Direkt zum Inhalt

Teilchenphysik: Exotisches Vier-Quark-Teilchen am Large Hadron Collider gesichtet

Tadaa! Der Large Hadron Collider hat mal wieder was entdeckt: ein nicht elementares Teilchen namens Tetraquark. Es könnte helfen, Theorien über die starke Kernkraft zu überprüfen.
Ein Teil des Large Hadron Collider (LHC) ist unterirdisch im französischen Teil des CERN zu sehen.

Der Large Hadron Collider (LHC) ist auch ein großer Hadron-Entdecker. Der Atomzertrümmerer in der Nähe von Genf in der Schweiz ist vor allem für den Nachweis des Higgs-Bosons im Jahr 2012 bekannt, eine Entdeckung, die den letzten Schlussstein der aktuellen Klassifizierung der Elementarteilchen einfügte. Aber der LHC hat auch Dutzende von Hadronen entdeckt, die wie Protonen und Neutronen aus Quarks bestehen.

Das jüngste Hadron feierte sein Debüt auf der virtuellen Tagung der Europäischen Physikalischen Gesellschaft am 29. Juli 2021, als der Teilchenphysiker Ivan Polyakov von der Syracuse University in New York ein bisher unbekanntes exotisches Hadron aus vier Quarks vorstellte. Damit stieg die Zahl der Hadronen am LHC laut einer Zählung auf 62. »Das sind alles Weltpremieren«, sagt Patrick Koppenburg, Teilchenphysiker am niederländischen Nationalen Institut für subatomare Physik in Amsterdam, Nikhef, und Mitarbeiter des CERN, dem europäischen Labor für Teilchenphysik, das den LHC beherbergt.

Das etablierte Pantheon der Teilchen, das so genannte Standardmodell, beschreibt die Grundbausteine der Materie und die fundamentalen Kräfte, die auf sie wirken. Es umfasst sechs Quark-Arten, ihre sechs Antimaterie-Gegenstücke und mehrere andere Elementarteilchen, darunter Elektronen und Photonen. Das Standardmodell enthält auch Regeln dafür, wie Quarks zusammengesetzte Teilchen bilden, besagte Hadronen also. Quarks werden durch die starke Kernkraft zusammengehalten, eine der vier Grundkräfte. Die beiden in der Natur am häufigsten vorkommenden Quarks heißen »up« und »down«; ihre möglichen Kombinationen sind Neutronen (ein up und zwei down) und Protonen (zwei ups und ein down).

Protonen sind die einzigen Hadronen, von denen bekannt ist, dass sie isoliert stabil sind – Neutronen sind lediglich stabil, wenn sie in Atomkerne eingebaut sind. Alle anderen Hadronen entstehen nur flüchtig durch die Kollision mit weiteren Teilchen und zerfallen im Bruchteil einer Sekunde. Der LHC erzeugt also neue Arten von Hadronen, indem er hochenergetische, frontale Kollisionen zwischen Protonen verursacht.

Das neue Tetraquark ist eine Kuriosität

Die meisten der neuen Hadronentypen des LHC wurden von LHCb entdeckt, einem der vier riesigen Detektoren in dem 27 Kilometer langen kreisförmigen Tunnel, in dem der LHC untergebracht ist; und das von Polyakov angekündigte Teilchen war keine Ausnahme. Bei der Durchsicht von Daten über die Trümmer von Protonenkollisionen fanden Polyakov und sein Mitarbeiter Vanya Belyaev vom Institut für Theoretische und Experimentelle Physik in Moskau die erwartete Signatur eines »Tetraquarks« – eines Hadrons mit vier Quarks – namens Tcc+.

»Das ist eine große Sache. Es ist etwas Neues, kein hadronisches Molekül. Es ist das Erste seiner Art«
Marek Karliner, theoretischer Physiker

Tetraquarks sind äußerst ungewöhnlich: Die meisten bekannten Hadronen bestehen entweder aus zwei oder drei Quarks. Das erste Tetraquark wurde 2003 an der High Energy Accelerator Research Organization (KEK) in Tsukuba, Japan, entdeckt, und am LHCb wurden mehrere weitere beobachtet. Aber das neue Tetraquark ist eine Kuriosität. Bei den bisherigen Tetraquarks handelte es sich wahrscheinlich um Paare gewöhnlicher Quark-Doubletten, die wie Atome in einem Molekül aneinandergebunden sind. Aber der theoretische Physiker Marek Karliner glaubt, dass es sich bei dem neuesten Exemplar um ein echtes, fest gebundenes Quadruplett handeln könnte. »Das ist eine große Sache. Es ist etwas Neues, kein hadronisches Molekül. Es ist das Erste seiner Art«, sagt Karliner, der an der Universität Tel Aviv in Israel tätig ist und dazu beigetragen hat, die Existenz eines Teilchens mit denselben Eigenschaften wie Tcc+ bereits im Jahr 2017 vorherzusagen.

In der Natur existierten Tetraquarks wahrscheinlich nur in den ersten Momenten des Universums, als alle Materie auf extrem engem Raum komprimiert war, sagt Belyaev. Aber ihre Neuentstehung hilft den Physikern, ihre Theorien über die Wechselwirkung von Teilchen durch die starke Kernkraft zu überprüfen.

Die Daten enthüllten die Eigenschaften des neuen Teilchens so genau, dass Belyaev verblüfft war. »Meine erste Reaktion war: Das ist mein Fehler«, sagt er. So wurde beispielsweise die Masse des Teilchens, die etwa das Vierfache der Masse eines Protons beträgt, mit einer Fehlerquote ermittelt, die fast 3000-mal besser ist als bei der Entdeckung des Higgs-Bosons. Belyaev fügt hinzu, dass Tcc+ in den Daten aus den ersten Jahren des LHC hätte entdeckt werden können. Aber er und seine LHCb-Kollegen haben es erst jetzt gefunden, weil sie eine lange Liste anderer Teilchen zu suchen hatten.

Unter anderem erwartet: 75 mögliche Quark-Tripletts

Die Suche nach neuen Hadronen wird weitergehen. Dutzende von Kombinationen von Quarks können zu Hadronen führen. Karliner zufolge gibt es 50 mögliche 2-Quark-Hadronen, von denen alle bis auf eines beobachtet wurden, und 75 mögliche Quark-Tripletts – und ebenso viele Antiquark-Tripletts –, von denen fast 50 gesehen wurden. »Wir sind sicher, dass alle anderen existieren, aber es ist schwierig, sie herzustellen«, sagt Karliner.

Darüber hinaus gibt es für jede Quark-Kombination eine fast unbegrenzte Anzahl möglicher schwerer »angeregter Zustände«, die sich beispielsweise dadurch unterscheiden, wie schnell sie sich drehen, und die jeweils als eigene Teilchen klassifiziert werden. Viele davon wurden experimentell gefunden, und tatsächlich sind die meisten Teilchen in Koppenburgs Katalog angeregte Zustände. »Wer weiß, wie viele andere Zustände sich in den Daten auf einem Laptop verstecken«, fragt Koppenburg, der wie Polyakov und Belyaev Mitglied der LHCb-Kollaboration ist.

Aber er fragt sich auch, ob all diese Entdeckungen als diskrete Teilchen behandelt werden sollten. »Ich bin immer mehr davon überzeugt, dass wir eine bessere Definition dessen brauchen, was ein Teilchen ist«, sagt er.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.