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Gravitationsgesetze: Suche nach dem Ursprung der Zeit

Mit mathematischen Kniffen zeigt sich ein neuer Ansatz, allein aus Newtons Gravitationsgesetz die Richtung des Zeitpfeils zu verstehen.
Zeit und Raum

Sie ist eine der fundamentalsten Eigenschaften der Natur und lässt sich so genau messen wie keine andere Größe – die Zeit. Trotzdem wissen wir über ihren Charakter – wie sie entsteht und warum sie so vergeht, wie sie eben vergeht – fast nichts. Antworten auf diese Fragen ist man in den Tausenden von Jahren, in denen Menschen wissenschaftlich denken, kaum näher gekommen.

Ein neuer Ansatz, den drei Forscher im Journal "Physical Review Letters" vorstellen, soll das nun ändern. Flavio Mercati, Julian Barbour und Tim Koslowski zeigen eine Möglichkeit auf, wie allein auf Basis einer grundlegenden Gleichung, Newtons Gesetz der Gravitation, die Zeit in ihrem physikalischen Modell eine Richtung bekommt. Newtons Gleichung sei "das einfachste nichttriviale zeitsymmetrische Gesetz", das man benutzen könne, um das Universum zu modellieren. Sie gibt – genau wie die anderen Grundgesetze der Physik – der Zeit per se keine Richtung vor. Man könnte bei einem System, das sich allein nach dem Gravitationsgesetz verhält, nicht erkennen, ob die Zeit vorwärts oder rückwärts abläuft.

Doch warum erscheint die Gegenwart dann so anders als die Vergangenheit? Warum zerschellt eine Tasse, die vom Tisch fällt, in Scherben, aber setzt sich nie wieder von allein zusammen?

Ein Ansatz, dieses einseitige Verhalten eines Systems zu verstehen, ist der zweite Hauptsatz der Thermodynamik. Die darin beschriebene Entropie wächst stetig, sie nimmt in einem geschlossenen System nie ab. Die Entropie ist ein Maß für die Anzahl der möglichen Zustände eines Systems. Beginnt man mit einem speziellen Ausgangszustand, dann hat jeder andere, der sich daraus entwickeln kann, eine größere Anzahl an möglichen verschiedenen Zuständen. Es gibt nur genau eine Möglichkeit, wie die Moleküle der Tasse zusammenkommen, um diese zu formen. Aber es gibt viele Möglichkeiten, wie sie in Scherben zerspringt. Der Scherbenzustand besitzt daher eine höhere Entropie. Weil die Entropie nach dem zweiten Hauptsatz immer wächst und nie abnimmt, kann man in ihr einen Antrieb für die Zeit sehen. Sie gibt ihr eine bestimmte Richtung vor. Der Urknall muss also ein Zustand niedriger Entropie gewesen sein, der sich seither mit der Expansion des Weltalls in einen Zustand höherer Entropie entwickelt.

Will man den Verlauf der Zeit am Beispiel des Universums genauer betrachten, wird es allerdings paradox. Nach der Urknalltheorie kommen wir von einem ungeordneten heißen Zustand, in dem es chaotisch zuging, und finden doch mittlerweile einzigartige geordnete Planetensysteme und Galaxien vor. Es scheint, als nähme die Entropie im sichtbaren Universum mit der Zeit ab statt zu. Ludwig Boltzmann erkannte dieses Problem bereits 1895, als er sich Gedanken über den Ursprung des Zeitpfeils machte. "Boltzmann schlug vor, dass unser sichtbares Universum nur eine seltene vorübergehende statistische Fluktuation niedriger Entropie sei und lediglich in einem kleinen Teilbereich eines größeren Systems wirksam", schreibt Steve Carlip, Professor für Physik an der University of California in Davis in einem begleitenden Kommentar zu dem Aufsatz von Mercati und Co. Diese Lösung ist für Physiker allerdings sehr unbefriedigend. Mercati und seine Kollegen hätten mit ihrem Aufsatz gezeigt, dass solche "Flickschusterei" nicht nötig sei.

"Sehr detailliert, durchaus überraschend und sicher interessant!"
Martin Bojowald

Um den Ursprung des "Zeitpfeils" zu enthüllen, betrachteten die drei Forscher ein System aus Massepunkten, die sich lediglich über die Gravitation, die sie aufeinander ausüben, beeinflussten. Die Forscher führten ein Maß für die räumliche Verteilung der Massepunkte ein und nannten es "Komplexität". Demnach sind, grob gesagt, in einem komplexeren Zustand die Massepunkte des Systems weiter voneinander entfernt als in einem mit geringerer Komplexität.

Mit einigem mathematischen Geschick konnten die Forscher zeigen, dass sich die Massepunkte zunächst zu einem Zustand hoher Dichte und geringer Komplexität zusammenfügen, wenn man sie nur sich selbst und ihrer Schwerkraft überlässt. Dieser Zustand ist vergleichbar mit der statistischen Fluktuation, die Boltzmann benötigte, um die Verhältnisse im Universum zu erklären. Allerdings tritt er in der Beschreibung von Mercati und Kollegen nicht durch einen seltenen Zufall auf, sondern ergibt sich ganz natürlich aus dem newtonschen Gravitationsgesetz.

Aus diesem Zustand spaltet sich das System nun in zwei Pfade auf. Egal ob man die Zeit vorwärts oder rückwärts ablaufen lässt: Die Komplexität steigt in etwa linear an, und zwar symmetrisch, also in beide Zeitrichtungen gleichartig. Man findet quasi zwei Zeitpfeile, die aber jeweils eine eindeutige Richtung für einen Beobachter vorgeben, der sich in einem der beiden "Zeitarme" wiederfindet.

Diese Idee einer Zeit, die sich in zwei Richtungen, aus einem Zustand minimaler Komplexität zu zwei Zukunftsversionen hin, entwickelt, sei an sich nicht neu, schreibt Carlip in seinem Kommentar. Sie sei beispielsweise in kosmologischen Modellen der "ewigen Inflation" zu finden. Aber diese Entwicklung in einem so einfachen System zu entdecken, wie es Mercati und Co beschreiben, komme unerwartet.

Das sehen andere Experten ähnlich. Martin Bojowald erforscht an der Pennsylvania State University die Grundlagen der Kosmologie. Man erwarte zwar üblicherweise, dass die anziehende Gravitationskraft zu Strukturbildung tendiere und deshalb zumindest eine Version des Zeitpfeils erklären könne. Einige der neuen Eigenschaften, die Mercati und Kollegen in ihrer "sehr detaillierten Ausarbeitung" beschreiben, seien aber durchaus überraschend und "sicher interessant".

"Ich verstehe nicht, wieso diese Arbeit überhaupt publiziert werden konnte!"
H. Dieter Zeh

H. Dieter Zeh, ehemals Physikprofessor in Heidelberg und Autor eines Standardwerks zum Zeitpfeil, zeigt sich hingegen wenig begeistert. Man vermute schon lange einen Zusammenhang des thermodynamischen Zeitpfeils mit der Expansion des Universums, so dass die Entropie mit dessen zunehmender Ausdehnung steigen müsse. In manchen Modellen könne das Universum durch eine Singularität "hindurchfallen" und sich anschließend wieder ausdehnen. "Dann streiten die Experten, ob sich dabei der thermodynamische Zeitpfeil umkehrt oder erhalten bleibt", sagt Zeh. In der Arbeit, um die es geht, kehre er sich allein durch die verwendete Definition der "Komplexität" um. Das sei offenbar alles – "bis auf ein paar triviale Formeln!" Und: "Deswegen verstehe ich auch nicht, wieso diese Arbeit überhaupt publiziert werden konnte. Vielleicht ein Beispiel für den zunehmenden Libertinismus in Teilen der modernen Physik."

Ob diese Arbeit die Physiker näher an den Ursprung der Zeit gebracht hat, wird sich zeigen müssen. "Das benutzte Modell mit newtonscher Gravitation ist relativ einfach, und die Allgemeinheit der Resultate ist schwer einschätzbar", sagt Martin Bojowald. "Andererseits sind für die konkreten Rechnungen Annahmen wichtig, die zumindest zum Teil auch in der allgemeinen Relativitätstheorie erfüllt sein sollten." Die Arbeit sei ein viel versprechender Ausgangspunkt für weitergehende Studien. Ob sich mit diesem Ansatz jemals experimentell dem Charakter der Zeit auf den Grund gehen lässt, ist jedoch fraglich. Der Zeitpfeil sei über die Entropie oder die in der neuen Arbeit definierte Komplexität zwar messbar, aber die Autoren legten nicht dar, wie man ihre Erklärung des Zeitpfeils von anderen unterscheiden könne.

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