Stigma Monatsblutung: »Frauen müssen so tun, als ob sie nicht menstruieren«
Viele Frauen sprechen nicht gern darüber, wenn sie unter der Menstruation leiden, zumindest nicht gegenüber Männern. Den Kollegen sagen sie lieber, dass sie schlecht geschlafen haben, und auf dem Weg zur Toilette verstecken sie den Tampon in der Hosentasche. Die Historikerin Kaat Wils von der Katholischen Universität Löwen in Belgien schildert, was hinter dem Tabu steckt.
»Spektrum.de«: War es das Christentum, das die Menstruation mit einem Tabu belegt hat?
Kaat Wils: Bei den Griechen war die Monatsblutung tatsächlich viel weniger tabuisiert. Sie betrachteten die Menstruation im Zusammenhang mit der so genannten Vier-Säfte-Lehre. Demnach bestand der Mensch aus vier Körpersäften: Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle. Die Säfte sollten im Gleichgewicht stehen, und das geschah, indem der Mensch schwitzte, urinierte oder blutete. Die Menstruation war also eine Methode, mit der sich der Körper von überschüssigen Stoffen befreite, eine Art Reinigung. Diese Sichtweise hat sich bis ins 18. Jahrhundert gehalten. Stillende Frauen, die nicht bluten, bleiben nach dieser Logik im Gleichgewicht, weil sie überschüssiges Blut in Milch umwandeln und ausscheiden. Es gibt auch Quellen, die von Männern berichten, die menstruieren.
Wie darf man sich menstruierende Männer vorstellen?
Das konnten zum Beispiel blutende Hämorriden sein. Aus ärztlicher Sicht war das gesund, weil sich der Körper auf diese Weise säubern konnte.
Welchen Einfluss hatte dann das Christentum?
Das Alte Testament erwähnt ein Verbot von Sex während der Menstruation. Die Christen haben das Verbot dann mit dem Sündenfall in Verbindung gebracht: Eva hatte nicht auf Gott gehört und wurde dafür mit monatlichen Blutungen bestraft. Sex wurde mit Sünde verbunden, sofern er nicht der Fortpflanzung diente. Das gilt in ähnlicher Weise für die jüdische und die islamische Tradition. Auch die griechische Vier-Säfte-Lehre hat das übernommen und die Menstruation mit Sünde und Unsauberkeit verknüpft. Im Lauf der Zeit kamen noch ein paar Regeln dazu: Frauen dürfen nicht zur Kommunion gehen, wenn sie ihre Tage haben; sie dürfen nicht kochen, denn wenn sie Mayonnaise machen, gerinnt diese. Solche Regeln hat es auf der ganzen Welt gegeben, in allen Kulturen. Bei uns waren sie bis weit ins 20. Jahrhundert verbreitet. In anderen Teilen der Welt gab es beispielsweise Menstruationshütten, in die sich Frauen einige Tage zurückzogen. Das hat nicht unbedingt mit Unterdrückung zu tun, es kann auch eine gute Erfahrung sein und die Identität stärken.
Die Art und Weise, wie die Griechen den Körper betrachteten, hat sich bis ins 18. Jahrhundert gehalten, sagen Sie. Was kam danach?
Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts wurde die Menstruation verknüpft mit weiblicher Schwäche, Krankheiten und psychischen Störungen. Die Säfte-Lehre war abgeschrieben, es entwickelte sich ein neues Menschenbild, das auf der Biologie und den biologischen Unterschieden zwischen Mann und Frau aufbaute. Das Modell der Vier-Säfte-Lehre ging von einer Art »Basismensch« aus. Die Frau war demnach ein nach innen gekehrter Mann; der Penis war bei ihr sozusagen ins Körperinnere umgestülpt. Erst im 19. Jahrhundert hat man angefangen, Männer und Frauen als sehr unterschiedlich wahrzunehmen.
»Wenn man medizinische Fachzeitschriften aus dem 19. Jahrhundert liest, scheint es so, als sei die Menstruation das Einzige, was eine Frau ausmacht«
Unter dem Einfluss der empirischen Forschung begann man mehr und mehr zu glauben, dass das Wesen von Mann und Frau in biologischen Merkmalen gründet. Für die Griechen war ein Mann an erster Stelle nicht eine Person mit einem Penis, sondern jemand, der auf dem Marktplatz seine Stimme erheben konnte. Ab dem 18./19. Jahrhundert wurden biologische Unterschiede herangezogen, um Geschlechterrollen zu legitimieren. Die Menstruation wurde zu einem wichtigen Aspekt des Frauseins. Wenn man medizinische Fachzeitschriften aus dem 19. Jahrhundert liest, scheint es so, als seien die Menstruation und die damit einhergehenden Probleme das Einzige, was eine Frau ausmacht.
Die Menstruation diente dazu, Frauen zu diskriminieren?
Ja. Ende des 18. Jahrhunderts gab es erstmals Debatten darüber, ob auch Frauen Zugang zur Bürgerschaft und zum öffentlichen Raum bekommen dürfen. Es ist kein Zufall, dass jedes Argument genutzt wird, um die Unterdrückung von Frauen zu rechtfertigen. Je mehr die Menstruation mit Schwäche verbunden wird, desto mehr Argumente gibt es, Frauen daran zu hindern, zu studieren, in die Politik zu gehen oder Anwältin zu werden: Studieren oder arbeiten sei zu schwer für Frauen, sie könnten Menstruationsbeschwerden bekommen und verrückt werden. Ist eine Frau müde, wird das mit der Regelblutung verbunden. Der Monatszyklus sorge dafür, dass Frauen irrational, unzuverlässig und labil seien. Wenn man nach »Menstruation« und »folie« (deutsch: Wahnsinn, Verrücktheit, Anm. d. Red.) googelt, findet man dutzende Publikationen von Ärzten, die auf Gefahren in Zusammenhang mit der Menstruation hinweisen.
»Wir haben uns endlich vom christlichen Menstruationstabu befreit. Aber an seine Stelle ist ein anderes Tabu getreten, ein Zwang zur Diskretion«
Heute ist die Monatsblutung längst kein Grund mehr, um als Frau nicht zu arbeiten oder nicht in die Politik zu gehen. Wann war der Wendepunkt?
Anfang des 20. Jahrhunderts. Eine Reihe von Faktoren spielte dabei eine Rolle. Um 1900 gab es in Europa Panik wegen fallender Geburtenraten. Man fürchtete eine Entvölkerung. Die Idee: Wir brauchen ein starkes Frauenbild, und wir müssen weg von der Vorstellung, dass Frauen die ganze Zeit müde sind und unter der Menstruation leiden. Außerdem gab es eine feministische Bewegung, die für das Recht stritt, zu studieren und Ärztin oder Anwältin zu werden. Und während des Ersten Weltkriegs haben Frauen die Arbeit der abwesenden oder gefallenen Männer übernommen, wodurch klar wurde, dass auch Frauen aus höheren sozialen Schichten solide arbeiten können. Das passte gut zum aufkommenden Kapitalismus: Arbeitskräfte mussten jederzeit verfügbar sein. Gleichzeitig gab es zum ersten Mal wissenschaftlich fundiertes Wissen über den weiblichen Zyklus und die Geschlechtshormone. Man könnte meinen, es müsste doch gut sein, die Frau als stark und mächtig anzusehen. Wir haben uns endlich vom christlichen Menstruationstabu befreit. Aber an seine Stelle ist ein anderes Tabu getreten, ein Zwang zur Diskretion. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts müssen Frauen so tun, als ob sie nicht menstruieren.
Woher kommt die Idee, dass wir die Regelblutung verbergen müssen?
Am Anfang wurde das ziemlich bewusst eingesetzt, im Rahmen der Aufklärung von Mädchen. Mit der Botschaft, dass Frauen keineswegs Opfer ihrer Menstruation sind, dass sie nicht schwach sind. Das bedeutete teils eine Stärkung der Frau. Aber der Preis dafür war hoch: ein neues Tabu. Die Norm war weiter männlich, Frauen durften mitmachen, solange sie sich nicht anmerken ließen, dass mit ihrem Körper etwas anders ist. Tampons, die in den Fünfzigerjahren auf den Markt kamen, waren in diesem Sinn ein Gottesgeschenk. Damit konnte man die Blutungen noch besser verbergen als mit einer Binde.
Sie haben gesagt, das Tabu wurde den Mädchen bei ihrer Aufklärung auferlegt. Wie genau lief das ab?
Ab den 1960er Jahren gab es in der Schule Aufklärungsunterricht. Den Schülerinnen wurde erklärt, bei der Menstruation handle es sich um eine missglückte Befruchtung. Oft wurde der Unterricht vom Pastor oder von einer Ordensschwester gehalten. So konnte die Kirche kontrollieren, was über Sexualität erzählt wurde. In den Achtzigerjahren hatte ich selbst in der Schule Aufklärungsunterricht bei einer Schwester. Sie vermittelte eine zweideutige Botschaft: Schweig darüber und sei stark. Diese Botschaft geht zurück auf den Umgang mit Menstruation im frühen 20. Jahrhundert: Stell dich nicht an, sprich nicht darüber, und sag vor allem nicht, dass es belastend ist. Das ist schade, denn jede weiß, dass es manchmal schlimm ist und die Bauchschmerzen stark sein können. Warum kann man nicht einfach auf der Arbeit sagen, dass man Regelschmerzen hat?
»Wenn man sehen kann, dass eine Frau ihre Tage hat, sinkt ihre Autorität«
Ist das immer noch so? Heute sind wir doch rund 100 Jahre weiter. Gibt es weiterhin ein Tabu?
Ich denke schon. Frauen ziehen immer noch keine weißen Hosen an, wenn sie ihre Tage haben. So, dass niemand etwas sehen kann … Ich erinnere mich an ein sozialpsychologisches Experiment: Bei einem gestellten Bewerbungsgespräch sollten die Kandidatinnen etwas aus ihrer Tasche nehmen. Bei einer Gruppe fiel dabei eine Haarspange auf den Boden, bei der anderen ein Tampon. War es der Tampon, wurden die Bewerberinnen unsicherer, und diejenigen, die das Gespräch führten, hatten einen schlechteren Eindruck von ihnen. Wenn man sehen kann, dass eine Frau ihre Tage hat, sinkt ihre Autorität. Deshalb sind wir alle darauf bedacht, die Monatsblutung zu verbergen.
Dennoch habe ich den Eindruck, dass das Tabu langsam bröckelt.
Absolut. Das sieht man auch in der Wissenschaft. Als ich mich gestern auf dieses Interview vorbereitet habe, war das erste Buch, auf das ich stieß, eines mit dem Titel »Critical Menstruation Studies«. Es steht für unsere Zeit: ein Buch mit allerlei kritischen Betrachtungen zum Thema Werbung, zur Rolle von Gottesdiensten, zum Körper von Transmenschen … Vor 30 Jahren hätte man das noch kaum verstanden. Es gibt heute mehr Offenheit dafür, die alten Kategorien von Männlichkeit und Weiblichkeit, Körper und Ungleichheit zu hinterfragen und sichtbar zu machen.
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