Magnetisches Moment des Myons: Wie ein Elementarteilchen unser Weltbild auf die Probe stellte

Im Jahr 2021 sorgte ein lange erwartetes Versuchsergebnis weltweit für Schlagzeilen: Der schwere Bruder des Elektrons, ein Elementarteilchen namens Myon, schien sich im Experiment anders zu verhalten, als es die Berechnungen zuvor nahelegten. Diese Unstimmigkeit zwischen Theorie und Messung ließ vermuten, dass unser Weltbild auf kleinster Ebene falsch sein könnte.
Deshalb blickte die Fachwelt mit Spannung auf die neuen Versuchsergebnisse, die im Frühjahr 2025 am US-amerikanischen Forschungszentrum Fermilab vorgestellt wurden. Drei Jahre lang hatten Fachleute am Aufbau des Myon-g-2-Experiments getüftelt und weitere Daten gesammelt, um das vorherige Resultat zu verfeinern.
Und tatsächlich kann die Forschungsgruppe die 2021 und 2023 vorgestellten Werte bestätigen, wie sie in einer bei der Fachzeitschrift »Physical Review Letters« eingereichten Studie berichten. Aber noch wichtiger: Den Forschenden ist eine extrem präzise Messung gelungen. Die Unsicherheit macht sich erst auf der zehnten Nachkommastelle des Messwerts bemerkbar – und übertrifft somit das ambitionierte Ziel, das sich die Forschenden gesetzt hatten. »Wir sind sehr stolz darauf«, sagt der Physiker Martin Fertl von der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz, der an der Messung beteiligt war. »So etwas kommt nicht oft vor. Ich habe es jetzt das erste Mal erlebt, dass wir unser eigenes Ziel übertroffen haben.«
Und inzwischen ist auch die Unstimmigkeit verschwunden, die die physikalischen Theorien in Frage stellte. »Das Standardmodell scheint wieder einmal zu gewinnen«, sagt der Physiker René Reimann, der in Fertls Arbeitsgruppe forscht. Denn in den vergangenen Jahren haben parallel auch theoretische Physiker ihre Vorhersagen überarbeitet, wie eine im Mai 2025 auf dem Preprint-Server »arXiv« erschienene, aber noch nicht begutachtete Studie zeigt. Vor allem wegen der gestiegenen Computerleistung lassen sich die Rechnungen genauer auswerten. Jetzt scheint es, als würde die Messung zu den theoretischen Ergebnissen passen – zumindest zu einem Teil davon. »Es bleibt spannend«, sagt Fertl.
Fluch und Segen zugleich
Eine der tragenden Säulen der theoretischen Physik ist das Standardmodell. Es beschreibt das Verhalten von Elementarteilchen in Bezug auf drei der vier Grundkräfte: den Elektromagnetismus sowie die starke und die schwache Kernkraft. Inzwischen ist das Standardmodell extrem genau überprüft worden. Theorie und Experiment stimmen erstaunlich gut überein. Das ist für die Fachwelt Fluch und Segen zugleich. Einerseits verdeutlicht es, dass die Modelle funktionieren; andererseits ist bekannt, dass sie ihre Grenzen haben müssen. Denn das Standardmodell lässt viele Fragen offen: Warum gibt es mehr Teilchen als Antiteilchen? Warum haben Neutrinos eine Masse? Und wie spielt die Gravitation, die vierte Grundkraft, hinein?
Daher weckte die 2021 enthüllte Messung Hoffnung. Gäbe es eine Unstimmigkeit zwischen Theorie und Experiment, hätte man endlich Hinweise darauf, wie eine physikalische Theorie fernab des Standardmodells aussehen könnte. Die Fachleute hatten damals das Myon untersucht, ein Elementarteilchen, das dem Elektron gleicht, aber etwa 200-mal schwerer ist. Wie das Elektron besitzt es eine Eigenschaft, die als Spin bekannt ist – man kann sich das wie eine Art Miniaturmagnet vorstellen, dessen Nordpol entweder nach oben oder nach unten zeigt. Damit hat das Teilchen auch ein magnetisches Moment, das in der Teilchenphysik als g-Faktor bezeichnet wird. In erster Näherung sollte für Myon und Elektron g gleich 2 sein. Doch in der Realität weicht der Wert leicht davon ab. Grund dafür ist das so genannte Quantenvakuum.
Laut Quantenphysik gibt es keinen leeren Raum. Immerzu entstehen Teilchen-Antiteilchen-Paare aus dem Nichts und vernichten sich sogleich wieder. Deshalb ist selbst das Vakuum von Partikeln bevölkert. Diese kurzlebigen Teilchen lassen sich nicht direkt nachweisen – aber ihre Auswirkungen sind durchaus spürbar: unter anderem in den magnetischen Eigenschaften des Elektrons und des Myons. Denn in deren unmittelbarer Umgebung entstehen viele flüchtige Teilchen-Antiteilchen-Paare, die das magnetische Moment beeinflussen. Für das Elektron lässt sich die durch das Quantenvakuum entstehende Abweichung mit einer erstaunlichen Genauigkeit bis zur 13-ten Nachkommastelle angeben – eine der exaktesten Übereinstimmungen zwischen Theorie und Experiment überhaupt.
»Früher teilte man sich mit Personen aus anderen Forschungsbereichen eine Nachtschicht und diskutierte die ganze Nacht hindurch. Das ist während der Pandemie leider weggefallen«Martin Fertl, Physiker
Beim Myon schien es hingegen anders zu sein. Zunächst einmal stellt sich die Vermessung der Teilchen als Herausforderung dar: Weil sie so schwer sind, zerfallen sie schon nach zwei Millionstel Sekunden. Deshalb muss man sie in Teilchenbeschleunigern erzeugen, in Vakuumröhren einfangen und hat dann bloß einige hundert Mikrosekunden zur Verfügung, um sie zu vermessen. »Das beherrschen wir nun recht gut«, erklärt Fertl, der bereits 2014 an der University of Washington in Seattle beim Aufbau des Myon-Experiments mithalf.
»Die größte Herausforderung kam mit der Coronapandemie«, erinnert er sich. Denn für das Experiment arbeiten Fachleuten aus aller Welt und verschiedensten Expertisen zusammen: knapp 180 Personen aus 37 Einrichtungen in sieben Ländern. »Hochenergie-, Kern-, Laser-, Atom- und Beschleunigerphysik; die Kollaboration all dieser Menschen ist der Schlüssel zum Erfolg.« Und dieses gigantische internationale Projekt stand im Jahr 2020 vor einem Problem: Wie sollte es fortgeführt werden, wenn die meisten Fachleute nicht verreisen dürfen und sie sich nicht mehr gemeinsam im gleichen Kontrollraum aufhalten können? »Früher kam es vor, dass man sich mit Personen aus völlig anderen Forschungsbereichen eine Nachtschicht teilte – und die ganze Nacht hindurch diskutierte. Das ist dann leider weggefallen«, sagt Fertl. Stattdessen mussten sie das Experiment so umbauen, dass es aus der Ferne steuerbar ist.
Das Myon-g-2-Experiment
Beim Myon-g-2-Experiment wird ein Myonenstrahl mit nahezu Lichtgeschwindigkeit durch einen supraleitenden magnetischen Speicherring geführt. Mit speziellen Detektoren bestimmten die Forschenden, wie schnell der Spin der schweren Teilchen im Magnetfeld dreht. Um daraus das magnetische Moment des Myons abzuleiten, müssen sie genau bestimmen, wie groß das angelegte Magnetfeld ist. Und das ist gar nicht so einfach, erklären Fertl und Reimann.
Das Magnetfeld ist immerzu winzigsten Schwankungen unterworfen, was die Myonen beeinflusst. »Anfangs schien je nach Uhrzeit und Wetter die Sonne durch die Laborfenster hinein. Das erwärmte die Magneten, die sich dadurch um wenige Mikrometer ausdehnten – und schon diese winzige Veränderung war spürbar«, sagt Reimann. Auch wenn jemand das Labor betrat, konnten die leichten Erschütterungen die Messungen beeinflussen. Fertl und sein Team kartierten daher alle drei bis fünf Tage das Magnetfeld innerhalb des Speicherrings und nahmen immer wieder Messproben innerhalb der Vakuumkammern auf, um das Magnetfeld möglichst genau abzubilden. Auf diese Weise konnten sie die experimentellen Ergebnisse stets weiter verfeinern. Und das alles, ohne einen konkreten Messwert zu kennen.
Von Anfang an war klar, dass sich alles beim Myon-g-2-Experiment um Genauigkeit drehen würde. Damit die Forschenden die Messdaten vollkommen unvoreingenommen bearbeiten konnten, wurde die Laboruhr, welche die Drehung der Myonen erfasst, falsch getaktet. Diese Taktung befand sich als Zahlencode in verschlossenen Umschlägen an verschiedenen Orten – und wurde erst nach Ende der Datenanalyse enthüllt. Erst damit konnten die Ergebnisse berechnet werden. Und wie sich zeigt, passen diese hervorragend zu den vorherigen Messungen: Demnach beträgt g − 2⁄2 = 0,001165920705 ± 0,000000000148. Letztere Zahl beschreibt den statistischen und systematischen Fehler, der sich durch die Messung ergibt. Damit hat das Ergebnis eine winzige relative Unsicherheit (Fehler geteilt durch Messwert) von eins zu 127 Milliarden. »Das ist echt ein tolles Erlebnis«, sagt Fertl.
Eine mathematische Herausforderung
Während die verschiedenen Durchläufe des Myon-g-2-Experiments am Fermilab durchgeführt und ausgewertet wurden, beschäftigten sich mehr als 100 theoretische Physikerinnen und Physiker weltweit intensiv mit der mathematischen Modellierung: Welchen Wert sagt das Standardmodell für das magnetische Moment des Myons voraus? Insbesondere mussten sie versuchen, den Einfluss der kurzlebigen Teilchen-Antiteilchen-Paare zu beschreiben, die in der Nähe des Myons entstehen – eine extrem komplexe Aufgabe.
In den gängigsten Berechnungen zum Quantenvakuum werden nur Teilchen-Antiteilchen-Paare berücksichtigt, die der elektromagnetischen und der schwachen Kernkraft unterliegen, zum Beispiel kurzlebige Elektron-Positron-Paare oder Myon-Antimyon-Paare. Für den g-Faktor des Elektrons scheint das gut zu funktionieren. Beim schweren Myon können aber auch komplexere Prozesse eine Rolle spielen, etwa die Entstehung von Quark-Antiquark-Paaren, die der starken Kernkraft folgen. Und die beeinflussen offenbar ebenfalls das magnetische Moment des Myons.
Um auch Phänomene der starken Kernkraft zu berücksichtigen, sind allerdings andere Berechnungsmethoden nötig als bei der elektromagnetischen und der schwachen Kernkraft. Der Grund dafür steckt im Namen: Die starke Kernkraft ist etwa 100 Billionen Billionen Billionen Mal stärker als die Schwerkraft und zirka 100-mal stärker als die elektromagnetische Kraft, hat jedoch nur eine sehr kurze Reichweite – deshalb spüren wir sie im Alltag nicht. Wegen dieser enormen Stärke versagen viele herkömmliche Berechnungsmöglichkeiten.
Um den Einfluss der flüchtigen Quark-Antiquark-Paare dennoch vorherzusagen, gibt es zwei verschiedene Methoden. Die erste stützt sich auf experimentelle Messungen in Teilchenbeschleunigern, welche die Erzeugung solcher Teilchen-Antiteilchen-Paare untersuchen. Die darin gesammelten Daten werden genutzt, um gewisse Berechnungen durchzuführen. Hierbei muss man genau voraussagen, welche Prozesse sich während des Experiments im Teilchenbeschleuniger zugetragen haben und diese mit jenen mathematischen Größen in den mathematischen Formeln identifizieren – keine leichte Aufgabe. Das ist der datengetriebene Ansatz.
Die zweite Methode ist die so genannte Gitter-QCD (QCD steht für »Quantenchromodynamik«, die Quantentheorie der starken Kernkraft). Hierbei unterteilt man Raum und Zeit in endlich viele Gitterpunkte und simuliert das Verhalten von Teilchen auf diesem Gitter, ohne dafür auf experimentelle Daten zurückgreifen zu müssen. Das ist allerdings mit einem sehr hohen Rechenaufwand verbunden; für die Simulationen sind leistungsfähige Computer nötig. Deswegen sind solche Gitter-Berechnungen erst seit wenigen Jahren möglich.
Als im Jahr 2021 das erste Myon-g-2-Ergebnis veröffentlicht wurde, zog man deshalb nur die datengetriebene Methode zur Vorhersage des theoretischen Werts heran – und dieser wich vom experimentellen Wert ab. Die Theoretiker arbeiteten fortan auf Hochtouren daran, ihre Berechnungsmethoden zu verfeinern und weiterzuentwickeln. Beim datengetriebenen Ansatz traten aber immer wieder Unstimmigkeiten zu Tage: Bei der Auswertung der Daten von sieben verschiedenen Experimenten, die dasselbe Phänomen untersuchen, gab es große Abweichungen, obwohl sie dasselbe Ergebnis liefern sollten. Deshalb lässt sich die Methode nicht sinnvoll zur Vorhersage nutzen. »Es ist unklar, ob man alle Effekte versteht«, sagt Fertl.
»Die Theoretiker werden sich die nächsten Jahre die Zähne ausbeißen müssen, um die Präzision des Experiments zu erreichen«René Reimann, Physiker
Deswegen sind die Forschenden zuletzt auf Gitter-Berechnungen umgeschwenkt. Bereits 2022, ein Jahr nach der ersten Enthüllung der Myon-g-2-Messungen, stellten verschiedene Arbeitsgruppen ihre Ergebnisse vor, die gut zu den Experimenten passten, aber noch mit großen Unsicherheiten behaftet waren. In den folgenden Jahren konnten sie diese fast schon halbieren – und sie scheinen die experimentellen Messwerte zu bestätigen. »Aber die Präzision der theoretischen Ergebnisse hinkt den experimentellen Messungen noch hinterher«, sagt Reimann. »Die Theoretiker werden sich die nächsten Jahre die Zähne ausbeißen müssen, um die Präzision des Experiments zu erreichen.«
Die experimentellen Messungen des magnetischen Moments des Myons werden nun erst einmal ruhen. »Vielleicht werden die Experimente in zehn Jahren wieder aufgenommen, wenn man in der Theorie weitergekommen ist«, sagt Fertl. Bis dahin widmet man sich anderen Fragen, etwa der Bestimmung des elektrischen Dipolmoments des Teilchens oder der effizienteren Erzeugung von Myonenstrahlen, um künftige Experimente zu erleichtern.
Ob die Physiker enttäuscht sind, dass sich die Unstimmigkeit zwischen Theorie und Experiment offenbar aufgelöst hat? »Nein, wir sind sehr stolz auf das, was wir erreicht haben«, betont Fertl. »Wir haben nach so langer Zeit nun endlich ein Ergebnis, das ist ein riesiger Erfolg.« Zudem habe das Myon-g-2-Experiment dazu geführt, dass die theoretischen Methoden verfeinert wurden, und einen großen Fortschritt im Verständnis mit sich gebracht. In den kommenden Jahren werden theoretische Physiker nicht nur weiter am gitterbasierten Ansatz feilen, sondern auch die datengetriebenenen Berechnungen genauer unter die Lupe nehmen, um zu verstehen, was da schiefläuft. Und wer weiß, was dabei noch zu Tage tritt?
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