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Medizin-Nobelpreis 2022: Der Genetiker, der den Neandertaler in uns fand

Der Genetiker Svante Pääbo rekonstruierte das Erbgut längst ausgestorbener Frühmenschen. Er zeigte: Mit dem Neandertaler hat der moderne Mensch mehr gemein als lange angenommen. Dafür erhielt er den Nobelpreis für Medizin oder Physiologie 2022.
Medizin-Nobelpreisträger Svante Pääbo neben einem rekonstruierten Neandertaler-Schädel
Der Medizin-Nobelpreisträger 2022 Svante Pääbo mit einem rekonstruierten Neandertaler-Schädel.

Kaum eine Frage dürfte die Menschheit so sehr beschäftigen wie die nach ihren Wurzeln. Woher kommen wir, wer sind wir, wohin gehen wir – darüber zermartern sich Geistliche, Gelehrte und Philosophen bereits seit Jahrtausenden den Kopf. Den französischen Maler Paul Gauguin trieb das Thema offenbar so sehr um, dass er ihm im 19. Jahrhundert sogar ein gleichnamiges Gemälde widmete. Das Werk, das sich zugleich mit dem Sinn und der Vergänglichkeit des Lebens befasst, ist bis heute sein berühmtestes.

Auch auf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler übt die Frage nach der Herkunft des Menschen seit jeher eine große Faszination aus. Statt für Sinnfragen interessieren sie sich jedoch in aller Regel eher für harte Fakten: Wann und wo tauchte der moderne Mensch – Homo sapiens – das erste Mal auf? Was unterscheidet ihn von anderen Mitgliedern der Gattung Homo und ermöglichte es ihm, eine derart beispiellose Kultur zu entwickeln?

Dass wir den Antworten auf diese Fragen heute ein ganzes Stück näher sind als noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts, ist unter anderem den Arbeiten des Paläogenetikers Svante Pääbo zu verdanken. Ihm gelang, was andere lange für unmöglich gehalten hatten: Er entschlüsselte das Genom des Neandertalers, eines Verwandten des modernen Menschen, der vor rund 30 000 Jahren ausstarb. Die Nobelversammlung am Karolinska-Institut in Stockholm ehrte ihn deshalb für seinen Beitrag zur Erforschung der menschlichen Evolution in diesem Jahr mit dem Nobelpreis für Medizin oder Physiologie.

Alte DNA lässt sich nur schwer analysieren

Als Pääbo in den 1980er Jahren begann, sich mit alter DNA zu beschäftigen, war der Fund des Neandertalers Schnee von gestern. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts hatte man die ersten Fossilien der Frühmenschenart ausgegraben. Schon auf den ersten Blick schien diese Art so eng wie kaum eine andere mit dem modernen Menschen verwandt zu sein. Wie Neandertaler und Homo sapiens tatsächlich zueinander standen, war in den Jahrzehnten nach der Entdeckung immer wieder kontrovers diskutiert worden. So stellte sich etwa die Frage, ob der Neandertaler womöglich ein Vorfahre des modernen Menschen gewesen sein könnte – eine These, die die meisten Fachleute inzwischen verworfen haben.

Genetische Daten hätten zweifelsohne dazu beitragen können, die Verbindung zwischen modernen Menschen und Neandertalern zu erhellen. Doch wie sollte man sich diese beschaffen? Das Erbgut einer lebendigen Spezies zu analysieren, war eine Sache, das einer seit Zehntausenden von Jahren ausgestorbenen eine völlig andere. Denn mit der Zeit verändert sich DNA chemisch und zerfällt nach und nach in kurze Fragmente. Jahrtausende später sind nur noch Spuren von ihr vorhanden – die dazu meist stark durch fremde DNA verunreinigt sind.

Von der Mumie übers Mammut zum Neandertaler

Pääbo schreckte das nicht ab. Bereits 1984 war ihm während seiner Promotion an der schwedischen Universität Uppsala eine kleine Sensation gelungen, als er es zum ersten Mal schaffte, DNA aus den Zellen einer 2400 Jahre alten ägyptischen Mumie zu isolieren. Aus Angst, sein Doktorvater würde ihm die Forschung verbieten, führte er seine Studien heimlich nachts und am Wochenende durch, wie er rückblickend erzählte. Doch spätestens, als das Fachblatt »Nature« die Ergebnisse aufgriff, war seine Arbeit in aller Munde.

Bald darauf schloss sich Pääbo der Arbeitsgruppe von Allan Wilson an der University of California in Berkeley an, die damals als einzige Arbeiten zu DNA aus fossilem Gewebe veröffentlicht hatte. Hier beschäftigte er sich unter anderem mit dem Erbgut von ausgestorbenen Tieren wie Mammuts und Höhlenbären. Der Neandertaler habe schon immer auf seiner Liste gestanden, erklärte Pääbo 2008 in einem Interview mit »Spektrum der Wissenschaft«: Er wolle ergründen, was den Menschen zum Menschen macht, welche genetischen Veränderungen zur Menschwerdung beitrugen.

Nun hatte die Welt erstmals Zugriff auf ein Stück Neandertaler-Erbgut

Ab 1990 setzte er seine Forschung an der Universität München fort. Hier beschloss er, sich zunächst auf mitochondriale DNA zu konzentrieren, die im Vergleich zu DNA aus dem Zellkern in einer deutlich höheren Zahl von Kopien vorliegt. Und tatsächlich: 1997 gelang es ihm schließlich, die Erbsubstanz aus einem rund 40 000 Jahre alten Neandertaler-Knochen zu isolieren, der Teil jenes Skeletts war, das man in den 1850er Jahren im Neandertal bei Düsseldorf gefunden hatte. Damit hatte die Welt erstmals Zugriff auf ein Stück Neandertaler-Erbgut!

Vergleiche mit der mitochondrialen DNA von modernen Menschen und Schimpansen zeigten bald, dass der Neandertaler sich genetisch von beiden Spezies unterschied: Mehr als zehn Prozent ihrer Gene teilten Homo sapiens und Homo neanderthalensis in keinem Fall.

Bis zu vier Prozent der menschlichen Gene stammen vom Neandertaler

Im Gegensatz zur DNA aus dem Zellkern ist das mitochondriale Genom allerdings klein: Es enthält nur einen Bruchteil aller Gene, die ein Lebewesen besitzt, und verfügt damit nur über eine begrenzte Aussagekraft. Am vollständigen Neandertaler-Genom führte deshalb kein Weg vorbei. Um die letzte Hürde zu nehmen, verfeinerte Pääbo, inzwischen Direktor des neu gegründeten Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, seine Methoden in den kommenden Jahren immer weiter. 2010 gelang ihm schließlich der Durchbruch und er konnte der Welt die erste Version eines vollständig sequenzierten Neandertaler-Genoms vorlegen.

Die Ergebnisse von Pääbo und seinem Team deuteten darauf hin, dass der letzte gemeinsame Vorfahre von modernen Menschen und Neandertalern vor rund 800 000 Jahren gelebt haben muss. Sie belegen außerdem einen Genfluss vom Neandertaler zum modernen Menschen: Beide Spezies pflanzten sich offenbar in den Jahrtausenden, die sie gemeinsam auf der Erde weilten, miteinander fort – vornehmlich in Europa und Asien, wo das Genom der Menschen noch heute zu etwa einem bis vier Prozent aus Neandertaler-Genen besteht.

»Seine Arbeiten haben unser Verständnis der Evolutionsgeschichte der modernen Menschen revolutioniert«Martin Stratmann, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft

Spuren im Genom von Homo sapiens hat auch der Denisova-Mensch hinterlassen, dessen Genom Pääbo und sein Team ebenfalls sequenzierten. Mit ihrer Arbeit konnte die Gruppe nicht nur zeigen, dass es sich bei den Homininen, auf deren Fossilien man 2008 in der Denissowa-Höhle im Altai-Gebirge in Sibirien stieß, um eine neue, bis dahin unbekannte Frühmenschenart handelte. Ihre Analysen zeigten auch, dass sie ebenfalls engen Kontakt zum modernen Menschen gepflegt haben mussten: In einigen Regionen Südostasiens teilen die Menschen bis zu sechs Prozent ihrer Gene mit den ausgestorbenen Denisovanern.

Der Kreis schließt sich

Heute gilt Pääbo zu Recht als einer der Begründer der Paläogenetik. »Seine Arbeiten haben unser Verständnis der Evolutionsgeschichte der modernen Menschen revolutioniert«, erklärt Martin Stratmann, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, in einer Pressemitteilung. Ähnlich äußert sich Chris Stringer vom Natural History Museum in London. Dass Pääbo nun den Nobelpreis erhalte, seien großartige Neuigkeiten, sagte der Paläoanthropologe gegenüber »Nature«.

Denn letztlich hat seine Arbeit nicht nur ein neues Licht auf unsere Vergangenheit geworfen: Immer mehr Studien deuten darauf hin, dass unser Neandertaler-Erbe auch unsere Gegenwart beeinflusst. So scheinen manche der Gene zum Beispiel einen Einfluss darauf zu haben, wie das Immunsystem auf diverse Krankheitserreger reagiert. 2021 sorgten Pääbo und sein Team für Schlagzeilen, als sie berichteten, Menschen mit einer bestimmten Neandertaler-Variante auf dem dritten Chromosom hätten ein höheres Risiko dafür, schwer an Covid-19 zu erkranken.

Die Antworten auf die Fragen, woher wir kommen und wohin wir gehen, könnten damit am Ende vielleicht enger beieinanderliegen als gedacht.

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