Teilchenphysik: Das große Rätsel der Neutrinos dürfte bald gelöst sein
Eine der hartnäckigsten Fragen zu den wohl seltsamsten Objekten der Teilchenphysik könnte bis zum Ende des Jahrzehnts gelöst sein. Neuen Berechnungen zufolge werden die laufenden und geplanten Experimente zu Neutrinos bis 2030 definitiv beantworten, welche ihrer drei Sorten die kleinste und welche die größte Masse hat. In ihrer im Dezember 2023 publizierten Analyse zeigten die Forscher um Carlos Argüelles-Delgado von der Harvard University in Cambridge, dass es dabei nicht nur auf die Kombination der Daten aus verschiedenen Experimenten ankommen wird, sondern auch so genannten atmosphärischen Neutrinos eine entscheidende Rolle zufallen dürfte. Sie werden erzeugt, wenn energiereiche kosmische Strahlung auf Moleküle in der irdischen Atmosphäre trifft.
Es gibt drei Arten von Neutrinos: Elektron-, Myon- und Tau-Neutrinos. Sie sind nach den drei Elementarteilchen benannt, mit denen sie zusammen auftreten. Doch ob deren Hierarchie der Massen (das Elektron ist das leichteste, das Tauon das schwerste unter den so genannten Leptonen) auch der Massenordnung der Neutrinos entspricht (dann wäre das Elektron-Neutrino das leichteste), ist noch völlig unklar. Theoretisch könnten die Neutrinos sich hier einmal mehr als Ausreißer im Standardmodell der Teilchenphysik entpuppen. Das hätte dramatische Konsequenzen für Modelle zur Entwicklung des Universums. Da Neutrinos in enormen Mengen umherflitzen – auf jedes Atom im Universum kommen eine Milliarde Neutrinos –, hätten selbst kleine Unterschiede große Auswirkungen auf die ursprüngliche Entstehung von Materie und Antimaterie unmittelbar nach dem Urknall und auf die kosmische Strukturbildung gehabt. Dabei sind Neutrinos eigentlich extrem flüchtig und machen sich so gut wie nie bemerkbar – gerade das macht es heute so schwierig, sie in Detektoren auf der Erde aufzuspüren.
Neutrinos lassen sich notorisch schwer untersuchen, weil sie jedwede Materie mühelos durchdringen und nur extrem selten mit anderen Teilchen wechselwirken. Deswegen umfassen irdische Detektoren meist gigantische Volumina, die gut von anderen störenden Teilcheneinwirkungen abgeschirmt sind. So lassen sich wenigstens von Zeit zu Zeit einzelne Lichtblitze registrieren, die bei der Interaktion eines Neutrinos mit dem transparenten Detektormaterial – etwa hochreinem Wasser – entstehen. Beim IceCube-Observatorium am Südpol beispielsweise wurden dazu mehrere tausend Sensoren kilometertief im Eis versenkt.
Mit den Daten von solchen Detektoren arbeiten die vier an der neuen Publikation beteiligten Neutrinophysiker – Argüelles-Delgado ist Teil der IceCube-Kollaboration. Die Autoren betonen allerdings, dass nur eine Kombination der Erkenntnisse aus allen laufenden und geplanten Experimenten schnelle Fortschritte bringen wird. So lassen sich mit dem enormen Umfang des IceCube-Detektors insbesondere sehr energiereiche Neutrinos aufspüren; für etwas weniger schnelle Exemplare sind eher Detektoren wie der japanische Super-Kamiokande und dessen um 2026 in Betrieb gehender Nachfolger Hyper-Kamiokande geeignet.
Neutrino, Neutrino, du musst wandern, von dem einen Typ zum andern
Auf der Suche nach den Massen der drei Neutrinosorten sind zwei Eigenschaften dieser Teilchen entscheidend, einerseits ihre Energie und andererseits die Strecke, die sie seit ihrer Erzeugung zurückgelegt haben. Das liegt an einer Neutrinooszillation genannten Erscheinung: Die drei Neutrinotypen wandeln sich periodisch und abhängig vom Verhältnis aus Strecke und Energie während ihrer Reise ineinander um, so dass etwa bei einem als Elektron-Neutrino gestarteten Teilchen nach einiger Zeit die Chance besteht, es als Myon-Neutrino zu registrieren. Dieses Phänomen ist nur möglich, weil die Neutrinos überhaupt eine Masse besitzen – das ist im Standardmodell der Teilchenphysik nicht vorgesehen. Doch nur so ließ sich zum Beispiel erklären, warum es bei Messungen auf der Erde scheinbar ein Defizit an Elektron-Neutrinos gab, die von der Sonne kamen. Der Nachweis solcher Oszillationen wurde 2015 mit dem Nobelpreis für Physik gewürdigt.
Neutrinooszillation
Neutrinos kommen in drei Arten vor und können sich ineinander umwandeln. Wenn eine Quelle Teilchen einer bestimmten Sorte erzeugt (etwa ein Kernreaktor oder ein spezialisierter Beschleuniger), schwankt die Wahrscheinlichkeit, sie auf ihrem Weg weiterhin in diesem Zustand anzutreffen – je nachdem, welche Strecke L die Neutrinos zurücklegen und welche Energie sie haben. So misst ein Detektor unmittelbar beim Entstehungsort eine andere Zusammensetzung des Strahls als ein zweites, typischerweise hunderte oder tausende Kilometer entfernt installiertes Gerät.
Laut den Forschern um Argüelles-Delgado bieten atmosphärische Neutrinos sowohl hinsichtlich ihrer Energien als auch der zurückgelegten Distanzen ein breites Spektrum, das sich ideal zur eingehenden Untersuchung der Oszillation und damit der genauen Massenverhältnisse eignet. Ihre Energien umfassen Größenordnungen von 0,01 bis 10 000 Gigaelektronvolt (eine in der Teilchenphysik übliche Energieeinheit); dabei haben sie Strecken zwischen 15 und 12 700 Kilometer zurückgelegt (je nachdem, auf welcher Seite der Erde sie registriert werden). Die Physiker merken an, dass sich viele Präzisionsexperimente der Neutrinophysik in den vergangenen zwei Jahrzehnten auf die Vermessung von Neutrinos konzentriert hätten, die in Teilchenbeschleunigern, Kernreaktoren oder der Sonne entstehen. Doch atmosphärische Neutrinos könnten für bestimmte Kennzahlen besonders gute Daten liefern. Erst diese versprächen mittels Kombination mit den anderen Ergebnissen schnelle Fortschritte bei der Frage nach der Massenordnung der Neutrinos.
Die Physiker berechneten, wie die unterschiedlichen Neutrinos bei verschiedenen Energien beim Durchgang durch die Erde oszillieren, und simulierten detailliert, wie gut die diversen Experimente die eintreffenden Teilchen registrieren würden und welche Erkenntnisse sich daraus ziehen ließen. Anhand der vorhandenen und in Zukunft zu erwartenden Daten gelang ihnen schließlich eine Abschätzung, wann sich das Rätsel der Neutrinomassen lösen lassen wird. Bis zum Ende des Jahrzehnts dürften bereits die atmosphärischen Neutrinos allein eine – nach den üblichen Standards der Teilchenphysik – sichere Aussage darüber zulassen, ob die Neutrinomassen der normalen Hierarchie der Leptonen folgen oder ob ihre Ordnung gegenüber derjenigen von Elektronen, Myonen und Tauonen invertiert ist. Auch weitere Unbekannte wie der Beitrag von Neutrinos zu so genannten Verletzungen der CP-Symmetrie, die ebenso bei vielen anderen Vorgängen in der Teilchenwelt eine Rolle spielen, dürften bis 2030 weitgehend geklärt werden. Zudem merken die Autoren an, konservative Abschätzungen vorgenommen zu haben – so seien Potenziale zu präziseren Auswertungen mit Hilfe von maschinellem Lernen sowie zu empfindlicheren Messungen durch technisch weiterentwickelte Sensoren gar nicht berücksichtigt.
Die statistische Analyse unterstreicht, wie wichtig die Zusammenarbeit in der Wissenschaft auch über Projektgrenzen hinaus ist. Keine einzelne Quelle von Neutrinos und kein Detektor allein könnte in den kommenden Jahren genügend Messdaten hervorbringen, um endlich einige der größten Geheimnisse der Neutrinos aufzudecken. Doch die Untersuchung zeigt, dass genau das gemeinsam gelingen dürfte. Sollten unterdessen wider Erwarten Ungereimtheiten auftreten, etwa abweichende Eigenschaften zwischen atmosphärischen Neutrinos und solchen aus den Tiefen des Kosmos, dann hätten die Teilchen wieder einmal bewiesen, dass bei ihnen vor allem mit einem zu rechnen ist: neuen Überraschungen.
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