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Geodäsie: 1,6 Millisekunden zu kurz

Vermutlich wird es kaum jemand bemerkt haben, aber der 29. Juni war der kürzeste jemals aufgezeichnete Tag. Was Wind, Eis und Berge damit zu tun haben.
Die Erde aus dem All betrachtet
Ein Tag hat selten exakt 24 Stunden.

Ein Tag hat 24 Stunden, richtig? Nun ja, fast. Auch wenn es in der Regel völlig unbemerkt bleibt: Kaum einer unserer Tage ist exakt so lang. Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, von Jahreszeit zu Jahreszeit und sogar von Tag zu Tag beschleunigt und verlangsamt sich die Erdrotation, wodurch Millisekunden zu unserer 24-Stunden-Zählung hinzukommen oder wegfallen. Ausgeglichen wird dies mit so genannten Schaltsekunden, die nach Bedarf eingefügt werden. Diese Schwankungen sind aber nicht nur eine Eigenart unseres rotierenden Planeten, sondern werden auch durch uralte Eisschilde, starke Winde und die Dynamik des Erdkerns beeinflusst.

Einige Tageslängen weichen jedoch extremer ab als andere. So war der 29. Juni 2022 fast 1,6 Millisekunden kürzer als 24 Stunden – und ist damit der kürzeste jemals aufgezeichnete Tag. Für alle Kenner dieses Phänomens war dies allerdings keine Überraschung. Seit mehr als einem halben Jahrhundert rotiert die Erde im Schnitt immer schneller, so dass unsere Tage langsam um Bruchteile von Millisekunden kürzer werden. Diese langfristige Verkürzung der Tageslänge sowie jahreszeitliche Auswirkungen auf die Erdrotation und ein kleiner Extrakick durch tägliche Klimaeffekte wie Windveränderungen verhalfen dem 29. Juni zu dem Rekord – und all das wegen der Drehimpulserhaltung.

Dieses physikalische Prinzip ist vielen von uns intuitiv bekannt. Stellen Sie sich vor, Sie setzen sich auf einen drehbaren Bürostuhl – oder, wenn Sie es lieber sportlich mögen, ziehen Sie sich ein Paar Rollschuhe an und drehen Sie sich in einer Pirouette um sich selbst. Wenn Sie Ihre Arme nach außen strecken, verlangsamt sich die Drehung. Wenn Sie Ihre Arme einziehen, drehen Sie sich wieder schneller.

Drehimpuls lässt sich nicht aus dem Nichts herbeizaubern

Der Drehimpuls setzt sich aus drei Komponenten zusammen: der Masse des rotierenden Objekts, der Geschwindigkeit, mit der es sich bewegt, und seinem Abstand vom Punkt, um den es sich dreht. Im Fall des Bürostuhls sind Ihre vollständig ausgestreckten Arme weiter vom Sitz entfernt, was den Drehimpuls Ihrer Arme erhöht. Wie Masse und Energie lässt sich aber auch der Drehimpuls nicht aus dem Nichts herbeizaubern: Ihre Arme müssen ihn sich irgendwo herholen. Sie können aber Ihr Gewicht nicht plötzlich reduzieren, also bleibt nur die Möglichkeit, langsamer zu werden.

Für die Erde gelten auf ihrer Reise um die Sonne dieselben Regeln. Unser Heimatplanet muss – einschließlich des festen Gesteins unter unseren Füßen, der Ozeane und der Atmosphäre – ständig Masse und Drehimpuls »verteilen«, was bedeutet, dass sich auch Rotationsgeschwindigkeit und Tageslänge anpassen. »Die Tageslänge ist ein Maß für die gesamte Erde«, sagt der Geodät Jianli Chen von der Polytechnischen Universität Hongkong. »Es ist nicht nur eine Zahl. Es verstecken sich eine Menge Geschichten dahinter.«

Mitunter den stärksten Einfluss auf die Erdrotation im Lauf eines Jahres – und damit auch eine Teilschuld an den fehlenden 1,6 Millisekunden des 29. Juni – haben die Winde, insbesondere die starken Jetstream-Winde in der nördlichen Hemisphäre. »Immer wenn sie stärker werden, nimmt der Drehimpuls der Atmosphäre zu und der Drehimpuls der festen Erde nimmt ab«, erklärt Sigrid Böhm, Geodätin an der Universität Wien, die die Auswirkungen des Klimas auf die Erdrotation untersucht. »Wenn in der nördlichen Hemisphäre Winter ist, dreht sich die Erde langsamer und im Sommer schneller.«

Die Reibung zwischen Luft und Landmasse, die vor allem durch Hügel und Berge verursacht wird, ermöglicht es der Atmosphäre, ihren Drehimpuls mit dem Land auszutauschen. Diese wechselseitige Beziehung erklärt, warum der Jetstream auf der Südhalbkugel, wo er hauptsächlich über den Ozean bläst, keine so spürbaren Auswirkungen hat. Die Strömung in den Meeren hat eine ähnliche, aber viel geringere Auswirkung auf die Rotation der Erde. Selbst kurzfristige Veränderungen von Wind und Wetter können also ausreichen, um die Länge eines Tages um den Bruchteil einer Millisekunde zu verändern. Das verfälscht die jährlichen und dekadischen Trends, sagt Chen.

Bewegt sich die Masse innerhalb der Erde, wirkt sich auch das auf die Rotation des Planeten aus. Vor etwa 20 000 Jahren, auf dem Höhepunkt der letzten Eiszeit, bedeckten riesige, mehrere Kilometer dicke Eisschilde einen Großteil der Nordhalbkugel. Diese Eisschilde waren so groß, dass sie einen Teil des Erdmantels, die langsam fließende Gesteinsschicht unter der kühlen Kruste, unter sich wegdrückten. Das kann man sich so ähnlich vorstellen, wie wenn man den Daumen auf ein weiches Karamellbonbon presst und etwas davon zur Seite herausdrückt. Jetzt, da die Eisschilde geschmolzen sind, schiebt sich die Landmasse sehr langsam zurück, bewegt Gestein und führt zu einer vorhersehbaren Verkürzung der Tageslänge im Lauf der Zeit.

Tagen werden seit den 1960er Jahren im Schnitt kürzer

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vermuten jedoch, dass die immer kürzeren Tage, die wir seit den 1960er Jahren beobachten – und die mit dem Rekord vom 29.  Juni ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht haben –, aus einer viel tieferen Schicht stammen: knapp 3000 Kilometer unter unseren Füßen, wo das Gestein des Erdmantels auf das heiße, dichte Metall des Erdkerns trifft. Da sich der Kern nicht direkt beobachten lässt, ist man sich noch nicht einig, was in den metallischen Schichten unseres Planeten vor sich geht, was also diese langfristige Zunahme der Erdrotation genau verursacht. Wahrscheinlich hängt sie jedoch mit den Erschütterungen an der Grenze zwischen Erdkern und Erdmantel zusammen.

Eine andere Möglichkeit: Der jahrzehntelange Trend ist darauf zurückzuführen, dass die Erde nicht exakt kugelförmig ist – ein Effekt, der als Chandler-Wackeln bekannt ist. Weil die Achse, um die sich unser Planet dreht, nicht ganz mit seiner tatsächlichen geometrischen Symmetrieachse übereinstimmt, versucht die Rotationsachse immer wieder, sich anzupassen. Dadurch zittert die Erde ständig etwas. Wie stark sich das Chandler-Wackeln auf die Tageslänge auswirkt, ist noch offen.

»Wir versuchen immer, alle Effekte, die wir kennen, zusammenzufassen und zu sehen, ob wir so das Zeitkonto vervollständigen können«Sigrid Böhm, Geodätin an der Universität Wien

Wissenschaftler erforschen die Bedeutung all dieser Prozesse mit Hilfe mathematischer Modelle und indem sie unseren Planeten aus dem All heraus präzise vermessen. GPS-Satelliten und Projekte wie das Gravity Recovery and Climate Experiment (GRACE) der NASA sammeln Daten über die Bewegung der Masse auf der Erde im Lauf der Zeit. Ebenso helfen Klimamodelle bei der Vorhersage der Drehimpulsauswirkungen von Luft und Wasser. »Wir versuchen immer, alle Effekte, die wir kennen, zusammenzufassen und zu sehen, ob wir so das Zeitkonto vervollständigen können«, sagt Böhm.

Die Vorhersage, wie sich die Tageslängen in Zukunft verändern werden, ist »sehr kompliziert, weil alles dicht miteinander verwoben ist«, sagt Chen. »Wir müssen zunächst die langfristige, ziemlich große Schwankungsbreite verstehen. Dann können wir abschätzen, wie groß die Beiträge der Atmosphäre und des Ozeans sind, und schließlich grob vorhersagen, welcher der nächste deutlich verkürzte Tag sein könnte«, erklärt er. Dass der 29.  Juni zum neuen Rekordhalter für den kürzesten Tag wurde, war Chen zufolge jedoch wahrscheinlich nur ein vorübergehendes Klimaphänomen – vielleicht nur eine Änderung der Windgeschwindigkeiten in der Atmosphäre.

»Ich glaube, dass wir immer mal wieder einen so kurzen Tag in den Aufzeichnungen sehen werden«, sagt Chen. Wir müssen einfach abwarten, wann der nächste kürzeste Tag seinen Auftritt hat.

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