Superradianz: Ein Laser aus Neutrinos

Forschung mit Neutrinos gleicht der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Bislang braucht es kilometerlange Beschleuniger und riesige Detektoren, um die flüchtigen Teilchen gezielt zu erzeugen und nachzuweisen. Ein neues Konzept könnte für eine Revolution in der Teilchenphysik sorgen: Eine kompakte Quelle für Neutrinos sollte auf einen Labortisch passen und die Teilchen in gebündelter Form hervorbringen, ähnlich wie ein Laser.
Zwei US-Forscher haben berechnet, dass sich der radioaktive Zerfall von Rubidiumatomen enorm beschleunigen lässt, wenn man diese in einen bestimmten quantenmechanischen Zustand bringt. Durch ein kollektives Phänomen namens Superradianz wird dann ein Strahl aus vielen Neutrinos frei. Das würde völlig neue Experimente und Anwendungen ermöglichen.
Neutrinos sind allgegenwärtig, und dennoch zeigen sie sich kaum. Jede Sekunde durchqueren Milliarden der Teilchen unseren Daumennagel, ohne dabei eine Spur zu hinterlassen. Obwohl sie so zahlreich sind, geben sie der Wissenschaft bis heute große Rätsel auf. Neutrinos wechselwirken derart schwach mit Materie, dass sie sogar Planeten nahezu ungebremst durchqueren. Selbst große, spezialisierte Detektoren registrieren nur ab und zu eines der Geisterteilchen. Dabei ließen sich mit ihrer Hilfe zahlreiche offene Fragen der Physik beantworten. Neutrinos gelten als Schlüssel zu fundamentalen Rätseln der Kosmologie, Sternentwicklung und Teilchenphysik.
Die größte Quelle der Neutrinos ist unser Universum. Jede Menge der flüchtigen Teilchen stammen noch aus den ersten Momenten nach dem Urknall. Zusätzliche Neutrinos entstehen, wenn Kerne und Teilchen zerfallen oder Atomkerne miteinander verschmelzen. Das passiert massenhaft in der Sonne – deswegen kommen viele Neutrinos, die wir auf der Erde detektieren, von dort.
Will man bei irdischen Experimenten Neutrinos gezielt erzeugen, um sie anschließend zu untersuchen, braucht man Teilchenbeschleuniger. Kilometerlange Anlagen schießen herkömmliche Teilchen aufeinander. Dabei entstehen neue Teilchen, die zerfallen und energiereiche Neutrinos freisetzen. Der Aufwand ist enorm, dennoch lassen sich trotz Milliarden von Kollisionen und spezialisierten Detektoren nur wenige Neutrinos direkt registrieren.
Doch was, wenn wir eine verlässlichere Quelle bauen könnten? Ein Laser, der nicht Licht, sondern Neutrinos aussendet, würde die Forschung revolutionieren. Bei einem gerichteten Strahl aus vielen Neutrinos stünden die Chancen besser, die Teilchen zu detektieren und ihre Eigenschaften gezielt zu untersuchen.
Ein Strahl Neutrinos, bitte!
Zwar wissen wir, wie Neutrinos entstehen, etwa wenn radioaktive Atomkerne zerfallen. Sie zu bündeln, zu verstärken und gezielt auszurichten, ist allerdings eine enorme Herausforderung.
Ein Beispiel ist das radioaktive Isotop Rubidium-83 (83Rb). Es zerfällt durch den sogenannten Elektroneneinfang: Der Atomkern erhält ein Elektron aus der Atomhülle. Dabei verwandelt sich eines der Kernteilchen (Proton) in ein anderes (Neutron), und ein Neutrino wird abgegeben. Dieser Vorgang ist zufällig und inkohärent. Das heißt, die Neutrinos entstehen vereinzelt und fliegen in beliebige Richtungen.
Für einen kontinuierlichen und gerichteten Teilchenstrahl wären hingegen viele Atome nötig, die in kurzer Zeit zerfallen und ihre Neutrinos in eine gemeinsame Richtung abstrahlen. Doch wie kann der Zerfallsprozess beschleunigt werden, und wie bringen wir die Neutrinos dazu, sich alle gleich zu verhalten?
Der klassische Laser ist ein perfektes Vorbild. Hier entsteht ein Strahl aus gebündelten, gleichartigen Lichtteilchen. Im Inneren eines Lasers befinden sich Atome in einem angeregten Zustand, sie wurden auf ein höheres Energieniveau gehoben. Jetzt sind sie bereit, die gewonnene Energie wieder abzugeben, und zwar in Form eines Photons. Passiert das ganz ohne äußeren Einfluss, spricht man von spontaner Emission.
Doch für einen Laser reicht spontane Emission nicht aus. Um den Prozess zu beschleunigen und das Signal zu verstärken, braucht es einen kleinen Anstoß – die stimulierte Emission: Ein Lichtteilchen trifft auf eines der Atome und regt es dazu an, ein identisches Photon abzugeben. Die Teilchen durchqueren das Lasermedium und regen dabei weitere Atome zur Emission an. Lawinenartig entstehen Photonen mit identischer Energie. Das Licht ist kohärent, das heißt die Lichtwellen schwingen im Gleichtakt und formen einen präzisen, fokussierten Laserstrahl.
Die Physiker Benjamin Jones von der University of Texas in Arlington und Joseph Formaggio vom Massachusetts Institute of Technology in Cambridge haben sich gefragt: Lässt sich dieses Prinzip auf Neutrinos übertragen? Können wir sie dazu bringen, sich wie Photonen zu verhalten?
Eigentlich ist ein klassischer Laser mit Neutrinos nicht möglich. Der Grund liegt in fundamentalen, quantenmechanischen Unterschieden zwischen Neutrinos und Photonen.
Photonen – die Lichtteilchen, die ein Laser aussendet – gehören zu der Gruppe der Bosonen. Diese können sich in exakt demselben Zustand befinden. Als ununterscheidbare Teilchen ermöglichen sie die gegenseitige Verstärkung, das Grundprinzip des Lasers.
Neutrinos dagegen zählen zu den Fermionen. Das sogenannte Pauli-Prinzip verbietet ihnen, exakt denselben Zustand einzunehmen wie ein anderes Fermion. Sie müssen sich also stets durch mindestens eine Eigenschaft voneinander unterscheiden. Es ist daher nicht möglich, eine Neutrinolawine wie bei den Photonen anzustoßen.
Doch die beiden Wissenschaftler fanden einen anderen Weg, den radioaktiven Zerfall und damit die Emission der Neutrinos zu verstärken. Das Grundprinzip lässt sich mit dem Singen in einem Chor vergleichen. Viele Atome sollen sich als Einheit verbinden und synchron zerfallen. Diese kollektive Zusammenarbeit heißt Superradianz – und sie beschränkt sich keineswegs auf Bosonen und funktioniert auch bei Fermionen. Denn sie beruht nicht auf dem quantenmechanischen Charakter der Neutrinos selbst, sondern auf den Eigenschaften der Atome, die sie aussenden.
Wie formiert sich ein Chor aus Atomen?
Bei der Superradianz von 83Rb emittieren viele der Atome synchron Strahlung. Sie liegen dicht beieinander und gehen in einen gemeinsamen Zustand über – der Chor singt denselben Ton. Das elektromagnetische Feld ist ihr Dirigent. Es verbindet sie, stimmt sie aufeinander ab und hält sie im Takt. Das beschleunigt den Zerfall der Atome enorm. Zwar geschieht das nicht wie beim Laser durch stimulierte Emission, sondern durch eine kollektive spontane Emission. Doch das Ergebnis bleibt dasselbe: ein gerichteter, kohärenter Teilchenstrahl.
Dafür sorgen Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt. Hier treten die Eigenschaften der einzelnen Teilchen in den Hintergrund, es entsteht ein Bose-Einstein-Kondensat (BEC). Bei einem BEC von 83Rb agieren die Atome als quantenmechanische Einheit – gewissermaßen wie ein einziges Superatom.
Den Berechnungen von Jones und Formaggio zufolge erzeugt selbst eine geringe Menge radioaktiver Isotope starke Neutrinopulse. Wie stark genau, hängt davon ab, wie viele Atome sich kondensieren lassen. Bei einer Million Atome von 83Rb dürfte die Superradianz die Halbwertszeit von rund 86 Tagen auf wenige Minuten verkürzen, ermitteln die Forscher. Entsprechend intensiver wäre der gerichtete Teilchenstrahl.
Der Neutrinolaser existiert bislang nur auf dem Papier. Doch die Wissenschaftler skizzieren, wie sich ein Prototyp konstruieren ließe, und halten ihn mit gegenwärtigen Techniken für umsetzbar. Auf dem Weg dorthin stellen sich noch einige Fragen: Lassen sich hinreichend große Mengen des radioaktiven Isotops ausreichend stark kühlen, bevor es zerfällt? Wie empfindlich ist die Superradianz gegenüber äußeren Störungen? Doch falls die Umsetzung gelingt, wird ein Neutrinolaser völlig neue Experimente mit Neutrinos gestatten.
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