Direkt zum Inhalt

Suchtprävention: Wie man Jugendliche von Alkohol und Drogen fernhält

Ob Tabak, Alkohol oder andere Drogen – nirgendwo in Europa konsumieren Jugendliche so wenig ­Suchtmittel wie in Island. Dafür gibt es einen Grund.
Die Teilnehmer des Reykjavik Color Run erreichen das Ziel.

Die Uhr zeigt kurz vor drei; der Schulunterricht ist längst aus an diesem sonnigen Freitagnachmittag. Doch der Laugardalur-Park nahe dem Stadtzentrum von Reykjavik erscheint menschenleer. Nur hin und wieder sieht man einen Erwachsenen mit einem Buggy. Dabei liegt der Park inmitten von Wohnblocks und Mehrfamilienhäusern. Wo sind all die Kinder?

Auf meinem Spaziergang begleiten mich der Psychologe Gudberg Jónsson von der Universität Island sowie der amerikanische Psychologieprofessor Harvey Milkman, der einen Teil des Jahres ebenfalls in der isländischen Hauptstadt lehrt. Vor 20 Jahren gehörten die isländischen Teenager zu den trinkfreudigsten in ganz Europa, erzählt Jónsson, und Milkman fügt hinzu: »Da konnten Sie freitags abends nicht zu Fuß durch Reykjaviks Innenstadt gehen. Ganze Horden von Jugendlichen betranken sich auf offener Straße!«

Heute weist die europäische Statistik die isländischen Teenager als diejenigen mit dem vorbildlichsten Lebens­wandel aus. Der Anteil der 15- und 16-Jährigen, die im letzten Monat betrunken waren, fiel von 1988 bis 2016 von 42 auf 5 Prozent. Statt vormals 17 Prozent haben heute nur noch 7 Prozent von ihnen jemals Cannabis probiert, und lediglich 3 Prozent rauchen täglich Zigaretten.

Wir nähern uns einem großen Gebäude. »Hier ist das Eislaufstadion«, erklärt Jónsson. Kurz zuvor haben wir eine Badminton- und eine Tischtennishalle passiert. Nun kommen wir an einem Sportplatz und einem geothermisch beheizten Schwimmbad vorbei. Endlich treffen wir auch auf einige Kinder und Jugendliche, die begeistert auf einem Kunstrasenfeld Fußball spielen. Laut Jónsson sieht man kaum junge Leute im Park herumlungern, weil sie stattdessen schulische Nachmittags­angebote nutzen. Oder in Musik-, Tanz- oder Kunstvereine gehen. Oder gerade einen Ausflug mit ihren Eltern machen.

Den Umschwung im Lebenswandel der Jugendlichen hat das Land durch drastische Maßnahmen herbeigeführt – indem es eine »vernünftige« Lebensgestaltung mit Nachdruck durchsetzte. Aber wie kam es dazu?

»Zur Zeit der psychedelischen Drogenbewegung befand ich mich im Auge des Orkans«, erzählt Milkman bei einer Tasse Tee in seiner Wohnung in Reykjavik. Das war Anfang der 1970er Jahre, er machte gerade als Student ein Praktikum an der psychiatrischen Klinik Bellevue in New York City. LSD war bereits in Mode, viele rauchten Marihuana, und die Heroinsucht erreichte ihren ersten Höhepunkt. In seiner Doktorarbeit kam Milkman zu dem Schluss, dass die Entscheidung für Heroin oder Amphetamine vom individuellen Umgang mit Stress abhing. Wer Heroin nahm, wollte sich betäuben. Wer dagegen Amphetamin konsumierte, tat dies, um sich aktiv mit dem Stress auseinanderzusetzen.

Nachdem er seine Arbeit veröffentlicht hatte, sollte sich Milkman im Auftrag der US-Drogenbehörde zusammen mit anderen Wissenschaftlern weiteren Fragen widmen: Warum greifen Menschen überhaupt das erste Mal zu Suchtmitteln? Weshalb machen sie weiter? Wann hören sie auf? Und aus welchen Gründen werden sie rückfällig?

Drogen zur Stressbewältigung

Jeder Erstsemesterstudent könne beantworten, warum jemand Drogen ausprobiere, meint Milkman. Da sind zum einen die Verfügbarkeit, zum anderen die Risiko­freude, manchmal Entfremdungsgefühle, vielleicht sogar eine Depression. »Aber warum kommen viele nicht mehr davon los?« Milkman vermutete, dass die Betroffenen bereits vor ihrem ersten Drogenkonsum gefährdet waren, weil der Suchtmittelmissbrauch ihrer individuellen Strategie zur Stressbewältigung entsprach.

Der Psychologe entwickelte seine Ideen an der US-amerikanischen Metropolitan State University of Denver weiter. Konfrontationsfreudige Jugendliche brauchen den Kick, so lautete seine Hypothese. Den holten sie sich, indem sie Radkappen, Radios und später ganze Autos stehlen – oder eben, indem sie stimulierende Drogen nehmen. »Letztlich können Menschen von Alkohol, Autos, Geld, Sex, Kalorien, Kokain und von allem Möglichen abhängig werden«, so Milkman. »Wir betrachteten damals Drogenabhängigkeit als Verhaltenssucht – das war unser Markenzeichen.« Und daran entzündete sich auch ihre nächste Idee: Warum nicht eine Initiative gründen, die Jugendlichen die Gelegenheit gibt, auf natürliche Weise »high« zu werden – aber ohne zerstörerische Drogen?

Bis 1992 hatte Milkmans Team in Denver Fördergelder in Höhe von 1,2 Millionen US-Dollar für das Projekt Self-Discovery (sich selbst entdecken) beschafft. Es sollte ­Jugendlichen helfen, ohne Suchtmittelkonsum in Hochstimmung zu kommen. Aufgenommen wurden Teenager ab 14 Jahren. Die Kinder sahen sich selbst nicht als hilfebedürftig; ihre Lehrer oder die Schulkrankenschwester hatten sie wegen Problemen mit Drogen oder Kleinkriminalität hingeschickt.

»Wir erzählten den Kids nichts von einer Behandlung. Stattdessen boten wir ihnen an: ›Wir bringen euch alles bei, was ihr lernen wollt: Musik, Tanz, Hiphop, Malen, Kampfkunst.‹« Die Idee war, den Jugendlichen ­zu geben, was sie brauchten, um besser mit ihrem Leben klarzukommen – ob sie nun von ihren Ängsten loskommen wollten oder einfach nur den Kick suchten. Gleichzeitig erhielten sie eine Art Lebensschulung. Hier ging es darum zu lernen, sich selbst und das Leben mehr wertzuschätzen und besser mit anderen zurechtzukommen. Drei Monate sollten die Kinder dabeibleiben; bei einigen wurden daraus fünf Jahre.

Schon 1991 hatte Milkman eine Einladung nach Island erhalten, um über seine Arbeit zu sprechen. Er beriet auch das erste ­isländische stationäre Drogentherapiezentrum für Jugendliche in der Stadt Tindar, wo man seine Ideen guthieß. Hier traf er auf Jónsson, der damals als Psychologiestudent ein Praktikum an der Einrichtung absolvierte. Seitdem sind sie befreundet.

Vorbeugen statt therapieren

Danach kam Milkman regelmäßig zu Vortragsreisen nach Island. Seine Vorträge und die neue Herangehensweise des Therapiezentrums inspirierten schließlich eine junge Soziologin an der Universität Island, Inga Dóra Sigfúsdóttir. Sie fragte sich: Könnte man den Ansatz, Kinder sinnvoll zu beschäftigen, nicht für ein umfassendes Präventionsprogramm nutzen, also nicht nur Jugendliche mit Suchtproblemen ansprechen, sondern alle Kids, damit diese gar nicht erst mit Drogen anfangen?

»Hast du schon mal Alkohol probiert? Wenn ja, wann hast du zum letzten Mal getrunken? Warst du schon mal betrunken? Hast du schon mal geraucht? Wenn ja, wie oft? Wie viel Zeit verbringst du mit deinen Eltern? Hast du eine enge Beziehung zu ihnen? An welchen Aktivitäten nimmst du teil?« 1992 beantworteten sämtliche 14-, 15- und 16-Jährigen in Island erstmals ­solche und weitere Fragen, dann noch einmal 1995 und 1997. Die Ergebnisse waren alarmierend: Fast 25 Prozent der Teenager rauchten jeden Tag Zigaretten, und mehr als 40 Prozent hatten sich im Monat zuvor betrunken.

Innovative Präventionsprojekte

Die in Island erfolgreiche Idee, Teenagern natürliche »Highs« zu verschaffen – offline und ganz ohne Drogen –, verfolgen auch in Deutschland einige gemeinnützige Initiativen:

Mountain Activity Club
Ermöglicht ehemaligen Drogen­abhängigen unter dem Motto »Kick durch Klettern« Bouldertrainings und Bergtouren in den Alpen.

Podcast »HiLights«
Prominente, Experten und Betroffene erzählen, was sie persönlich »high« macht – ohne Drogen und Suchtmittel.

KMDD – Keine Macht den Drogen
Bietet und unterstützt zahlreiche Präventionsprojekte, darunter dreitägige Abenteuercamps.

Als das Team die Daten weiter aufschlüsselte, konnte es Schulen mit den größten und die mit den geringsten Problemen identifizieren. Dabei zeigten sich deutliche Unterschiede zwischen Jugendlichen, die sich auf den Konsum von Alkohol, Tabak und Drogen einließen, und denen, die es nicht taten. Als besonders schützend erwies sich: häufig (drei- bis viermal wöchentlich) an Gruppenaktivitäten (insbesondere Sport) teilzunehmen, kontinuierlich viel Zeit mit den Eltern zu verbringen, das Gefühl, in der Schule ernst genommen zu werden, und: sich spät abends nicht mehr auf der Straße herumzutreiben.

Zu diesem Zeitpunkt hatten die isländischen Behörden bereits alle möglichen Anstrengungen gegen Drogenmissbrauch unternommen, berichtet Inga Dóra Sigfúsdóttir, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Befragung mitwirkte. Die meisten hatten Bildungscharakter: Die Jugendlichen wurden vor den Gefahren von Alkohol und Drogen gewarnt. Was aber weitgehend wirkungslos war, wie Milkman schon in den USA beobachtet hatte. »Wir brauchten etwas anderes.«

Für eine neue Herangehensweise interessierte sich auch Reykjaviks Bürgermeister. Sowie viele Eltern, ergänzt Jón Sigfússon, Inga Dóras Bruder und Kollege am 1999 neu gegründeten Isländischen Zentrum für Sozialforschung und -analyse (ICSRA). »Die Lage war ernst«, erklärt der zweifache Familienvater: »Es war klar, dass etwas geschehen musste.«

Ein interdisziplinäres Team machte sich daran, schrittweise den landesweiten Plan »Jugend in Island« einzuführen. Sogar Gesetze wurden geändert: Tabak durfte fortan nur noch an Personen über 18 Jahre, Alkohol nur noch an über 20-Jährige ausgegeben werden, die Werbung für beides wurde verboten. Außerdem mussten alle Schulen Elternorganisationen einrichten, und im Schulrat saßen fortan auch Eltern. Diese ermutigte man ausdrücklich, möglichst viel Zeit mit dem Nachwuchs zu verbringen – ab und zu gemeinsame »quality time« reiche nicht. Es geht darum, mit den Kindern über ihr Leben zu sprechen, zu wissen, mit wem sie ihre Zeit verbringen, und letztlich darum, dass sie abends zu Hause bleiben. Aus dieser Zeit stammt auch ein weiteres Aufsehen erregendes Gesetz: Jugendlichen zwischen 13 und 16 Jahren wurde es in Island untersagt, sich im Winter nach 22 Uhr und im Sommer nach Mitternacht draußen aufzuhalten.

1997 verbrachten nur 23 Prozent der 15- und 16-Jährigen häufig oder an fast allen Wochentagen Zeit mit ihren Eltern. Bis 2012 hatte sich der Anteil auf 46 Prozent verdoppelt

Der nationale Dachverband der Elternorganisationen »Zuhause und Schule« gibt schriftliche Vereinbarungen heraus, welche die Eltern unterschreiben können. Darin verpflichten sie sich beispielsweise, den Teenagern keine Partys ohne Aufsicht zu erlauben, keinen Alkohol für die Minderjährigen zu kaufen oder bei Festen auch andere Kinder im Auge zu behalten. Die Vereinbarungen verleihen den Empfehlungen erzieherischen Nachdruck und stärken die elterliche Autorität, argumentiert Hrefna Sigurjónsdóttir, Direktorin des Dachverbands. Das Argument »Aber alle anderen dürfen das!« zieht dann nicht mehr.

Sport treiben, musizieren, malen

Zudem erhöhte der Staat die Fördergelder für Sport-, Musik-, Kunst-, Tanz- und andere Vereine. Sie sollen ­Jugendlichen verschiedene Möglichkeiten bieten, sich als Teil einer Gruppe gut zu fühlen, ohne Alkohol oder ­andere Drogen. Kinder aus einkommensschwachen Familien werden bei der Teilnahme finanziell unterstützt. So erhalten Familien in Reykjavik (hier lebt etwa ein Drittel der isländischen Bevölkerung) über eine »Freizeitkarte« pro Kind jährlich einen Zuschuss von etwa 300 Euro.

Die Befragungen an Islands Teenagern werden fortgesetzt. Bis zu 20 000 Jugendliche füllen jährlich einen Fragebogen aus: 1997 verbrachten nur 23 Prozent der 15- und 16-Jährigen häufig oder an fast allen Wochentagen Zeit mit ihren Eltern. Bis 2012 hatte sich der Anteil auf 46 Prozent verdoppelt. Die Zahl derjenigen, die mindestens viermal pro Woche Sport treiben, stieg von 24 auf 42 Prozent. Gleichzeitig sank die Anzahl derer, die Zigaretten rauchen, trinken oder Cannabis konsumieren. Zwar lasse sich auf diese Weise kein ursächlicher Zusammenhang beweisen, räumt Álfgeir Kristjánsson ein, der die Daten analysierte und jetzt an der US-amerikanischen West Virginia University School of Public Health forscht: Der Trend sei allerdings sehr klar erkennbar. »Die Schutzfaktoren sind gestiegen, die Risikofaktoren gesunken, der Drogenmissbrauch ging zurück. In Island ist das deutlicher als in jedem anderen europäischen Land.«

Jón Sigfússon entschuldigt sich für seine Verspätung: »Es gab einen Notruf!« Er möchte nicht sagen, von wem, aber es ging um eine der Städte irgendwo auf der Welt, die Ideen von »Jugend in Island« übernommen haben. Sigfússon leitet das Projekt »Youth in Europe« (Jugend in Europa), das 2006 startete, nachdem man die be­merkenswerten Daten aus Island bei einem Treffen der Organisation »Europäische Städte gegen Drogen« präsentiert hatte. Es spielt sich mehr auf städtischer als auf nationaler Ebene ab. Im ersten Jahr hatten sich acht Stadtverwaltungen gemeldet, inzwischen nehmen 35 Bezirke aus 17 Ländern teil. Das Vorgehen ist immer gleich: Sigfússon und sein Team sprechen mit Vertretern der örtlichen Verwaltung und entwerfen einen Erhebungsbogen mit im Kern den gleichen Fragen, wie sie in Island gestellt werden. Dabei wird er nur etwas an­gepasst: In einigen Orten etwa wurden in letzter Zeit Onlineglücksspiele zu einem Problem. Hier wollte man wissen, ob ein Zusammenhang mit weiterem Risiko­verhalten besteht.

Sucht bei Jugendlichen in Deutschland

Die gute Nachricht vorweg: Auch bei uns rauchen und trinken Jugendliche heute weniger als früher. Griffen 2001 rund 28 Prozent der 12- bis 17-Jährigen regelmäßig zur Kippe, taten das 2015 laut der Drogenaffinitätsstudie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung nur noch knapp acht Prozent – ein historischer Tiefstand. Die Erhebung zeigt außerdem, dass jeder zehnte Jugendliche schon einmal E-Zigaretten ausprobiert hat. Seit April 2016 sind diese aller­dings für Minderjährige verboten.

Auch das gefährliche Rauschtrinken ist rückläufig. Während 2004 rund 23 Prozent der Jugendlichen angaben, mindestens einmal im vergangenen Monat mehr als vier bis fünf Gläser Alkohol getrunken zu haben, waren es 2015 noch 14 Prozent. Jeder Zehnte zwischen 12 und 17 Jahren trinkt einmal pro Woche ein alkoholisches Getränk oder sogar mehrere. Das sind halb so viele wie elf Jahre zuvor.

Cannabis hingegen wird offenbar beliebter. Nachdem der Anteil der Jugendlichen, die in den zwölf Monaten vor der Befragung gekifft hatten, zwischen 2004 und 2011 gesunken war, stieg er zuletzt von fünf auf sieben Prozent an. Noch stärker wächst die Zahl der ­ Online- und Videospielabhängigen. Mittlerweile gelten 600 000 Jugendliche und junge Erwachsene als internet­abhängig. Die Betroffenen haben ihre Computernutzung nicht mehr im Griff, vernach­lässigen andere Lebensbereiche und entwickeln Entzugssymptome, wenn sie nicht vor dem Bildschirm sitzen. Von 2011 bis 2015 hat sich diese Verhaltenssucht stark ver­breitet, bei den Mädchen sogar verdoppelt. Die Folgen sind mitunter Schlafprobleme, Hyper­aktivität, Konzentrationsschwierigkeiten und Sprachstörungen.

Staatliche Präventionspro­gramme setzen in Deutschland immer noch hauptsächlich auf Bildung und Informationen über die Gefahren der jeweiligen Substanz. Dabei zeigt eine Metaanalyse der Expertin für Gesundheitskommunikation Kim Witte von der Michigan State University, dass Abschreckung allein nicht besonders effektiv ist, um Menschen von gesundheitsschädlichem Verhalten abzuhalten.

Schon seit den 1950er Jahren ist erforscht, dass reine Furchtappelle, wenn überhaupt, nur kurzfristige Effekte haben. Botschaften, die uns nicht passen oder die im Kontrast zu unserem bisherigen Verhalten stehen, blenden wir nämlich nur zu gerne aus. Folgt auf die Angst machende Botschaft keine konkrete Handlungsanweisung, können Präventionsmaßnahmen sogar den gegenteiligen Effekt erzielen. Deshalb brauchen Jugendliche eine Alternative, wie sie ihren Alltag positiv und drogenfrei gestalten können. Hier bieten freizeitpädagogische Ansätze eine Chance.

Zwei Monate nachdem die Fragebogen wieder in Island eingetroffen sind, verschickt das Team bereits einen ersten Ergebnisbericht sowie Vergleichswerte von anderen teilnehmenden Regionen. »Wir sagen immer, Informationen müssen frisch sein, genau wie Gemüse«, meint Sigfússon. »Präsentiert man die Ergebnisse später, sagen die Leute: Ach, das ist ja lange her und hat sich vielleicht schon wieder geändert …« Wenn sich die Daten direkt auf den betroffenen Ort beziehen, können Schulen, Eltern und die Verwaltung genau sehen, welche Probleme bei ihnen existieren.

99 000 Fragebogen von so weit entfernten Orten wie den Färöer-Inseln, Malta, Rumänien und Südkorea hat das Team bereits ausgewertet. Kürzlich kamen Nairobi und Guinea-Bissau hinzu. Im Prinzip wirken hinsichtlich des Drogenkonsums von Jugendlichen überall die gleichen Schutz- und Risikofaktoren. Mit wenigen Ausnahmen: An einem Ort an der Ostsee erwies sich erstaunlicherweise die Teilnahme an organisierten Sportangeboten als Risikofaktor. Es stellte sich heraus, dass junge Exsoldaten diese Gruppen leiteten, und die hatten eine Vorliebe für muskelaufbauende Substanzen, Alkohol und Nikotin. Hier gab es also ein klar definiertes lokales Problem, das man angehen konnte.

Wie das Beispiel Bukarest mit seinen großen sozialen Problemen zeigt, greift das isländische Modell auch unter ­ganz anderen Bedingungen

Was die einzelnen Kommunen angesichts ihrer individuellen Ergebnisse unternehmen, bleibt ihnen selbst überlassen. Gelegentlich unternehmen sie gar nichts. Ein überwiegend muslimisches Land etwa, das Sigfússon nicht nennen möchte, zog sich aus dem Projekt zurück, nachdem die Daten einen unangenehm hohen Alkoholkonsum offenbart hatten. In manchen Städten – wie jener, aus der der »Notruf« kam – steht man den Ergebnissen zwar offen gegenüber. Aber mitunter sind Gelder für die gesundheitliche Prävention offenbar ungleich schwieriger zu erlangen als für nachträgliche Therapien.

Kostenlose Erziehungsberatung

In ganz Europa ist der Alkohol- und Drogenmissbrauch bei Jugendlichen in den letzten 20 Jahren zurückgegangen, nirgends jedoch so dramatisch wie in Island. In Großbritannien könnte die Tatsache, dass Jugendliche sich inzwischen eher online als persönlich austauschen, einer der Hauptgründe für den gesunkenen Alkoholkonsum sein. Kaunas in Litauen dagegen ist ein Beispiel dafür, was man mit aktiver Intervention erreichen kann: Schulen, Eltern, Gesundheitsorganisationen, Kirchen, Polizei und Sozialdienste setzten sich im Kampf gegen Drogenmissbrauch zusammen. Seither erhalten Eltern acht- oder neunmal im Jahr eine kostenlose Erziehungs­beratung, und es gibt Sondermittel für öffentliche ­Einrichtungen oder gemeinnützige Organisationen, die sich dem Erhalt der psychischen Gesundheit widmen.

Seit 2015 bietet die Stadt zudem dreimal die Woche gratis Sportkurse an. Für Familien mit geringem Einkommen soll ein kostenloser Fahrdienst für Kinder eingerichtet werden, die weiter entfernt wohnen. Daraufhin fiel zwischen 2006 und 2014 die Zahl der 15- und 16-Jährigen in Kaunas, die sich laut eigener Aussage im vorangegangenen Monat betrunken hatten, um ein Viertel; der Anteil derjenigen, die täglich rauchten, sank um mehr als 30 Prozent.

Drogentrends in Deutschland

Das Team in Island ist klein. Ginge es nach Sigfússon, sollte sich eine zentrale Institution mit eigenen Fördergeldern des Projekts »Youth in Europe« annehmen: »Wir machen das zwar schon seit zehn Jahren, aber es ist ja nicht unsere Hauptbeschäftigung. Es wäre schön, wenn wir Mitstreiter fänden.«

Gemeinsam Schafe hüten

Nach unserem Spaziergang durch den Laugardalur-Park nimmt uns Gudberg Jónsson mit zu sich nach Hause. Draußen im Garten plaudere ich mit seinen beiden älteren Söhnen, dem 21-jährigen Jón und dem 15-jährigen Birgir. Jón, der seit Kurzem an der Universität Island Wirtschaft studiert, trinkt Alkohol, doch sein jüngerer Bruder meint, er kenne niemanden an seiner Schule, der raucht oder trinkt. Wir unterhalten uns auch über Fußball: Birgir spielt fünf- bis sechsmal, Jón fünfmal die Woche. Beide begannen im Alter von sechs Jahren mit dem regelmäßigen Training nach der Schule. »Musstet ihr trainieren, obwohl ihr lieber etwas anderes getan hättet?« »Nein, es hat uns einfach Spaß gemacht«, meint Birgir. Jón fügt hinzu: »Wir haben es ausprobiert und uns daran gewöhnt, also sind wir dabeigeblieben.« Fußball ist nicht ihre einzige Freizeitbeschäftigung. Jónsson und seine Frau Thórunn planen zwar nicht bewusst eine bestimmte Anzahl von Stunden pro Woche für Familienausflüge ein, doch sie versuchen regelmäßig zusammen mit ihren Kindern ins Kino, ins Theater, zum Essen, zum Wandern oder zum Angeln zu gehen. Und jeden September, wenn die isländischen Schafe aus dem Hochland herunterkommen, gehen sie gemeinsam Schafe hüten.

Jón wurde ein Fußballstipendium an der US-amerikanischen Metropolitan State University of Denver angeboten, Birgir hat man inzwischen in die isländische U17-Nationalmannschaft berufen. Könnte das Programm womöglich einer der Gründe sein, warum Island England bei der Fußball-Europameisterschaft 2016 vernichtend geschlagen hat? Auf diese Frage antwortet Inga Dóra Sigfúsdóttir augenzwinkernd: »Wir sind auch musikalisch erfolgreich, etwa mit ›Monsters and Men‹«. Das sind junge Menschen, die man quasi zum Musikmachen drängte, erklärt sie. Einige hätten sich später bedankt. Kinder und Jugendliche brauchen keine Drogen, wenn ihnen das Leben Spaß macht, ist sich die Soziologin sicher.

In Bukarest nahm nach der Einführung von »Youth in Europe« neben dem Alkohol- und Nikotinkonsum auch die Selbstmordrate unter Jugendlichen ab. In Kaunas ist die Zahl der straffälligen Kinder innerhalb eines Jahres um ein Drittel gesunken. Harvey Milkman denkt angesichts der Erfolge an sein eigenes Land, die USA. Könnte das Modell dort ebenfalls funktionieren? 325 Millionen Menschen in den USA, 330 000 in Island. 33 000 Banden dort, praktisch keine hier. Und etwa 1,3 Millionen obdachlosen amerikanischen Jugendlichen stehen auf der Insel nur eine Hand voll gegenüber. Andererseits zeigt das Beispiel Bukarest mit seinen großen sozialen Problemen und starker relativer Armut, dass das isländische Modell auch unter ganz anderen Bedingungen greift. Dennoch habe ein nationales, langfristiges Unterfangen ähnlich »Jugend in Island« in den USA wohl kaum eine Chance, vermutet Milkman: »Mit ›Self-Discovery‹ schienen wir das beste Programm der Welt zu haben. Ich wurde zweimal ins Weiße Haus eingeladen. Wir gewannen nationale Preise. Ich dachte: Das wird in jeder Stadt und in jedem Dorf eingeführt. Wurde es aber nicht.«

Der Psychologe geht davon aus, dass Islands Modell in etlichen Ländern an mangelndem Engagement scheitert. Hinzu kommen grundsätzliche Vorbehalte: »Wie viel Kontrolle können wir dem Staat über unsere Kinder einräumen?« und »Darf sich die Regierung überhaupt so stark in die individuelle Lebensgestaltung einmischen?«. In Island hat sie es getan – und nicht bereut.

Von »Gehirn&Geist« übersetzte und bearbeitete Fassung von Young, E.: Iceland knows how to stop teen substance abuse but the rest of the world isn't listening. In: Mosaic / CC BY 4.0. Mosaic ist eine Publikation der Wellcome-Stiftung.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

  • Quellen

Literaturtipp

Milkman, H. B., Wanberg, K. W.: Pathways to Self-Discovery and Change: A Guide for Responsible Living. The Participant's Workbook. SAGE Publications, Inc., Thousands Oaks, California, 2. Auflage 2012
Ein Arbeitsbuch für die jugendlichen Teilnehmer des in den USA angewandten Programms Self-Discovery and Change


Quellen

Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung: Drogen- und Suchtbericht. Bundesministerium für Gesundheit, Berlin 2017

Kristjánsson, A. L. et al.: Data Collection Procedures for School-Based Surveys among Adolescents: The Youth in Europe Study. In: Journal of School Health 83, S. 662–667, 2013

Kristjánsson, A. L. et al.: Population Trends in Smoking, Alcohol Use and Primary Prevention Variables among Adolescents in Iceland, 1997–2014. In: Addiction 111, S. 645–652, 2016

Witte, K., Allen, M.: A Meta-Analysis of Fear Appeals: Implications for Effective Public Health Campaigns. In: Health Education&Behavior ticle 27, S.591–615, 2000

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.