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Teilchenphysik: 200 Studien durch Krieg in der Warteschleife

Tausende CERN-Forscherinnen und -Forscher warten derzeit darauf, dass die Ergebnisse ihrer Arbeit publiziert werden. Grund ist ein Streit um die Nennung russischer Institute nach dem Angriff auf die Ukraine.
Ein Teil des Large Hadron Collider (LHC) ist unterirdisch im französischen Teil des CERN zu sehen.
Der 27 Kilometer lange Large Hadron Collider (LHC) am Europäischen Kernforschungszentrum CERN ist der größte und leistungsfähigste Teilchenbeschleuniger der Welt.

Ein Streit um die Nennung russischer Institute bei wissenschaftlichen Studien sorgt in der Teilchenphysik für einen einzigartigen Publikationsstau: Tausende Physikerinnen und Physiker, die an Experimenten beim Teilchenbeschleuniger der Europäischen Organisation für Kernforschung (CERN) in Genf beteiligt waren, sehen die Ergebnisse ihrer Arbeit seit Monaten nicht in Fachjournalen veröffentlicht, wie CERN-Forschungsdirektor Joachim Mnich der Deutschen Presse-Agentur sagte. Es gehe inzwischen um rund 200 Studien, die Hälfte davon sei bereits von unabhängigen Gutachtern beurteilt und theoretisch zur Publikation frei gegeben worden.

Das Problem: Fachjournale bestehen darauf, dass Autoren eindeutig identifiziert werden. Das passiert in der Regel über die Nennung ihrer Institute. Einige CERN-Kooperationspartner blockieren dies aber im Fall russischer Institute, wie Mnich sagt. Stein des Anstoßes sei unter anderem, dass sich die Leitungsgremien einiger dieser Institute hinter den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine gestellt haben.

»Publikationen sind die harte Währung der Wissenschaft, sowohl für die Karriere junger Leute als auch für Anträge auf Fördergelder«, sagte Mnich. Der Druck, zu einer Lösung zu kommen, steige. Die CERN-Studien werden zwar mit der Einreichung bei Fachjournalen bereits als vorläufige Arbeit veröffentlicht. Aber in manchen Ländern könnten Doktorarbeiten nur abgeschlossen werden, wenn die Autoren in Fachjournalen veröffentlicht haben. In Deutschland sei das nicht der Fall.

Es gehe nicht darum, Autoren, die zu einer Studie beigetragen haben, nicht zu nennen, betonte Mnich. Es gehe ausschließlich um die Institute. Eine Alternative könne sein, die Beteiligten anhand ihrer ORCID-Nummer zu identifizieren. Eine solche »Open Researcher and Contributor ID« hat jeder Wissenschaftler, um seine Beiträge etwa bei Namensgleichheit mit anderen oder bei unterschiedlichen Schreibweisen eindeutig zuordnen zu können. Nach Angaben von Mnich umfasst die Autorenliste bei CERN-Experimenten oft bis zu 3000 Namen.

Die CERN-Experimente werden jeweils von einem Kollaborationsausschuss begleitet, in dem alle beitragenden Institute eine Stimme haben. Dort konnte bislang keine Einigung gefunden werden. Das CERN hat die Kooperationen mit Russland und Belarus zwar gekündigt, sie laufen aber noch bis 2024 weiter. »Das ist ein sehr emotionales Thema, das macht die Findung eines annehmbaren Kompromisses schwierig«, sagte Mnich. (dam/dpa)

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