Direkt zum Inhalt

Neurowissenschaft: Die Macht des Kaffees und der Zigaretten

Wann wird eine Gewohnheit zur Sucht? Die Puzzleteile der Neurowissenschaft fügen sich angesichts aktueller Forschungen zusammen.
Kettenraucher

Im Kultfilm "Coffee and Cigarettes" sitzen Tom Waits und Iggy Pop zusammen in einem typisch amerikanischen Diner und schlürfen Kaffee. Auf dem Tisch liegt eine Packung Zigaretten, die jemand dort vergessen hat. Für Tom und Iggy Anlass genug, darüber zu reden, wie glücklich sie jetzt sind, da sie endlich mit dem Rauchen aufgehört haben. "Das Beste am Aufhören ist", sagt Tom Waits, "dass ich mir jetzt auch einfach mal so eine gönnen kann", nimmt eine Zigarette aus der Packung und steckt sie sich an.

Kaffee und Zigaretten, warum passen die so gut zusammen? Warum sind solche Gewohnheiten so hartnäckig, und wann wird eine Gewohnheit zur Sucht? Die Neurowissenschaft der vergangenen 60 Jahre hat die Puzzleteile zusammengetragen, die diese Fragen beantworten können. Und die Arbeit zweier Hirnforscher beginnt nun diese Teile zusammenzufügen.

Beim Griff zur Zigarette haben die Basalganglien in Tom Waits Gehirn ihr Okay gegeben. "Die Basalganglien sind eine Art Kommandozentrum, das darüber entscheidet, welche Handlungen wir als Nächstes ausführen", sagt Nicole Calakos, Professorin an der Duke University in North Carolina. Die Basalganglien sind eine Gruppe stark vernetzter Verbände aus Nervenzellen. Sie sitzen von den Ohrenspitzen aus etwa einen Zeigefinger weit innerhalb des Schädels.

Bei zielgerichteten bewussten Handlungen agieren die Basalganglien wie ein selektiver Verstärker. Plant der Kortex eine Handlung, so wird das dafür notwendige Motorprogramm an die Basalganglien geschickt und läuft dort durch zwei parallele Pfade, um am Ende wieder im Kortex zu landen. Doch während der "direkte" Pfad das Handlungsprogramm im Kortex verstärkt, wird es vom anderen, dem "indirekten" Pfad, gehemmt. So beherbergen die Basalganglien gleichsam ein "Los-gehts"-Netzwerk und ein "Nein-lass-mal"-Netzwerk. Nur wenn das Los-gehts-Netzwerk gewinnt, wird eine Handlung auch ausgeführt.

Gewohnheiten hinterlassen Signatur in Basalganglien

Nicole Calakos und ihre Mitarbeiter berichten nun im Fachjournal "Neuron", dass Gewohnheiten eine deutliche Signatur in den Basalganglien hinterlassen. Die Forscher trainierten Mäuse darin, einen kleinen Hebel zu drücken, um an eine Leckerei zu kommen. Nach sechs Tagen Training aber machten sie den Tieren die Leckereien in großen Mengen frei zugänglich. "Dadurch haben wir für die Tiere das Drücken des Hebels entwertet", sagt Calakos. Doch obwohl es den Tieren nichts mehr brachte, drückten viele von ihnen den Hebel weiterhin, die einen mehr, die anderen weniger. Sie hatten eine Gewohnheit entwickelt.

Kaffee | Kaffee wird für viele Menschen zu einer Gewohnheit. Die Zigarette zum Kaffee entwickelt sich häufig zur Sucht.

Nach dem Experiment untersuchten Calakos und ihre Kollegen die Basalganglien der Tiere. In Schnitten der Mäusehirne simulierten sie den Input vom Kortex mit elektrischen Impulsen und maßen mit einem Fluoreszenzmikroskop gleichzeitig die neuronale Aktivität im Los-gehts- und im Lass-mal-Pfad. Das Ergebnis: Je stärker die Gewohnheit bei einer Maus gewesen war, desto schneller reagierten die Neurone im direkten Pfad. Stärker aktiv im Vergleich zum indirekten Pfad waren sie dagegen nicht geworden. Ein zeitlicher Vorsprung im Los-gehts-Pfad scheint also die neurologische Grundlage für eine starke Gewohnheit zu sein.

Wenn wir nach einer Kaffeetasse greifen, dann ist das eine so gewohnte Handlung, dass ein schneller Los-gehts-Pfad den Plan gewissermaßen durchwinkt — wir müssen nicht mehr darüber nachdenken, wie wir das tun, die Handlung ist automatisiert. Ob Calakos Resultate auf den Menschen übertragbar sind, ist noch nicht klar. Aber angenommen, sie sind es: Wie unterscheidet sich dann der Griff zur Zigarette vom Griff zur Kaffeetasse? Was unterscheidet aus neurologischer Sicht die Suchthandlung von der Gewohnheit?

"Eine Sucht ist eine erlernte Krankheit – nur, dass das Lernsystem bei einer Sucht zu gut funktioniert"
Christian Lüscher

"Bei einer unerwarteten Belohnung schüttet das Belohnungssystem des Gehirns den Neurotransmitter Dopamin unter anderem im Nucleus accumbens aus, einem Teil der Basalganglien", sagt Professor Christian Lüscher, Leiter der Gruppe "Synapsen, Netzwerke und Verhalten bei Sucht und verwandten Erkrankungen" an der Universität Genf. "Der Nucleus accumbens integriert Informationen aus vielen Teilen des Gehirns, etwa solche, die Angst kodieren, oder die Koordinaten im Raum." Diese Informationen entscheiden, ob der direkte oder der indirekte Pfad im Nucleus accumbens die Oberhand gewinnt, ob die aktuelle Handlung ausgeführt wird oder nicht.

Erhöhter Dopaminpegel aktiviert den direkten Los-gehts-Pfad

"Wenn eine Handlung, von der man sich nichts erhofft, eine unerwartete Belohnung bringt, dann moduliert das Dopaminsignal im Nucleus accumbens die synaptische Übertragung an den Neuronen des direkten und indirekten Pfades", sagt Professor Lüscher. Mehrere Studien belegen das: Ein stark erhöhter Dopaminpegel im Nucleus accumbens aktiviert den direkten Pfad und hemmt den indirekten.

Ein Dopaminsignal aus dem Belohnungssystem beeinflusst damit den Wert, den der Nucleus accumbens den aktuellen Handlungen zuschreibt. Dadurch bestimmt dieser Teil der Basalganglien, ob eine Handlung noch einmal ausgeführt wird oder nicht, ob sie zur Gewohnheit wird oder nicht. Und, ob eine Handlung zur Sucht wird oder nicht.

Alkoholrausch | Drogen fluten das Belohnungssystem im Gehirn mit Dopamin, selbst wenn gar keine echte Belohnung kommt. So wird aus einer Gewohnheit eine Sucht – beispielsweise eine Alkoholsucht.

"Hat man sich an eine Belohnung gewöhnt, dann erlischt das Dopaminsignal", sagt Lüscher. Dann bleibt die Handlung eine Gewohnheit und wird nicht zur Sucht. "Das definierende Merkmal von süchtig machenden Drogen ist, dass sie das Belohnungssignal künstlich aufrechterhalten." Drogen fluten den Nucleus accumbens (und die anderen Zielregionen des Belohnungssystems) mit Dopamin, entweder für die paar Minuten bei einer Zigarette oder über Stunden bei Kokain oder Heroin. Und das selbst, wenn gar keine echte Belohnung kommt. So wird aus einer Gewohnheit eine Sucht.

Wie stark der Effekt des Dopaminsignals sein kann, zeigt eine Studie, die Lüschers Gruppe im Jahr 2015 im Journal "Neuron" veröffentliche. Wie in Calakos Experiment trainierten sie Mäuse, einen kleinen Hebel zu drücken. Doch anstatt eines Leckerlis bekamen die Tiere über ein Implantat einen kleinen Stimulus in ihrem Belohnungssystem, so dass es bei jedem Druck auf den Hebel aktiviert wurde. Jedes Drücken des Hebels war also für die Mäuse aufs Neue lohnend. So wie jeder Zug an einer Zigarette für das menschliche Gehirn. Die Konsequenz: Die Tiere wurden süchtig danach, den Hebel zu drücken, ohne jemals etwas dafür zu bekommen. Und im Gegensatz zu Calakos Mäusen stürzten sich die süchtigen Tiere in Lüschers Experiment selbst nach tagelanger Abstinenz wieder auf den Hebel.

Das Lernsystem funktioniert bei einer Sucht zu gut

"Eine Sucht ist eine erlernte Krankheit", sagt Lüscher. "Nur, dass das Lernsystem bei einer Sucht zu gut funktioniert. Wir sagen, es ist eine 'Gain-of-Function-Erkrankung'". Doch bei einer Sucht lernen wir weit mehr, als nur das Nehmen der Droge selbst als lohnend zu empfinden. Auch der Kontext wird vom Dopaminsignal markiert. "Es gab schon in den 1970er Jahren Studien über Heroinsucht von Soldaten im Vietnamkrieg. Die zeigen, dass heroinsüchtige Soldaten, wenn sie wieder daheim waren, eine viel größere Chance hatten, von der Droge loszukommen, als Menschen, die in der Umgebung geblieben sind, in der sie süchtig geworden waren." In dem mit der Sucht assoziierten Kontext erwartet das Belohnungssystem einen belohnenden Stimulus, ein Leckerli. "Wenn dann die Belohnung ausbleibt, wird das Belohnungssystem gehemmt", sagt Lüscher. "Bei einer Gewohnheit reicht das aus, diese abzulegen. Bei der Sucht aber ist dieses Signal so stark, dass die Gier nach der Droge einsetzt."

Beim Griff zur Kaffeetasse nehmen wir also gleichsam an Calakos Experiment teil. Kaffee trinken ist eine Gewohnheit. Der Entzug von Kaffee bereitet zwar manchen Menschen Kopfschmerzen, doch das Belohnungssystem bleibt unbeeindruckt. Zugleich ist das Kaffeetrinken für viele Menschen aber der Kontext für eine Zigarette. Beim Griff zur Zigarette stecken wir in Lüschers Experiment. Jedes Mal, wenn ein Raucher sich in ein Café setzt, lockt die Zigarette. Und jedes Mal, wenn er eine raucht, verstärkt das den Los-gehts-Pfad in seinen Basalganglien.

Als Iggy Pop seinen ersten Zug genommen hat, pustet er genüsslich den Rauch aus und sagt zu Tom Waits: "Alter, ich sag dir was, Kaffee und Zigaretten, das ist ne Kombination!"

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.