aus so wenigen Datenpunkten die Sturmflut zu rekonstruieren«, berichtet die Klimaforscherin Elke Meyer die ebenfalls am Hereon arbeitet. Für das 20th Century Reanalysis Project sei dieser frühe Zeitraum mit wenigen Daten ebenfalls ein Test gewesen.
Doch das Modell lieferte brauchbare Daten. »Es hat funktioniert. Das hat mich sehr überrascht.« Unter den 80 von dem Wettermodell erzeugten Szenarien bildeten drei tatsächlich Wettermuster nach, die die historisch überlieferten Wasserstände von mehr als vier Metern über dem mittleren Wasserstand ungefähr hätten erzeugen können, wie die Forscherin erklärt. Diese zeigten ein typisches großräumiges Wettermuster über Europa. »Bei der Sturmflut hatte man wahrscheinlich ein Hochdruckgebiet über der Biskaya und ein Tiefdruckgebiet, das über Island nach Skandinavien zog.« Zwischen beiden habe sich ein starker Luftdruckgegensatz über der Nordsee entwickelt, der die Winde in der Region antrieb. »Dadurch hat man starke westliche oder nordwestliche Winde, die sehr kontinuierlich in Richtung Deutsche Bucht wehen.«
Wind, Mond und Sonne zusammen
Dieser Wind ist das entscheidende Element einer Sturmflut. Er drückt das Wasser gegen die Küste, lässt die Flut höher steigen und die Ebbe schlechter ablaufen. Wie sich dieser Effekt im Detail auswirkte, modellierte das Hereon-Team mit dem regionalen Wasserstandsmodell TRIM-NP. Das bezieht nicht nur das Windfeld über der Nordsee mit ein, sondern auch den zweiten entscheidenden Faktor: die Gezeiten. Zweimal am Tag lassen Ebbe und Flut das Meer rhythmisch steigen und zurückweichen; der Unterschied zwischen Hoch- und Niedrigwasser beträgt an der deutschen Nordseeküste über drei Meter.
Die Menschen an der Nordsee hatten im Februar 1825 gleich mehrfach Pech, wie die Simulationen zeigen. Denn sogar Sonne und Mond hatten einen verhängnisvollen Einfluss. Bei Voll- und Neumond addieren sich jeweils die Anziehungskräfte von Sonne und Mond und lassen die Flut besonders hoch auflaufen – der Sturm traf fast genau mit dieser so genannten Springflut zusammen. Dann hielt, wie das Modell zeigt, der starke Wind ungewöhnlich lange an. Schon 48 Stunden vor dem höchsten Hochstand hob der Windstau den Wasserstand um rund einen Meter; gegen Mitternacht in der Nacht zum 4. Februar traf dann eine astronomische Springflut mit dem Höhepunkt des Windstaus zusammen und überwältigte die geschwächten Deiche.
Einzigartig allerdings war die Sturmflut nicht, auch das verraten die Simulationen. »Für mich war die Fragestellung, ob die Sturmflut so ähnlich aussah wie die Sturmflut von 1962 und ob sie die hohen Wasserstände erzeugen konnte«, erklärt Meyer. »Die beiden Ereignisse werden gerne miteinander verglichen.« Tatsächlich enthüllt das Modell Parallelen zu der Katastrophe fast 140 Jahre später, die Teile Hamburgs überflutete und allein dort 315 Menschen tötete.
Sturmfluten werden höher – und die Deiche auch
Bei der Sturmflut von 1962 wanderte ein Tiefdruckgebiet von Island her nach Südschweden, während vor der französischen Atlantikküste ein Hochdruckgebiet lag, das weit nach Norden reichte. Auch die Simulation der Sturmflut von 1825 legt nahe, dass das Hoch auf der Biskaya Richtung Britische Inseln driftete, während das Tiefdruckgebiet über Südskandinavien wütete. Das Resultat in beiden Fällen: starke Luftdruckunterschiede und heftige Nordwestwinde über der Nordsee, die das Wasser anhaltend in die Deutsche Bucht trieben. Vergleichbare Sturmlagen treten dort immer wieder auf.
Es war also kein außerordentliches Extremereignis, das die Katastrophe verursachte. Ein schwerer, aber durchaus üblicher Nordseesturm traf schlicht auf unzulänglichen Küstenschutz. Bemerkenswert ist allerdings, wie lange 1825 die hohen Wasserstände anhielten. Das Wasserstandsmodell zeigt, wie sich das Wasser auch nach dem Höchststand in der Nacht nur wenig zurückzog und wie sich am Mittag des 4. Februar vor allem vor Ostfriesland erneut ein sehr hoher Flutberg staute. Das bestätigen die historischen Überlieferungen – diese zweite hohe Flut drückte durch die zerstörten Deiche erneut ins Binnenland, bevor der Wasserspiegel schließlich auf normalere Pegelstände fiel.
Heutzutage würde eine vergleichbare Wetterlage sogar noch eine höhere Sturmflut erzeugen – nicht nur weil der Meeresspiegel steigt, sondern auch weil Deutschlands Nordseeküste absinkt. Um etwa einen halben Millimeter pro Jahr schrumpft die Beule in der Erdkruste, die die Verformung durch die Eismassen hier einst erzeugte. Seit 1825 sank die gesamte Region um Elbe und Weser so rund zehn Zentimeter ab – hinzu kommt das steigende Wasser durch den Klimawandel.
Doch auch das ist eine Erkenntnis aus dem Modell: Heute hätten selbst noch höhere Sturmfluten weit weniger dramatische Folgen als 1825 oder 1962. Unzureichender Küstenschutz spielte eine wichtige Rolle bei den Katastrophen – ein Fehler, der sich nicht wiederholen soll. Aktuell schützen enorme, rund 100 Meter breite und bis über neun Meter hohe Deiche das Hinterland an der Nordseeküste. Am 1. November 2006 stieg die durch den Orkan Britta aufgetürmte Flutwelle mehr als fünf Meter über den mittleren Wasserstand. Die Deiche hielten, Menschen kamen nicht zu Schaden.
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